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2.2.3. Lückenhafte Überlieferung: Der ‚Ereck‘

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Ganz anders stellt sich die Situation beim ersten Artusroman in deutscher Sprache, dem ‚Ereck‘, dar. Hartmanns mutmaßlich erstes Werk wird in der Literatur des 13. Jahrhunderts immer wieder erwähnt, so in Wolframs ‚Parzival‘Wolfram von Eschenbach‚Parzival‘ (mit Hartmann als Autor verbunden) oder dem ‚Welschen Gast‘ des Thomasin von ZerklæreThomasin von Zerklære, ‚Welscher Gast‘, einem Lehrgedicht für höfische Tugenden und Verhaltensweisen (vgl. Wolf 2008:26 und 258f.). Entgegen dieser offensichtlichen Präsenz im literarischen ÜberlieferungBewusstsein ist die Überlieferungslage aber denkbar schlecht: Neben ein paar Fragmenten aus dem 13. und 14. Jahrhundert finden wir den gesamten Text überhaupt nur in einer einzigen Handschrift (A), und nicht einmal dort ist er vollständig erhalten. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Handschrift erst Anfang des 16. Jahrhunderts angefertigt worden ist, also über drei Jahrhunderte nach der Entstehung des ‚Ereck‘: Das sogenannte Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch (benannt nach dem früheren Aufbewahrungsort Ambras in Österreich) wurde von niemand Geringerem als Kaiser Maximilian I.Maximilian I. in Auftrag gegeben. Maximilian war begeistert vom Mittelalter, präsentierte sich oftmals selbst als Ritter und hing so einem für ihn selbst schon längst vergangenen Zeitalter nach, das er idealisierte und als ‚letzter Ritter‘ bisweilen offenbar auch nachzuleben versuchte. Dementsprechend war er auch an der Literatur dieser Zeit interessiert (vgl. Müller 1982), und so beauftragte er den Zollschreiber Hans RiedRied, Hans, sich auf die Suche nach alten Handschriften zu machen und diese in einem großen, repräsentativen Codex abzuschreiben. Von 1504–1516 war Ried mit dieser Arbeit beschäftigt, wobei es offenbar nicht ganz einfach war, von allen Texten brauchbare Manuskripte aufzutreiben.

Abb. 2.6.

Überschrift zur ‚Mantel‘-Erzählung Überlieferungmit Ankündigung des ‚Ereck‘ im Ambraser Heldenbuch (A) (mittlere Spalte unten, vgl. Abb. 2.7.).

Das Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch ist für die Literaturwissenschaft von unschätzbarem Wert, da es nicht weniger als 15 Texte enthält, die ansonsten gar nicht oder nur in wenigen Fragmenten überliefert sind. Von Hartmanns Werken enthält es neben dem ‚Ereck‘ auch den ‚Iwein‘ sowie die ‚Klage‘ und ein weiteres minnedidaktisches Werk, das ‚zweite Büchlein‘‚Zweites Büchlein‘, das zur Abfassungszeit des Codex offenbar ebenfalls Hartmann von Aue zugeschrieben wurde. Die beiden minnetheoretischen Stücke sind gerahmt von den beiden Artusromanen ‚Iwein‘ und ‚Ereck‘, was darauf schließen lässt, dass hier gezielt ein ganzer Block aus dem Hartmann-Œuvre aufgeschrieben werden sollte, und zwar allesamt Werke, in denen über das Thema der höfischen Minne reflektiert wird. Hans RiedRied, Hans hat die Texte aus seinen wohl sehr alten, aber nicht immer vollständigen VorlagenVorlage mit kalligraphischer Genauigkeit abgeschrieben, allerdings sprachlich modernisiert: Die mittelhochdeutsche Sprache seiner meist aus dem 13. Jahrhundert Überlieferungstammenden Texte überträgt er ausnahmslos in die frühneuhochdeutsche, Tiroler Mundart seiner Zeit. Wir finden Hartmanns ‚Ereck‘ daher nur in der Sprache des frühen 16. Jahrhunderts wieder, und da wir bis auf wenige Bruchstücke keine anderen Textzeugen mehr besitzen, ist es praktisch unmöglich, das mittelhochdeutsche ‚Original‘ Hartmanns wiederherzustellen – wenngleich fast alle Ausgaben anhand sprachlicher und stilistischer Vergleiche mit anderen Werken Hartmanns eine Rückübersetzung ins Mittelhochdeutsche unternommen haben. Das Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch ist daher in erster Linie ein Rezeptionszeugnis; anders als beim ‚Iwein‘ ist es für den ‚Ereck‘ und die ‚Klage‘ allerdings auch das einzige Überlieferungszeugnis.1

Doch die Schwierigkeit einer über 300 Jahre jüngeren, sprachlich stark veränderten Textfassung ist nicht die einzige. Hinzu kommt nämlich das Problem, dass die Überlieferung des ‚Ereck‘ im Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch an zwei Stellen scheinbar unvollständig oder zumindest gestört ist, einmal gleich am Anfang und ein weiteres Mal in der Mitte der Handlung. Besonders problematisch ist die erste Stelle: Geht man nach den ‚üblichen‘ Konventionen der höfischen Romane sowie nach der französischen Vorlage ChrétiensChrétien de Troyes, so wäre auch für den ‚Ereck‘ ein Prolog zu erwarten, in dem der Autor sich nennt und den Stoff seiner Erzählung vorstellt, die dann, ähnlich wie bei Chrétien, mit der Hirschjagd von König ArtusArtus beginnt. Der Text im Ambraser Heldenbuch beginnt mit einer längeren Überschrift, in der es zuletzt heißt, man erfahre nun ‚besonders von Ereck und seiner Frau einen Großteil und eine schöne Lektüre‘ (Súnderlich von Erick und seiner hausfrauen ein tail ain schön lesen → Abb. 2.6. und 2.7.). Allerdings setzt erst einmal eine ganz andere Handlung ein, es geht nämlich um einen Mantel‚Der Mantel‘, der an den Artushof für eine Tugendprobe gebracht wird, um die Treue der dortigen Frauen zu testen. Diese schwankhafte ErzählungÜberlieferung hat ebenfalls eine französische Vorlage Vorlagefranzösische (‚Du mantel mautaillé‘); ‚Du mantel mautaillé‘eine mittelhochdeutsche Version ist allerdings einzig hier, im Ambraser Heldenbuch, überliefert.2 Nach fast tausend Versen, inmitten der Handlung, ja mitten im Satz und in der Handschrift durch nichts – kein anderes Layout, keine Überschrift, nicht einmal einen Absatz – gekennzeichnet, geht der Text dann unmittelbar in die ‚Ereck‘-Handlung über, wie wir sie von Chrétien her kennen: Plötzlich handelt die Erzählung vom Ausritt der Königin in Begleitung Erecks, während die bei Chrétien zuvor erzählte Hirschjagd der Artusritter nicht vorkommt, jedoch für das Verständnis der nachfolgenden Szenen vorausgesetzt werden muss (→ Abb. 2.8. und 2.9.).

Wie kommt es zu dieser merkwürdigen Kombination zweier so unterschiedlicher Erzählhandlungen mit zwei französischen Vorlagen, von denen nur Schauplatz und Personal übereinstimmen? Für sich betrachtet sieht es so aus, als ob es sich um zwei differierende Texte handelt, wobei von dem einen, dem recht kurzen ‚Mantel‘‚Der Mantel‘, der Schluss, von dem anderen, dem ‚Ereck‘, wiederum der Anfang fehlt; beide gehen ziemlich unvermittelt ineinander über und erscheinen in der Handschrift als ein gemeinsamer Text. Die philologische Forschung hat hierfür verschiedene Erklärungen beigebracht. Die einfachste wäre sicherlich, von einer Überlieferungspanne auszugehen: Hans RiedRied, Hans könnte, so die Vermutung, bereits eine fehlerhafte Vorlage verwendet haben, bei der mehrfach ein Blatt verlorengegangen sei (schließlich gibt es noch eine zweite Lücke im ‚Ereck‘). Das erste Blatt wäre dann genau an der Stelle ausgefallen, an der das Ende der ‚Mantel‘- und der Anfang der ‚Ereck‘-Erzählung gestanden hätten; Ried habe die Lücke womöglich nicht einmal bemerkt, sondern stur den Text der Handschrift kopiert (so z.B. Honemann 1999). Diese Erklärung greift freilich zu kurz. Hans Ried war ein ausgesprochen sorgfältiger Schreiber, der zwar manche für ihn fremdgewordene Ausdrücke des Mittelhochdeutschen nicht mehr verstanden und falsch umgesetzt hat, dem jedoch ein solcher Überlieferungsfehler durchaus aufgefallen sein müsste. Das zeigen nicht Überlieferungnur die älteren ‚Ereck‘-Fragmente K und V (dazu Scholz 2000), sondern auch Vergleiche mit anderen Texten des Ambraser HeldenbuchesAmbraser Heldenbuch, von denen noch andere, z.T. deutlich ältere Handschriften vorliegen (vgl. Thornton 1962, Fuchs-Jolie u.a. 2013:697f.).

Abb. 2.7.

Beginn des ‚Mantel‘ mit Ankündigung des ‚Ereck‘ im Ambraser Heldenbuch (A) (Detail).

Abb. 2.8.

Beginn der ‚Ereck‘-Handlung im im ÜberlieferungAmbraser Heldenbuch (A) (mittlere Spalte unten, D-Initiale, vgl. Abb. 2.9.).

Abb. 2.9.

Beginn der ‚Ereck‘-Handlung im Ambraser Heldenbuch (A) (Detail).

Der Befund ist also differenzierter zu bewerten. So ist anzunehmen, dass dem Text, ebenso wie seiner französischen Vorlage Vorlagefranzösischeund Hartmanns zweitem Artusroman ‚Iwein‘ ursprünglich ein Prolog vorausging, und anzunehmen ist auch, dass er die Hirschjagd ähnlich darstellte wie Chrétien. Es ist daher wahrscheinlich, dass es sich bei der eigenwilligen Verbindung von ‚Mantel‘-Handlung‚Der Mantel‘ und ‚Ereck‘ um eine spätere Bearbeitungsstufe handelt, wobei der für seine Verhältnisse recht umfangreiche Prolog des ‚Mantel‘ gar als ein ‚Ersatz‘ für einen ‚Ereck‘-Prolog fungiert haben könnte (so Bumke 2006:11f.). Die bei der Verbindung Überlieferungauftretenden Unstimmigkeiten scheinen für das Spätmittelalter kein Problem gewesen zu sein: Selbst in den Augen eines so sorgfältigen Schreibers wie Hans RiedRied, Hans stellte der ‚Ereck‘ mit dem ‚Mantel‘-Anfang offenbar einen einzigen Gesamttext dar. Und mit großer Sicherheit hat Ried den Text so, wie er ihn abgeschrieben hat, bereits in seiner Vorlage als zusammengehörend vorgefunden. Dass die beiden Handlungsstränge zumindest nicht zufällig durch eine unglückliche Überlieferungspanne zusammengeklammert wurden, legen auch inhaltliche Korrespondenzen nahe: Am Ende der Mantelprobe, die die Treue der Frauen am Artushof erweisen soll, treten nämlich EreckErec und EniteEnite auf (in der französischen Version kommen die beiden dagegen gar nicht vor). Enite besteht die Probe bis auf einen kleinen Schönheitsfehler, erweist sich also als die treueste unter den Frauen am Hof – nicht einmal Königin GinoverGinover hatte bis dahin überzeugt! Kurz darauf setzt dann, wenngleich abrupt und übergangslos, die ‚Ereck‘-Handlung ein, in der die Treue Enites zu ihrem Mann ja eines der zentralen Themen ist. Die Geschehnisse um den Mantel und Enites Rolle darin werden auf diese Weise erst verständlich, wenn man rückblickend die des ‚Ereck‘ hinzunimmt, der damit beinahe wie eine Art ‚Prequel‘ für die ‚Mantel‘-Handlung erscheint.

Dies und weitere Korrespondenzen (vgl. dazu Hess 2011:170–175, Hammer 2015:434–444) lassen darauf schließen, dass die ‚Mantel‘-Handlung‚Der Mantel‘ möglicherweise planvoll mit der des ‚Ereck‘ verschmolzen wurde. Über die Gründe kann man nur spekulieren: Ist der Beginn von Hartmanns ‚Ereck‘ irgendwann verlorengegangen und dann von einem findigen Kompilator mit der ‚Mantel‘-Erzählung verbunden worden? Allerdings vermutet man aus sprachlichen Gründen, dass die Vorlage, die Hans RiedRied, Hans verwendet hat, möglicherweise noch ins 13. Jahrhundert zurückreicht – es wäre aber eher unwahrscheinlich, dass schon zu einem derart frühen Zeitpunkt ein Teil des Textes nicht mehr greifbar ist. Hat man gar den vorhandenen Anfang bewusst ersetzt, etwa, weil er nicht zu gefallen wusste? Auch das kann mangels weiterer Textzeugen weder überprüft noch bewiesen Überlieferungwerden. Ebenso muss unklar bleiben, ob der ‚Mantel‘ ursprünglich ein selbständiger mittelhochdeutscher Text nach französischer Vorlage Vorlagefranzösischewar, der erst später mit dem ‚Ereck‘ verbunden wurde, oder ob die Handlung lediglich als Folie diente, um eine neue oder andere Version eines ‚Ereck‘-Beginns herzustellen. Die unterschiedlichen Schlussfassungen des ‚Iwein‘ zeigen allerdings, dass solche Spekulationen reizvoll, aber wenig zielführend sind. Besitzen wir im Falle des ‚Iwein‘ verschiedene, gewissermaßen miteinander konkurrierende Fassungen, so haben wir beim ‚Ereck‘ den noch problematischeren Fall, nur einen einzigen, zumal sehr späten Überlieferungszeugen zu besitzen. Vieles mag sich im Laufe der Zeit vom ‚ursprünglichen‘ Text verändert haben – so werden an einigen Stellen, wie etwa dem umfangreichen Namenkatalog bei der Hochzeitsfeier, spätere Zusätze vermutet. Das aber lässt sich nicht rekonstruieren, was die Frage nach dem ‚Original‘ erst recht obsolet macht. Auch wenn mithin einiges dafür spricht, dass der Text des Ambraser HeldenbuchesAmbraser Heldenbuch eine bereits bearbeitete Fassung von Hartmanns ‚Ereck‘ darstellt: Es bleibt uns nur übrig, diesen als Rezeptionszeugnis der frühen Neuzeit in seiner vorliegenden Gestalt ernst zu nehmen.

FassungFassungsdivergenzDie ohnehin problematische ‚Ereck‘-Überlieferung wird durch die Fragmente noch weiter verschärft. Der im Ambraser Heldenbuch erhaltene Text weist an mindestens einer weiteren Stelle noch eine Lücke auf: Vor Erecks zweiter Begegnung mit der Artusgesellschaft gibt ein erneuter Sprung in der Handlung (auch im Vergleich mit ChrétienChrétien de Troyes) zu erkennen, dass hier offensichtlich etwas fehlt, denn plötzlich finden sich die Leser_innen in einem Gespräch zwischen EreckErec und KeieKeie, ohne dass deren Zusammentreffen vorher geschildert worden wäre (HaEk 5616f./HaEr 4629f.). Auch diese handlungslogische Lücke ist in der Handschrift durch nichts gekennzeichnet. Mit dem Fund von zwei nicht ganz vollständigen Pergament-Doppelblättern in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel konnte die Lücke allerdings fast vollständig geschlossen werden: Das Fragment (nach dem Fundort Wolfenbüttel mit der Sigle W bezeichnet) stammt noch aus dem 13. Jahrhundert und enthält über 300 Verse von Hartmanns ‚Ereck‘, die fast genau an der Stelle einsetzen, an der die etwa 80 Verse im Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch fehlen, weshalb sie recht gut zu deren Rekonstruktion verwendet werden können. Allerdings weicht der Text von W in vielerlei Hinsicht von dem des Ambraser Heldenbuches ab. Abgesehen davon, dass es sich nicht um Frühneuhochdeutsch, sondern um ein Mittelochdeutsch des 13. Jahrhunderts handelt, weist die Schreibsprache von W Überlieferungmitteldeutsche Merkmale mit niederdeutschen Einflüssen auf – auch hier war also ein Schreiber am Werk, der Hartmanns Werk nach den Gegebenheiten seiner eigenen Sprache aufgeschrieben hat (vgl. Klein 2007).

FassungFassungsdivergenzDie Wolfenbütteler Fragmente bieten einen Text von Hartmanns ‚Ereck‘, der nicht nur sprachlich, sondern auch gestalterisch anderen Kriterien unterworfen ist als der viel später entstandene des Ambraser HeldenbuchesAmbraser Heldenbuch. Im Jahr 1978 sind in Wolfenbüttel weitere Fragmente dieser Handschrift aufgetaucht: ein Pergamentblatt, das in schmale Streifen zerschnitten wurde, um den Einband einer anderen Handschrift zu verstärken. Beim Zusammensetzen der einzelnen Streifen konnte man feststellen, dass sie vom selben Schreiber und derselben Handschrift stammen wie die beiden bereits bekannten Wolfenbütteler Blätter. Auch sie beinhalten, soweit man das bei diesem zerschnittenen Blatt noch erkennen kann, Teile der ‚Ereck‘-Handlung. Der hier gefundene Text gibt eine Szene aus dem Kampf zwischen Ereck und GifuraisGifurais wieder, in der Handlung also unweit der Stelle, an der die zuerst entdeckten Wolfenbütteler Fragmente einsetzen. Doch hat die hier geschilderte Szene überhaupt keine Parallele im Ambraser Heldenbuch, sondern ist viel stärker an die französische Vorlage Vorlagefranzösischeangelehnt. Dieser verwirrende Befund deutet darauf hin, dass es im 13. Jahrhundert offenbar noch eine weitere (aufgrund der Schreibsprache wohl hauptsächlich im mitteldeutschen Bereich kursierende) Version des ‚Ereck‘ neben der Hartmanns von Aue gegeben haben muss. Diese These wird durch die jüngst entdeckten Fragmente aus dem Kloster Zwettl ( Z) gestützt: Auch hier handelt es sich um insgesamt 11 kleine Papierschnipsel, die zur Verstärkung von barocken Einbänden in Bücher geklebt und erst bei der Restaurierung freigelegt und 2002 (das letzte erst 2013) bekannt wurden (→ Abb. 2.10.). Auch sie präsentieren einen ‚Ereck‘-Text in mitteldeutscher Schreibsprache, der nicht mit dem des Ambraser HeldenbuchsAmbraser Heldenbuch übereinstimmt, sondern sich viel enger an ChrétienChrétien de Troyes anlehnt (vgl. Glauch 2009b, Hammer/Reuvekamp-Felber 2014). Die Textausschnitte stammen aus dem ersten Teil der Handlung, etwa um das Hoffest nach der Hochzeit zwischen Ereck und ÜberlieferungEnite.

Abb. 2.10.

Der ‚mitteldeutsche Ereck‘ im 2002 entdeckten Zwettler Fragment (Mitte des 13. Jahrhunderts).

FassungFassungsdivergenzOb dieser zweite, ‚mitteldeutsche Ereck‘ ein Vorläufer oder ein Nachahmer Hartmanns ist oder vielleicht gar ebenso von diesem selbst stammt, bleibt erneut im Dunkeln (zur Diskussion vgl. Nellmann 1982, Gärtner 1982). Es ist allerdings schon sehr erstaunlich, dass die Wolfenbütteler Fragmente aus einer Handschrift stammen, die offenbar zunächst jene zweite, mitteldeutsche ‚Ereck‘-Version beinhaltete und dann, etwa ab der Mitte der Handlung, zum Text Hartmanns, wie wir ihn aus dem Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch kennen, übergeht. Es handelt sich also um die Kompilation zweier unterschiedlicher Versionen, wahrscheinlich auch zweier Autoren. Es wäre demnach sogar denkbar, dass Hartmann einen Vorläufer hatte und der erste Artusroman in deutscher Sprache gar nicht ihm zuzuschreiben ist! Genauso denkbar wäre freilich auch, dass die zweite, mitteldeutsche Version nur an einigen Stellen in den Text Hartmanns eingegriffen hat, also quasi eine sehr eigenständige Bearbeitung Hartmanns darstellt. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass jener zweite ‚Ereck‘-Roman nie vollständig existiert hat, sondern irgendwo in der Mitte zugunsten Hartmanns Darstellung abbrach (vielleicht, weil sich Hartmanns Version bereits durchgesetzt hatte?). Spekulationen ließen sich viele anbringen, Gewissheiten gibt es jedoch keine: Die wenigen, z.T. kaum mehr lesbaren Fragmente werfen mehr Fragen auf, als sie klären, und die einzige annähernd vollständige Handschrift ist so weit von der Entstehungszeit des ‚Ereck‘ entfernt, dass auch hier wenig Rückschlüsse über die Tradierung und Überlieferungsgeschichte gezogen werden können. Wir müssen uns damit begnügen: Die tatsächlichen Verhältnisse aus der Zeit Hartmanns werden wir wohl niemals nachvollziehen können. Umso mehr müssen wir uns bei der Interpretation dessen bewusst Überlieferungsein, dass wir stets mit Rezeptionszeugnissen arbeiten. FassungFassungsdivergenz

Hartmann von Aue

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