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2.2.2. ‚Iwein‘ und ‚Armer Heinrich‘: Variantenreiche Überlieferung in mehreren Fassungen 2.2.2.1. Die Erzählschlüsse des ‚Iwein‘
ОглавлениеGemessen an der ÜberlieferungZahl der erhaltenen Handschriften ist Hartmanns ‚Iwein‘ ein reich tradierter und bis ins Spätmittelalter offenbar viel gelesener Text gewesen: 15 vollständige Handschriften und 17 Fragmente sind bis heute bekannt – nur WolframsWolfram von Eschenbach‚Parzival‘ ‚Parzival‘ ist unter den Artusromanen noch häufiger überliefert (Wolf 2008:259). FassungFassungsdivergenzDer ‚Iwein‘, so scheint es, ist bereits kurz nach seiner Entstehung zu einem viel gelesenen Werk avanciert. Diese enorme Wirkung schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts schlägt sich auch in der Überlieferung nieder: Neben zahlreichen Textzeugen aus dem 15./16. Jahrhundert finden sich auch zwei, die schon sehr bald nach der Entstehung des Werkes abgefasst worden sind: Die beiden ältesten Handschriften A und B (→ Abb. 2.1. und 2.2.) stammen etwa aus der Zeit um 1220 – die Entstehung des ‚Iwein‘ setzt man um oder vor 1203 an. Trotz ihrer in etwa gleichen Abfassungszeit unterscheidet sich der Textbestand der beiden Handschriften auf signifikante Weise. Gegenüber A weist B insgesamt über 150 Verse mehr auf; dem stehen 24 Verse gegenüber, die A, nicht aber B überliefert. Eine solche Varianz ist beachtlich, besonders, da die Plusverse von B gegenüber A z.T. längere Passagen von bis zu 42 Versen umfassen.
Abb. 2.1.
Beginn des ‚Iwein‘ in ÜberlieferungHandschrift A (um 1220).
Abb. 2.2.
Beginn des ‚Iwein‘ in ÜberlieferungHandschrift B (um 1220).
FassungFassungsdivergenzInhaltlich besonders gravierend sind die Abweichungen am Schluss – wenn hier von ‚Erweiterung‘ gesprochen wird, so bezieht sich dies nur auf den Textbestand von B im Vergleich zu A, ohne dass unterstellt werden soll, es handele sich damit auch automatisch um Erweiterungen gegenüber einer autornahen ‚Originalfassung‘. Denn der Schluss der Handschrift B enthält nicht einfach nur detailliertere, ausgeschmückte Schilderungen der Handlung, sondern weist gegenüber A massive inhaltliche Differenzen auf, die sich v.a. auf die Figurenkonzeption LaudinesLaudine beziehen: IweinIwein hat es eigentlich nur einer List zu verdanken, dass Laudine überhaupt bereit ist, ihn am Ende doch noch als Ehemann und Hüter der Gewitterquelle zurückzunehmen – sie will hierfür nämlich den mittlerweile berühmten Löwenritter haben und merkt erst dann, dass es sich dabei um niemand anderen handelt, als um ihren (Ex-)Mann Iwein. Erfreut ist sie über diese Entwicklung nicht gerade, da sie aber zuvor ihr Wort gegeben hatte, bleibt ihr kaum etwas anderes übrig, als sich mit Iwein wieder zu versöhnen. ÜberlieferungBesonders emotional ist das von ihrer Seite her nicht; eher kühl nimmt Laudine ihren früheren Gatten wieder bei sich auf, während Iwein sie für das durch ihn erlittene Unrecht um Verzeihung bittet. Dabei belässt es der Text von A dann auch und bringt die Handlung schnell und effektiv zu Ende: Das Paar ist wieder vereint, der Protagonist hat seine Ehre und seine Ehe wiederhergestellt, und beide führen fortan ein glückliches Leben. Demgegenüber hat die Textfassung, wie wir sie in B finden, einen entscheidenden Zusatz: Hier fällt Laudine nach Iweins Entschuldigung unvermittelt vor ihm auf die Knie und bittet um Verzeihung für das Leid, das er ‚von mînen [d.h. Laudines] schulden erliten‘ (HaIw 8125) habe. Iwein heißt sie aufzustehen und beteuert, nicht sie trage Schuld, sondern vielmehr sei alles seiner (fehlerhaften) Einstellung zuzuschreiben.
FassungFassungsdivergenzAuf diese Weise erhält der ganze Schluss in B eine wesentlich versöhnlichere Tonlage. LaudineLaudine ist nicht so kühl und berechnend, sondern durch die Rückkehr Iweins emotional ergriffen, ja sie gesteht am Bruch der Beziehung sogar eine Mitschuld zu. Das verändert freilich die Sichtweise auf ihre Figur radikal: Sie wirkt milder und versöhnungsbereit, nicht mehr so unnahbar wie in den vorangegangenen Szenen, zugleich wird die Schuld an der Trennung nicht mehr nur einseitig auf IweinIwein abgewälzt. Dazu passt, dass B in einem weiteren Zusatz ganz am Ende das glückliche Leben des wiedervereinten Paares weiter ausmalt und sogar die Dienerin LuneteLunete, die alles eingefädelt hatte, durch die Heirat mit einem Herzog noch bedenkt – ein Happy End á la Walt Disney, könnte man fast meinen. Laudines Kniefall allerdings passt so gar nicht zum Verhalten der stolzen und pragmatischen Königin, als die sie zuvor, gerade bei der Heirat mit Iwein, dargestellt worden ist. Das gegenseitige Eingeständnis von Schuld findet zwar eine Parallele im ‚Ereck‘, doch in der Stringenz der Figurenkonzeptionen und des Handlungsverlaufs bedeutet es auch einen gewissen Bruch.
FassungFassungsdivergenzSchon früh sind daher DiskussionenEchtheitsdiskussion aufgekommen, wie ‚echt‘ dieser Schluss sein könne. Es wäre immerhin möglich, dass ein Bearbeiter in Hartmanns Text eingegriffen und ihn an einigen Stellen (möglicherweise unter Zuhilfenahme der VorlageVorlagefranzösische von ChrétienChrétien de Troyes) erweitert hat. Dafür würde sprechen, dass fast alle längeren Passagen, in denen sich B gegenüber A unterscheidet, ausschließlich in dieser einen Handschrift B zu finden sind; alle späteren Handschriften gleichen in diesen Abschnitten dem Text von A. Doch anders als die übrigen Erweiterungen findet sich gerade jene Szene mit Laudines Kniefall noch in Überlieferungzwei weiteren Handschriften, einer aus dem 15. und einer anderen, der jüngsten, aus dem 16. Jahrhundert. Die Schreiber dieser späten Handschriften hatten offenbar eine Vorlage zur Verfügung, welche jenen versöhnlichen Schluss ebenfalls enthielt; die beiden unterschiedlichen Schlüsse scheinen sich somit bis ins Spätmittelalter weitertradiert zu haben. Anders als die sonstigen Erweiterungen, die B gegenüber A aufweist, hat diese inhaltlich gravierendste Veränderung also eine Auseinandersetzung in der späteren Rezeption des Werkes erfahren.
FassungFassungsdivergenzSolche Überlegungen setzen freilich voraus, dass man immer mit einem Autororiginal zu rechnen hätte, das einen einheitlichen, festen und von Hartmann autorisierten Text vorgibt – Fassungautorisierte F.und das hieße in diesem Fall: Handschrift A bewahrt einen Text, der dem Original Hartmanns am nächsten steht. Doch es könnte ja auch genau umgekehrt sein: Die Handschrift B mit dem Kniefall bewahrt den ‚originalen‘, von Hartmann so gewollten und verfassten Schluss, den ein früher Bearbeiter dann zugunsten einer einheitlichen Figurenkonzeption ‚getilgt‘ hat – dann wäre A gegenüber B sekundär. Es ist also weder das eine noch das andere auszuschließen oder gar zu beweisen (vgl. als letzten, argumentativ z.T. höchst fragwürdigen Versuch eines solchen ‚Beweises‘ Schröder 1997, dagegen Hausmann 2001). Die zeitliche Nähe beider Handschriften zueinander sowie zur Entstehung des ‚Iwein‘ könnte hingegen bedeuten, dass es von Anfang an zwei Versionen gegeben hat, sozusagen zwei ‚Iweine‘, einen mit, einen ohne Laudines Kniefall, aber beide Schlüsse aus der ‚Feder‘ Hartmanns oder zumindest aus seinem Umfeld (Bumke 1996:33–42).
Abb. 2.3.
Schluss des ‚Iwein‘ in Handschrift f (1415) mit Hinzufügungen aus dem ‚Willehalm von Orlens‘ des Rudolf von Ems.
FassungFassungsdivergenzAll diese Spekulationen (die ÜberlieferungForschung bringt noch viel mehr) zeigen v.a. eines: Ein vom Autor ‚veröffentlichtes‘ Original, Fassungautorisierte F.ein ‚echter‘ oder ‚ganzer‘ Text in der Gestalt, wie sie Hartmann tatsächlich entworfen hat, ist nicht herstellbar und für die mittelalterliche Schriftkultur offenbar auch längst nicht so relevant wie für die Moderne. Man muss vielmehr mit unterschiedlichen, inhaltlich konkurrierenden Fassungen rechnen, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen (so Bumke 1996). Begriffe wie ‚primär‘ und ‚sekundär‘, ‚Eingriff‘ oder ‚Erweiterung‘ usw. können selbst vor dem Hintergrund des gesamten Überlieferungskontextes nur bis zu einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad geklärt werden und dürfen sich auch nicht auf ein wie auch immer gestaltetes ‚Original‘ beziehen. Das soll nicht heißen, dass sich in einigen Handschriften nicht trotzdem deutliche Bearbeitungsspuren finden lassen: So steht es außer Frage, dass z.B. die ‚Iwein‘-Handschrift z aus dem Jahr 1464–1467, die insgesamt einen um etwa ein Sechstel kürzeren Text bietet, eine späte Bearbeitung darstellt und aus dem Text eine für das Spätmittelalter typische KurzfassungFassungKurzfassung formt (vgl. Krusenbaum/Seebald 2012). Ähnliches ist für die Handschrift f aus dem Jahr 1415 zu sagen, die zwar nicht die Kniefall-Szene enthält, aber dafür einen stark erweiterten Schlussabschnitt, in dem die weitere Geschichte IweinsIwein und LaudinesLaudine bis hin zur Inthronisation ihres gemeinsamen Sohnes in der Herrschaftsnachfolge ausgesponnen wird: Allerdings ist dieser Schluss in weiten Teilen aus einem ganz anderen Werk, dem ‚Willehalm von Orlens‘ Rudolfs von EmsRudolf von Ems‚Willehalm von Orlens‘, fast wörtlich ‚abgeschrieben‘; lediglich die Namen sind ausgetauscht und einige überleitende Verse zwischen einzelnen Passagen neu hinzugedichtet (Gerhardt 1972, → Abb. 2.3.). Von solchen Fällen ist der Befund der unterschiedlichen Schlüsse jedoch streng zu unterscheiden: Hier kann schon aufgrund der frühen Parallelüberlieferung, erst recht aber aufgrund der Rezeption und Tradierung der Szene auch in späteren Handschriften die Echtheitsfrage kaum Überlieferungentschieden werden.
FassungFassungsdivergenzDas ist ein Ergebnis mit methodologischen Konsequenzen. Wir müssen uns von herkömmlichen, sicherlich auch bequemen, aber eben v.a. neuzeitlichen Konzepten wie dem einer Einheit von Autor und Werk verabschieden. Natürlich gibt es weiterhin den Autor AutorschaftHartmann, der mit einem Werk oder einem Œuvre identifiziert wird (und zwar auch schon im Mittelalter, wie die Lyriküberlieferung zeigt, s.u., 2.4.), entscheidend ist aber, dass zwischen Original und Bearbeitung nicht mehr trennscharf unterschieden werden kann. Vielmehr ist mit einem offenen TextbegriffText zu rechnen: Obwohl die Gesamtheit einer Erzählung weiterhin stets mit dem Namen Hartmanns verbunden bleibt, ist es dem mittelalterlichen Rezipienten dennoch möglich, sich dieses Textes gewissermaßen zu bemächtigen, ihn umzuformen, inhaltlich anders zu akzentuieren, ja sogar gänzlich umzudeuten. Laudines Kniefall stellt in diesem Zusammenhang einen besonders interessanten Fall dar, weil er offensichtlich einen heiklen Punkt im Hinblick auf die Gesamtinterpretation aufgreift, eine Szene, in der sich „die in der Geschichte von Iwein und Laudine angelegten Aporien verdichten“ (Hausmann 2001: 92). Die unterschiedlichen Schlussversionen zeigen eine vehemente Auseinandersetzung mit diesen Aporien, je nachdem ist dann das Verhältnis zwischen Iwein und Laudine entweder besser aufgelöst oder aber die Handlungslogik und Figurenkonstellation stimmiger. Das allerdings ist, jenseits aller Echtheitsfragen, ein Ausdruck der Rezeption, der Auseinandersetzung mit und Diskussion über diese Erzählung und ihre Figuren; nur so lassen sich die darin angelegten Differenzen erfassen und bewerten. FassungFassungsdivergenz