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2.1. Mittelalterliche Textualität: Zum Verständnis von Text und Autorschaft
ОглавлениеÜberlieferungDie mittelalterliche Kultur ist von völlig anderen medialen VoraussetzungenMedialität geprägt als die der Moderne. Es ist eine ‚semi-orale‘ Kultur, d.h., sie basiert, obwohl Schrift und SchriftlichkeitSchriftlichkeit durchaus bekannt sind, zu großen Teilen weiterhin auf MündlichkeitMündlichkeit und mündlicher Überlieferung. Die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben bleibt wenigen Eliten vorbehalten, und bis zum Hochmittelalter lag das Schriftmonopol fast ausschließlich bei den Kirchen und Klöstern.klerikale Bildung Erst mit den nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht bedeutenden Umwälzungen gegen Ende des 12. Jahrhunderts erlangen auch größere Gruppen außerhalb klerikaler Kreise Lese- und Schreibfähigkeiten – darunter Teile der Ministerialität, zu der vermutlich auch Hartmann von Aue gehörte (→ Kap. 1.). Dennoch bleibt die Anzahl derer, die mit Schrift umgehen können, weiterhin sehr überschaubar. Auch wenn der Schrift eine entsprechend hohe Verbindlichkeit zukommt: Das gesprochene Wort besitzt stets eine immense Bedeutung, die auf andere Weise, etwa durch symbolische Handlungen oder Rituale, durch Zeugen oder andere Beglaubigungsstrategien hergestellt wird.
Es ist einleuchtend, dass unter solchen Voraussetzungen der Umgang mit schriftlichen Zeugnissen keine Selbstverständlichkeit ist, zumal bereits die Herstellung und Produktion ungleich schwieriger war als heute: Texte jeglicher Art sind im Mittelalter, anders als nach der Erfindung des Buchdrucks oder gar in Zeiten des schnellen Internets, nicht beliebig verfüg- und reproduzierbar, sondern müssen mühsam einzeln von Hand abgeschrieben werden. Dazu kommt, dass allein die Materialkosten für eine Handschrift immens waren, denn sie bestand üblicherweise aus Pergament, Tierhäuten also, von denen man für einen einzigenÜberlieferung Codex bereits eine ganze Menge benötigte (Papier wird erst im 14. Jahrhundert langsam bekannt). Wenn man bedenkt, dass eine kleinbäuerliche Familie oftmals nur eine einzige Kuh besaß, man aber schon für ein kleineres Buch die Häute einer halben Herde benötigte, werden die Relationen klarer: Schrifttexte sind nur etwas für reiche, privilegierte Eliten. Allein in solch einem Umfeld kann sich eine ausgeprägte HandschriftenkulturHandschriftenkultur entwickeln, in der die Produktion und Weitergabe von Texten stattfindet. Für die Bewertung der Überlieferung ist das von entscheidender Bedeutung.
FassungDiese besonderen Umstände mittelalterlicher MedialitätMedialität haben auch ein besonderes Verständnis von TextText und AutorschaftAutorschaft hervorgebracht. Hier ist mit offenen Begriffen von Text und Autorschaft zu rechnen, die sich erheblich von ihren von OriginalitätOriginalität und Geniegedanken geprägten, modernen Äquivalenten unterscheiden: „Texte wurden nicht als Originale, nicht als ‚fixierte Lebensäußerungen ihrer Autoren‘ […] begriffen, sondern als veränderliche, verfügbare Gegebenheiten, die der konkreten GebrauchssituationGebrauchssituation, in die hinein sie sprechen sollten, angepasst werden konnten. Man fühlte sich frei, in überlieferte Texte einzugreifen, ohne damit den Anspruch zu verbinden, ein neues Werk zu schaffen; man konnte Umfang, Wortlaut und Abfolge eines Textes verändern, ohne dessen Identität antasten zu wollen“ (Kraß 1996:100f.). Das betrifft auch den Umgang mit den Erzählstoffen: ‚Gregorius‘, ‚Ereck‘ und ‚Iwein‘ sind Texte, die Hartmann aus dem Französischen übertragen hat, freilich nicht in wortwörtlicher Übersetzung, sondern in einer Art freier Bearbeitung (→ Kap. 5.)Wiedererzählen. Ebensowenig lässt sich so etwas wie ein Autororiginal oder eine ‚Fassung letzter Hand‘ rekonstruieren, wie wir sie aus dem Druckzeitalter kennen. Fassungautorisierte F.
FassungErschwerend kommt hinzu, dass die handschriftliche Überlieferung in den meisten Fällen erst Jahrzehnte, teilweise sogar erst Jahrhunderte nach der (mutmaßlichen) Entstehung eines Werkes einsetzt. Im Laufe ihrer Überlieferung sind die Texte immer wieder Veränderungen unterworfen, die teils gezielte Eingriffe darstellen, teils durch die Überlieferungssituation bedingt sind: Im Rahmen eines meist mehrfachen Abschreibprozesses unterlaufen den Schreibern beispielsweise immer wieder Fehler oder Missverständnisse, die dann ihrerseits beim nächsten Mal mit abgeschrieben werden. Ebenso kann ein Schreiber nurmehr eine defekte VorlageVorlage haben, bei der z.B. einige Seiten fehlen, so dass der Text dadurch unvollständig wird. Beim Wiederabschreiben ist der Umgang mit Überlieferungsolch ‚offensichtlichen‘ Fehlern wiederum unterschiedlich: Sie werden entweder einfach mit abgeschrieben und sozusagen ‚konserviert‘, oder aber die Schreiber bemühen sich um Korrektur, wobei sie dann aber vielfach wiederum nicht unbedingt auf ‚Originale‘Originalität zurückgreifen können, sondern nach anderen Kriterien, auch nach eigenem Ermessen verfahren müssen. Schon hieran zeigt sich, dass es in den meisten Fällen unmöglich ist, so etwas wie eine originale, vom Dichter quasi autorisierte FassungFassungautorisierte F. zurückzuverfolgen.
Noch viel schwieriger wird dies, wenn man sich klar macht, dass manche Eingriffe offenbar ganz gezielt vorgenommen wurden. Betrachtet man beispielsweise die reichhaltige Überlieferung des ‚Iwein‘, so weichen die einzelnen Handschriften teils erheblich voneinander ab. Es gibt nicht nur spätmittelalterliche Kurzfassungen,FassungKurzfassung vielmehr weisen schon die beiden ältesten Handschriften erhebliche Unterschiede auf (→ Kap. 2.2.2.1.). Derartige FassungsdivergenzenFassungFassungsdivergenz – d.h. verschiedene Versionen eines Textes ohne Abhängigkeitsverhältnis, die zwar in vielen Punkten meist wörtlich übereinstimmen, sich jedoch im Textbestand bzw. der Textfolge signifikant unterscheiden (Bumke 1996:42–53) – sind gerade für die Werke Hartmanns kennzeichnend, und es ist rückblickend oft nicht mehr zu entscheiden, ob überhaupt eine ‚echte‘ darunter ist oder zumindest eine, welche auf Hartmanns ‚Original‘ zurückgeht. Solche EchtheitsfragenEchtheitsdiskussion, wie sie die Textphilologie des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder gestellt hat, haben sich als wenig zielführend erwiesen. Denn es ist sehr heikel, derart unterschiedlichen Fassungen einen ‚primären‘ oder einen ‚sekundären‘ Status zuzuweisen, schon allein, weil damit eine gewisse Wertung verbunden ist, welche dann eine FassungFassungautorisierte F. schnell zu derjenigen erklärt, die allein vom Dichter autorisiert wäre – doch genau diesen Nachweis kann man nie erbringen, ja mehr noch: Er ist für das Verständnis des zeitgenössischen Publikums offensichtlich gar nicht wichtig gewesen. Entscheidend ist, dass alle Varianten in der mittelalterlichen Überlieferung Interesse gefunden, die Rezipienten die Erzählung also auf ganz unterschiedliche Weise wahrgenommen haben. Es ist daher angeraten, verschiedene Versionen oder Fassungen nicht auf ihren (ohnehin nicht mehr rekonstruierbaren) Ursprung zurückzuführen, sondern vielmehr gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen (so auch die Forderung der ‚New Philology‘New Philology, vgl. programmatisch Nichols 1990). Sie sind kulturhistorische Zeugnisse des Umgangs und der Auseinandersetzung mit den entsprechenden Erzählstoffen – und diese ÜberlieferungAuseinandersetzung kann im Rahmen einer HandschriftenkulturHandschriftenkultur mitunter so tiefgreifend sein, dass sie gravierende Spuren in der Textüberlieferung zurücklässt. Die Texte können dann entsprechend umgeschrieben werden, oder besser, sie erfahren Umformungen, die sich nach den Bedürfnissen der Rezipienten richten.
Das bedeutet keineswegs einen Eingriff in ein Autororiginal, Fassungautorisierte F. allein schon, weil es ein derartiges Verständnis in der deutschen Literatur des hohen Mittelalters so noch gar nicht gibt. Der Text wird selbstverständlich weiterhin als einer von Hartmann, Wolfram oder Walther betrachtet. In der konkreten GebrauchssituationGebrauchssituation jedoch kommt den Rezipienten eine viel weitreichendere Verfügungsgewalt zu, als es in der Neuzeit möglich und denkbar wäre. Wo Texte durch den Druck in ein und derselben Gestalt massenhaft herausgegeben werden können, sind vergleichbare Veränderungen kaum mehr möglich. Erst der erneute Medienwandel des 21. Jahrhunderts zeigt parallele Tendenzen: Texte, die übers Internet verbreitet werden, sind einerseits weltweit in kürzester Zeit verfügbar, andererseits genauso schnell zu verändern und den Gegebenheiten anzupassen. Auch hier lassen sich die Spuren vielfach kaum mehr zurückverfolgen, ist die Verfügungsgewalt über Texte (gerade in der Anonymität des World Wide Web) wieder ungleich höher geworden, während das Prinzip der Autorschaft und des Originals im Schwinden ist. Das zeigt, wie wichtig es ist, den Überlieferungskontext der einzelnen Werke zu kennen, um derartige Bedingungen und Verhältnisse einschätzen zu können, denn in den meisten Fällen sind auch produktions- und rezeptionsästhetische Fragestellungen bei der Interpretation zu berücksichtigen.