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1.2.4. Literaturgeschichtliche Linien II: Hartmann von Aue als Dichter
ОглавлениеNicht zu Unrecht kann man Heinrich von VeldekeHeinrich von Veldeke‚Eneasroman‘ als den eigentlichen Erfinder des deutschsprachigen ‚höfischen‘ Romanshöfische Dichtung ansehen (Johnson 1999:231). Sowohl an seiner Darstellungstechnik von Artefakten, Personen und deren inneren Zuständen als auch an seiner sprachlichen Formkunst, die sich an der lateinischen RhetorikRhetorik und Poetik orientiert, schließen nachfolgende deutschsprachige Autoren an. Das gilt auch für Hartmann von Aue, den man dennoch ebenfalls als Neuerer in der deutschen Literaturgeschichte ansehen kann. Mit dem ‚Erec(k)‘ dichtete er nämlich den ersten ArtusromanArtusroman in deutscher Sprache und schuf damit für die zentrale Gattung der ‚höfischen‘ Epik das Modell, an welchem sich Generationen nachfolgender Autoren im Personeninventar (die Ritter der Tafelrunde), in den Motiven (Abenteuer in der außerhöfischen Welt) und in der erzählerischen Vermittlung (Ausgestaltung der ErzählinstanzErzähler / Erzählinstanz) orientierten. Dieser Prototyp des deutschsprachigen Artusromans geht auf die französische Vorlage Chrétiens de TroyesChrétien de Troyes zurück, der einzelne Ritter der Tafelrunde zu Protagonisten eigener fiktiver Erzählwelten erhob (→ Kap. 5.). Von den fünf Artusromanen Chrétiens adaptierte Hartmann zwei in deutscher Sprache: neben ‚Erec et Enide‘ (um 1160/70) Chrétien de Troyes‚Erec et Enide‘ auch den ‚Yvain‘ (um 1170/80)Chrétien de Troyes‚Yvain‘. Grundlage beider Romane ist der bretonische Erzählstoff von König ArtusArtus, welcher in der RomaniaRomania und auf der britischen Insel durchaus einen (wenn auch umstrittenen) historischen Stellenwert hatte. Der erste Schrifttext im 12. Jahrhundert, der ArtusArtus zu einem großen europäischen Herrscher aus der britischen Frühzeit erhob, war nämlich eine Chronik, ein Text der lateinischen Geschichtsschreibung: die ‚Historia regum Britanniae‘ des Geoffrey of MonmouthGeoffrey of Monmouth, ‚Historia regum Britanniae‘ (1135/36). Zwar wurde Geoffrey bereits von zeitgenössischen Historikerkollegen Geschichtsfälschung vorgeworfen, gleichwohl bewahrte ArtusArtus bis ins 12. Jahrhundert einen historischen Rang als großer britischer König der Vorzeit. Geoffrey datierte dessen Herrschaft genau und deren Untergang auf das Jahr 542. Anders als Geoffrey ging es Chrétien in seinen Artusromanen indessen nicht um eine historische Darstellung mit genauen Zeit- und Ortsangaben, sondern darum, spannende Geschichten zu erzählen, die in einem ‚es war einmal in einem Irgendwo‘ spielen und sich um Liebe, Ritterschaft, Kampf sowie Ehre drehen. Während den Chrétien’schen Romanen trotz ihrer zahlreichen Fiktionalitätsmerkmale Fiktionalitätin Frankreich Romaniaein historischer Zeugniswert zugesprochen wurde und diese sogar in Chroniken integriert werden konnten (Wolf 2009:53), kommt den Artusromanen in der deutschen Literaturgeschichte keine gleiche realhistorische Relevanz mehr zu: Der bretonische Erzählstoff (matière de Bretagnematière de Bretagne) wurde als fiktionaler adaptiert, womit sich Chrétiens Tendenz zur Enthistorisierung verstärkte. Am Beginn dieser literaturgeschichtlichen Entwicklung steht Hartmann von Aue, der mit dem ‚Erec(k)‘ das volkssprachliche Erzählen vom Anspruch historischer Verbindlichkeit befreit hat (Haug 21992, Raumann 2010). Der ArtusromanArtusroman war als Gattung so erfolgreich, weil er für eine Vielzahl von Themen besetzbar war, die im Fokus einer kulturellen Elite standen, die einerseits ihren eigenen Lebensstil feierte und andererseits zugleich dessen Grundlagen problematisierend reflektierte: den Umgang mit Liebe, Sexualität, Gewalt, Macht, Ehre, Familie, Religion, dem Fremden und Vertrauten. Hofkultur
Wie seine beiden Artusromane folgt auch der ‚Gregorius‘ einer französischen Vorlage, der um 1150 entstandenen, anonym überlieferten LegendeLegende ‚La vie du Pape Saint Grégoire‘‚La Vie du Pape Saint Grégoire‘. Eine Legende ist eine Erzählung von heiligen Ereignissen oder Personen, deren Leben und oftmals Wandlung im Mittelpunkt stehen. Die deutschsprachige Legendenliteratur schließt weitgehend an eine lateinische Tradition an, die der Erinnerung an herausragende Taten heiliger Menschen und der Erbauung ihrer Rezipienten dient. Diese legendarische Erzähltradition reicht bis in die Antike zurück und wird in Klöstern und kirchlichen Gemeinschaften gepflegt. Im Zuge des kulturellen Umbruchs im 12. Jahrhundert wird diese lateinisch-geistliche Gattung in die deutsche Sprache überführt. Im Gegensatz zu anderen deutschsprachigen Legendenautoren des 12. Jahrhunderts wandte sich Hartmann jedoch einer französischen Vorlage zu und schafft mit seinem ‚Gregorius‘ einen Text, der zwar – wie die überwiegende Überlieferung in legendarisch-geistlichen Sammelhandschriften zeigt – als Legende rezipiert wurde (Ernst 1996), den aber auch romanhafte Elemente und eine „geradezu melodramatische Handlung“ (Johnson 1999:403) kennzeichnen. Damit knüpft der ‚Gregorius‘ deutlich an Paradigmen der ‚höfischen‘ Erzählliteratur an. höfische DichtungDennoch wurde er als erster deutschsprachiger Text ins Lateinische übersetzt, fand also die Aufmerksamkeit der geistlichen Gelehrtenwelt. Bereits um 1210 schrieb Arnold von Lübeck, der Abt des benediktinischen Lübecker Johannisklosters, im Auftrag des Welfenherzogs Wilhelm von Lüneburg, dem Sohn Heinrichs des Löwen, die ‚Gesta Gregorii Peccatoris‘Arnold von Lübeck, ‚Gesta Gregorii Peccatoris‘, die auf Hartmanns Prätext gründet. Auch wenn der Abt den ‚Gregorius‘ abschätzig beurteilt hat – ‚wir haben nicht die Gewohnheit, derartiges zu lesen‘ –, zeigt die zeitnahe Übersetzung in die Gelehrtensprache, dass die ‚höfische‘ Literatur nicht nur für den Laienadel von Interesse ist. Davon zeugt auch eine Prosaauflösung von Hartmanns Versdichtung in der sehr verbreiteten Legendensammlung ‚Der Heiligen Leben‘ ‚Der Heiligen Leben‘um 1400.
Deutlicher noch als die Legende vom armen Büßer Gregorius stellt sich Hartmanns ‚Armer Heinrich‘ als Gattungshybrid mit legendarischer Motivik dar. Das versifizierte Kleinepos erzählt die Geschichte eines Adligen, der von Gott einer Prüfung unterzogen wird: Heinrichs glückliches Leben wird durch eine unheilbare Krankheit, den Aussatz, zunichte gemacht. Als er erfährt, dass das einzige Heilmittel das Herzblut einer Jungfrau im heiratsfähigen Alter sei, die sich freiwillig opfert, und ein Bauernmädchen genau dazu bereit ist, will er zuerst einmal dieses Opfer annehmen. Doch HeinrichHeinrich (‚Armer Heinrich‘) besinnt sich im letzten Moment: Kurz bevor das Mädchen von einem Arzt getötet wird, versteht er, dass er wie Hiob aus dem Alten Testament Gottes Willen geduldig ertragen muss, und bricht die Opferzeremonie ab. Diese Erkenntnis und die aus Mitleid erwachsende Rettung des Bauernmädchens honoriert Gott mit der Heilung Heinrichs. Die vielen religiösen Elemente erinnern an eine Legende, doch wird am Ende das irdische Leben nicht zugunsten einer jenseitigen Perspektive überwunden, sondern wiederhergestellt. In einer handschriftlichen Fassung heiratet nämlich der Adlige das Bauernmädchen und beide kommen nach einem langen glücklichen Leben in den Himmel. Der kleinepische Text weist in einer anderen handschriftlichen Fassung einen alternativen Schluss auf, der die legendarischen Züge stärker betont (→ Kap. 2.): Die Ehe wird sexuell nicht vollzogen, Heinrich wählt den geistlichen Stand und zieht sich wie das Mädchen für den Rest seines Lebens ins Kloster zurück, um Gott zu dienen. Der ‚Arme Heinrich‘ lässt stärker noch als der ‚Gregorius‘ erkennen, dass Weltliches und Geistliches in der ‚höfischen‘ Literatur keine Gegensätze darstellen, sondern (auf verschiedenste Art) miteinander verwoben sind (→ Kap. 11.). Und er zeigt, dass Hartmann Erzählmuster und Motive kennt, die in der lateinischen Gelehrtenkultur wurzelnklerikale Bildung. So begegnen Heilungsgeschichten von Aussätzigen nicht nur in der Bibel, sondern auch in der lateinischen Legendenliteratur. Daher verwundert es nicht, dass auch der ‚Arme Heinrich‘ im 14. Jahrhundert in lateinische Prosa (als ‚Henricus pauper‘ ‚Henricus pauper‘und ‚Albertus pauper‘ ‚Albertus pauper‘in zwei Breslauer Handschriften) übertragen wird (Wolf 2007:108f.). Hartmanns spezifische Leistung aber ist es, die traditionellen, aus dem Lateinischen stammenden Motive mit den profanen Inhalten der ‚höfischen‘ Literatur kreativ zu verschränken: Als Protagonist im ‚Armen Heinrich‘ fungiert ein Ritter, das Opfermotiv wird in eine erotisch aufgeladene Beziehung zwischen Adligem und einem Bauernmädchen eingekleidet, das Ende wird (in einer Textfassung) von einem Märchenschluss dominiert.
Die originelle Verbindung lateinischer Texttypen mit profanen Inhalten der ‚höfischen‘ Kulturhöfische DichtungHofkultur kennzeichnet auch die ‚Klage‘ Hartmanns von Aue (→ Kap. 4.). Als erste deutschsprachige LehrdichtungLehrdichtung über die Liebe kann der Text keiner Gattung wirklich zugeordnet werden. Die ‚Klage‘ entzieht sich einer klassifikatorischen Gattungsbestimmung, weil sie durch ganz verschiedene generische – epische, lyrische, dramatische, epistolarische – Formen geprägt ist und sich durch ein dichtes Geflecht von Traditionsreferenzen auszeichnet. Hartmann experimentiert mit Überkommenem und akzentuiert etablierte Formen neu. So greift er einerseits in der formalästhetischen Ausgestaltung auf lateinische Leib-Seele-DialogeLeib-Seele-Dialog als Traditionskontext zurück und darüber hinaus auf das „Modell der abendländischen Selbstgespräche“ (Hess 2016:13). Diese Selbstgespräche in Form des selbstbetrachtenden Dialogs entstehen im Übergang von der Spätantike zum Mittelalter (zu denken ist etwa an Augustins ‚Soliloquia‘Augustinus, ‚Soliloquia‘ oder Boethius’ ‚Consolatio Philosophiae‘Boethius, ‚Consolatio Philosophiae‘) und etablieren sich „als ‚sprachliche Technik der Selbstformung‘, mit der eine Neuausrichtung in Denken und Handeln erreicht wird“ (Hess 2016:71). Hartmanns originäre Leistung ist es, diesen Dialogtyp des Selbstgesprächs in die höfische Literatur eingeführt und ihn als Medium für deren Themen und Motive etabliert zu haben.
Neben dem Artusroman ist der MinnesangMinnesang die zweite zentrale Gattung der ‚höfischen‘ Periode der Literaturgeschichtehöfische Dichtung (vgl. zum Folgenden Johnson 1999:45ff. sowie Schnell 2012a, Schnell 2012b), die in Hartmanns Œuvre vertreten ist. Immerhin 18 Lieder können ihm zugewiesen werden (→ Kap. 3.). Mittelalterliche Lyrik unterscheidet sich signifikant von moderner Lyrik. Zwar sind formale Mittel wie Rhythmus und Reim vorhanden, allerdings schafft sie weniger Stimmung oder subjektives Empfinden, als es in der modernen Lyrik oft – aber auch nicht ausnahmslos – der Fall ist. Mittelalterliche Lieddichtung ist eine ausgesprochen intellektuell kalkulierte Form lyrischen Sprechens. Sie diskutiert mehr, als dass sie Empfindungen ausdrückt oder evoziert. Dabei ist es nicht so, als würden Gefühle und Empfindungen keine Rolle spielen, nur werden diese extrem typisiert und konventionalisiert. Trotz aller Konventionalität präsentiert aber das Minnelied seinen Inhalt als Erlebnis eines Einzelnen. Der geschilderten Situation kommt dabei aber höchstwahrscheinlich keine historische Referenz zu. Ein Ich singt in den Liedern also nicht über seine persönlichen Gefühle oder Erlebnisse, sondern reflektiert mit topischen Argumenten und rhetorischen Ausdrucksmitteln über konventionalisierte Gefühle. Mittelalterliche Liebeslyrik entspricht also weniger expressiven Formen des eigenen Gefühlsausdrucks als vielmehr Erzeugnissen der modernen Schlager- oder Popkultur. Sie ist eine Form von Rollenlyrik, nicht Erlebnislyrik. Auch wenn Hartmann von Aue eine ausgesprochene Kunstfertigkeit als Lyriker vonseiten der mediävistischen Forschung und anderer Autoren des 13. Jahrhunderts (Heinrich von dem TürlinHeinrich von dem Türlin sowie der Minnesänger von GliersDer von Gliers [SMS 8]) attestiert wird, hat er hier anders als in der Epik keine exzeptionelle Stellung. Während er in der Epik zur ersten Generation von Autoren gehört, die auf französische Romane zurückgreift und lateinische Texttypen neu akzentuiert, liegt die Sache in der Lyrik anders: Bereits seit etwa 1160 werden romanische Liedtypen in der deutschen Literatur adaptiert. Hartmann schließt in seinen Minneliedern an solche schon bestehenden deutschen Traditionen an. Alle vier lyrischen Subgattungen, die in seinem Œuvre vorkommen (Werbelied, Kreuzlied, Frauenlied, Minneabsage), hatten sich im deutschsprachigen Minnesang bereits ausgebildet. Generische Experimente oder Neuerungen bei der Etablierung von Gattungen kennt die Lyrik Hartmanns nicht. Er zeigt sich bei aller artistischer Virtuosität im Einzelnen als ein Lyriker, der bestehende deutschsprachige Traditionen fortführt und sich an etablierten Gattungskonventionen orientiert.