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4.5. Gott als der Heilige oder Jesus Christus im Spiegel alttestamentlicher Heiligkeitsvorstellungen
ОглавлениеDie Mehrzahl der in die Komposition der Sinai-Perikope sukzessiv eingefügten Gesetze betrifft Fragen des Kultes (Ex 25–31; 34–40; Lev; Num 1–10 u.v.a.), thematisiert damit die Trennung zwischen heilig (sakral) und unheilig (profan), rein und unrein und berührt so die Vorstellung von Gott als dem schlechthin Heiligen. Insofern sich der Mensch aufgrund seiner Geschöpflichkeit und Sündhaftigkeit von dem heiligen Gott getrennt erfährt (Jes 6,5), ist der Kult Medium und Ort, in dem er die segensreiche Anwesenheit Gottes erfahren und Kontakt mit Gott aufnehmen kann.
Unabhängig von der Frage, ob es sich im Einzelfall der im Kontext der Erzählung vom Aufenthalt Israels am Sinai als sichtbare Artikulationen der Verehrung Jhwhs des Heiligen durch sein heiliges Volk Israel (Ex 19,6; Dtn 7,6) eingeführten Kultgesetze und Riten um tatsächlich ausgeführte oder virtuell erlebte handelt, beinhalten die alttestamentlichen Kultvorschriften ein umfangreiches Tableau von Motiven und Traditionen, die im Neuen Testament im Blick auf Jesus Christus rezipiert werden. In erster Linie betrifft dies Vorstellungen|48| vom Tempel, vom Priester, vom Opfer und von der Sühne, in zweiter Linie auch die Feste und die unterschiedlichen Formen des Gebets des Alten Testaments, vor allem im Psalter, insofern dieser im Judentum zur Zeit Jesu das wesentliche Gebet- und Meditationsbuch darstellte, Jesus selbst Psalmen betete und der Psalter das im Neuen Testament (nicht nur im Rahmen der Christologie) am häufigsten zitierte alttestamentliche Buch darstellt.
Für die israelitisch-jüdischen Vorstellungen vom Tempel ist grundsätzlich entscheidend, dass dieser als Platz der Verehrung Jhwhs und als irdische Wohnstätte (hebr. bayit/Haus bzw. hêkal/Palast) gilt. Im Tempel sind die heilvolle Nähe und der Segen Gottes erfahrbar, was metaphorisch als Leuchten des Angesichts Gottes (Num 6,24–26; Ps 95,6; 119,135; vgl. 2Kor 4,6) oder als Sein im Licht Gottes (Ps 27,1; 36,10; vgl. Joh 8,12) ausgedrückt werden kann.
Dabei entwickeln sich im Verlauf der israelitisch-jüdischen Literatur- und Religionsgeschichte vor allem vier tempeltheologische Konzeptionen, welche die Spannung zwischen der Vorstellung von Gottes Wohnen im Himmel und im Tempel auf der Erde zu lösen versuchen. Erstens kann der Tempel als der Ort verstanden werden, an dem sich dank Gottes unsichtbarer Gegenwart Himmel und Erde berühren (Jes 6,1) – der Tempel ist demgemäß der Fußschemel Jhwhs (Ez 43,7; Klgl 2,1; Ps 99,5). Zweitens kann der Wohnort Jhwhs nur im Himmel gesehen werden, während der Tempel das Himmelstor darstellt (Gen 28,10–22). Drittens kann, so vor allem von der Priesterschrift, die Anwesenheit Jhwhs als mittels seiner Herrlichkeit (hebr. kābôd, griech. δόξα/doxa) im Tempel präsent gedacht werden, wobei die Herrlichkeit als übersinnliche Lichtgestalt verstanden wird (Ex 40,34–35). Viertens findet sich die vor allem von deuteronomistischen Theologen entfaltete Vorstellung, dass Jhwh selbst im Himmel wohnt, aber sein Name (hebr. šem, griech. ὄνομα/onoma) als Ausstrahlung seiner Person im Tempel gegenwärtig ist (Dtn 12,5).
Noch während des Bestehens des Zweiten Tempels und neben dem dort geübten Kult vollzieht sich in hellenistischer Zeit – befördert durch die Diasporasituation, die Konkurrenzsituation verschiedener Jhwh-Heiligtümer in Jerusalem und Samaria, auf der Nilinsel Elephantine und ab etwa 170 v. Chr. im ägyptischen |49|Leontopolis (Tell el Yahudiya) sowie durch einen auch in der paganen Geistes- und Religionsgeschichte nachweisbaren Individualisierungsschub – eine vielfache Übertragung tempeltheologischer Konzeptionen: erstens auf die persönliche Frömmigkeit, was sich in den sogenannten »nachkultischen Psalmen« (vgl. Ps 73; Stolz 1983) niederschlägt, zweitens auf die Tora, die als eigentliches Heiligtum angesehen wird, so dass die Lektüre in ihr den am Tempel vollzogenen Kult ersetzen kann (vgl. Ps 1; 19; 119; 1QHa XIV,10–18; XVI; 4Q400–407), und drittens auf eine sich selbst als wahre Jhwh-Gemeinde verstehende Gruppe, die sich dann als Tempel bezeichnen kann (vgl. 1Kor 3,16–17; 6,19; 2Kor 6,16; 1QS VIII,5; IX,6; 1QSb III,25–26; 4Q174 Frag. 1 I,21,2,6). Letzteres findet seine radikale Zuspitzung in der Vorstellung, dass Jesus Christus selbst der neue Tempel ist (vgl. Mk 14,58). Zu deren Entfaltung haben literarisch auch eschatologische Motive eines neuen Heiligtums (Ez 40–48; Apk 21) und historisch die Erfahrung der (endgültigen) Zerstörung des Jerusalemer Jhwh-Tempels 70 n. Chr. beigetragen (Ego/Lange/Pilhofer 1999; Horn 2013).
Für die Ausübung des Kultes ist das Kultpersonal, die Priesterschaft, verantwortlich. In der israelitisch-judäischen Königszeit und in der Exilszeit bildete sich eine feste Jhwh-Priesterhierarchie mit abnehmender Heiligkeit heraus. Dabei war bis zur exilisch-nachexilischen Zeit die wesentliche Aufgabe der Priester weniger der Vollzug des Opfers als vielmehr die Erteilung von Orakeln und die Weisung (tôrāh), wie Heiliges zu behandeln und Unreines zu vermeiden sei. Das noch aus der späten Königszeit stammende deuteronomische Programm der Kultreinheit und der Kulteinheit (Dtn 12) wurde in der persischen und hellenistischen Zeit in der Priesterschrift und dem »Verfassungsentwurf« des Ezechiel (Ez 40–48) detailliert entfaltet: Danach gehört zum reinen Jhwh-Kult eine streng gegliederte Priesterschaft mit dem Hohepriester, der sein Ur- und Idealbild in Aaron hat, an der Spitze (vgl. Lev 8,1–13; 21; Sir 45,6–22; 50,1–21); dem Hohepriester zugeordnet sind Priester, die sich genealogisch von Aaron ableiten können und die wie dieser besonders strengen Reinheitsvorschriften unterliegen und keinen Landbesitz haben dürfen.
Spätestens in der Zeit des Zweiten Tempels gehört zu den wesentlichen|50| Aufgaben der Priester der Vollzug der Opfer. Das Alte Testament kennt keinen einheitlichen Opferbegriff, wohl aber verschiedene Opferarten. Aus diesen spricht jeweils ein bestimmtes Opferverständnis, sei es, dass das Opfer als Gabe an die Gottheit betrachtet wird, wobei sich hier nach dem Anlass des Opfers zwischen einem Bittopfer und einem Dankopfer differenzieren lässt, sei es, dass das Opfer als Mahl mit der Gottheit (communio/Gemeinschaft) oder als Sühne (Versöhnungsopfer) verstanden wird. Die Intention eines jeden Opfers besteht darin, die Beziehung zwischen dem Opfernden und der Gottheit, der etwas geopfert wird, zu beeinflussen. Als sanktionierte Opfermaterie erscheinen im Alten Testament pflanzliche und tierische Produkte sowie Tiere – nie Menschen, wenngleich das Erstgeburtsopfer als Ersatz für den Erstgeborenen einer Familie erscheint und religionsgeschichtlich in der Jhwh-Verehrung wie in der Umwelt des alten Israel Menschenopfer in absoluten Krisensituationen belegt sind (vgl. 2Kön 3,27).
Dementsprechend stellt die im Vierten Gottesknechtslied (Jes 52,13–53,12) angelegte und im Neuen Testament zur Deutung des Kreuzestodes Jesu aufgenommene Vorstellung vom Tod des Gerechten, der »sein Leben für viele gibt«, einerseits einen Archaismus dar, andererseits eine Radikalisierung der Vorstellung von der absoluten Heiligkeit Gottes, dessen Wille zur Gemeinschaft durch die Sünde des Menschen so stark tangiert ist, dass es des Opfers eines sündlosen Repräsentanten des Menschen bedarf (Hebr 7,26; 9,14; 1Petr 2,21–24). Die neutestamentlichen Beschreibungen Jesu als des einen sündlosen wahren Menschen (vgl. Psalmen Salomos 17,36) basieren auf diesem Denkmodell. Komplementär kommt der Sühnegedanke hinzu, der in der Zeit des Zweiten Tempels zunehmend nicht nur die Vorstellung der Opfer, sondern auch der Feste (vgl. Sir 50,5–21), des Fastens (vgl. Psalmen Salomos 3,8) und Almosengebens (vgl. Prov 16,6; Sir 3,30; Tob 12,9) prägt.
Entscheidend für das alttestamentliche Sühneverständnis ist, dass Gott selbst die Schuld des Menschen aufhebt und die Sühne des Menschen ermöglicht. Sühne ist also primär ein Heilshandeln Gottes. Realsymbolisch wird dies in einem Handaufstemmungsritus vergegenwärtigt, der unter anderem beim großen Versöhnungstag (jôm ha-kippûrîm) ausgeführt wird, in dessen Verlauf das Heiligtum, |51|die Priester und die Kultgemeinde von der Sünde eines vergangenen Jahres befreit werden, indem Aaron bzw. der Hohepriester die Sünde auf einen Bock überträgt, der dann stellvertretend in die Wüste geschickt wird (Lev 16,8.10.20–22: »Sündenbock«). Wenn der Hebräerbrief Jesus Christus als den wahren Hohepriester, der im Kult des Zweiten Tempels nur am großen Versöhnungstag das Allerheiligste betritt, bezeichnet (Hebr 2,17; 6,20) und wenn Paulus Jesus Christus als von Gott eingesetzte »Sühne« darstellt (Röm 3,25), dann ist jeweils die alttestamentliche Vorstellung vom Sühne schenkenden (versöhnenden) Gott fortgeschrieben (Dtn 21,8; 2Chr 30,18f.;1QHaXII, 37; 1Joh 2,2).
Mit dem Versöhnungstag, der in der Zeit des Zweiten Tempels im Zentrum des herbstlichen Laubhüttenfestes (Sukkot), eines ursprünglich anlässlich der Weinlese begangenen Festes, steht, ist ein alttestamentliches Fest angeklungen, das in seiner Sprach- und Bildwelt zur Interpretation von Leben und Werk Jesu Christi von überragender Bedeutung ist. Ähnliches gilt für das im Frühjahr begangene Passah-(Mazzot-)Fest, das ursprünglich ebenfalls eine Orientierung an der Natur hat, einerseits in Gestalt eines zu Beginn der Gerstenernte gefeierten Festes (vgl. Lev 23,6–10; Dtn 16,1), andererseits als ein von Hirten am Vollmond mit einem dämonenabwehrenden Blutritus gefeiertes Vollmondfest, und sekundär mit dem geschichtlichen Handeln Jhwhs im Exodus verbunden wurde (vgl. Ex 12). So dient das Passah-Mazzot-Fest nach seiner deuteronomistischen und priesterschriftlichen Deutung der Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten. In jedem Passah-Mazzot verwirklicht sich die Erfahrung der Freiheit, die sich zugleich zur Hoffnung auf eine endzeitliche Befreiung entwickeln kann, die im Bild eines neuen Exodus entfaltet wird (vgl. Jes 43,16–18).
Wenn im Neuen Testament das letzte Mahl Jesu als Passah-Mahl erscheint (vgl. Mk 14,12–26; Mt 26,17–30; Lk 22,7–23) oder Paulus Jesus Christus als Passah-Lamm bezeichnet (1Kor 5,7), dann wird die Passion Jesu zum neuen Exodus: Wie einst Israel aus Ägypten geführt wurde, so führt Jesus Christus aus der Knechtschaft der Sünde; wie Gott Israel einst aus der Sklaverei befreite, so befreite Gott Jesus Christus aus dem Tod. Damit ist die alttestamentliche Exodus-Typologie (s.o. 2.2.), die im Auszug aus Ägypten ein Vorbild |52|künftiger Erlösung Israels erblickt (vgl. Hos 2,17; 12,10; Mi 7,15; Jes 43,6), christologisch transformiert (vgl. Apk 15,3).