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|XI|Zur Einführung
ОглавлениеNatur ist im Trend, Natur ist überwunden, Natur ist elementar, Natur ist bedroht, Natur ist lebenswichtig, Natur ist ideologisch – diese aktuellen Aussagen zeigen exemplarisch, wie vielfältig Auffassungen von Natur sein können und wie wichtig es ist, sich über Natur und Naturbegriffe zu verständigen. Hierzu möchte dieses naturphilosophische Lehr- und Studienbuch einen integrativen Beitrag leisten. Im Zuge dessen wird die selbstreflektierende Frage gestellt, welchen Bereich die Naturphilosophie innerhalb der Philosophie, aber auch in interdisziplinären wie lebensweltlichen Kontexten umfasst und umfassen könnte.
Die Naturphilosophie gehört zweifellos zu den ältesten Denkrichtungen der Philosophie. Entsprechend groß ist ihr theoretisches wie praktisches Potenzial – nicht zuletzt wegen der zentralen Bedeutung, die der Begriff ‚Natur‘ in zahlreichen Diskursen und Debatten hat. Sich naturphilosophisch zu bilden ist deshalb in fast jedem Fach relevant. Für Studierende und Lehrende bietet die Naturphilosophie einen reichen Schatz an Analysewerkzeugen für das Naturdenken wie -handeln. Naturphilosophische Kenntnisse helfen aber auch beim Verständnis gesellschafts- und wissenschaftspolitischer Entwicklungen: von Naturschutzprojekten und Tourismuskonzepten bis hin zu Debatten um die Relevanz von Teilchenbeschleunigern angesichts deren hoher Kosten.
Hinweise auf Natur können Probleme, aber auch Problemlösungen markieren. Abhängig von der Verwendung kann ‚Natur‘ auf argumentative Differenz oder Einheit abzielen. Natur ist gleichsam überall, war vor uns da und wird es womöglich auch nach uns sein; sie ist Innen und Außen und „hat weder Kern noch Schale“. (Auf jene allgemeineren Deutungen kommen wir unten noch zurück.) Aber theoretisch wird Natur – und dies nicht nur in den Naturwissenschaften – immer mehr vereinzelt, verdinglicht und fachspezifisch bearbeitet und rückt dadurch letztlich in ein Nirgendwo. Vielleicht ist so das immer häufiger beklagte Desinteresse junger Menschen am Studium der Naturwissenschaften mitverursacht worden. Denn Natur wird eher dann als langweilig erachtet, wenn man sie – aus guten Gründen – als etwas immer schon Gesetzmäßiges oder Bekanntes darstellt. Man mag sich hier an Heraklit erinnern: „Die Natur liebt es, sich zu verbergen“ (DK 22 B123). Um wieder Lust an der Entdeckung und Erforschung der Natur zu haben, sollte sie immer auch als plural, vielfältig situiert, rätselhaft und spannend verstanden werden können. Nicht nur darin haben Naturphilosophie und Naturwissenschaft ein gemeinsames Anliegen.
In dieser Situation hat die gegenwärtige Naturphilosophie die Aufgabe, die Pluralität von Naturwahrnehmungen und Naturdeutungen mit ihren historischen Fundierungen im Spiel zu halten und zugleich, im Sinne von Orientierungswissen, Strukturen und Relationen des Naturwissens und Naturdenkens aufzuzeigen. Die Naturphilosophie markiert wirkmächtige Spuren, von denen in diesem Buch fast ausschließlich die sog. westlichen verfolgt werden konnten. Jene Spuren leiten die philosophische Suche nach |XII|Einheit in der Vielheit der Naturzugänge an – bei gleichzeitigem Wissen und Wollen, dass das Streben nach Einheit nur als Aufgabe verstanden werden kann und nicht als absolut zu erreichendes Ziel.
Zu dieser Aufgabe gehören auch kritische Hinweise auf sog. naturalistische Tendenzen. Damit sind Vereinheitlichungen von Naturbegriffen gemeint, etwa die Aufhebung von individuell, gesellschaftlich und kulturell unterschiedlichen Naturbegriffen durch Termini der Physik und der Biologie. Nicht selten werden derartige Homogenisierungen mit weitreichenden Deutungsansprüchen verbunden, die ganze Gesellschaften oder sogar die Menschheit an sich betreffen. Zwei theoretische Sollbruchstellen fallen dabei besonders ins Auge: erstens die Gleichsetzung des Begriffs ‚Geschichte‘ mit dem Begriff der (z.B. kosmo-, geo- oder biologischen) ‚Vergangenheit‘. Denn ‚Geschichte‘ bedeutet mehr als nur den Anfang eines abstrakten Zeitpfeils, der in die Zukunft gerichtet ist. „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur Rechenschaft über ihre Vergangenheit gibt“ (Johan Huizinga). Diese Aussage gilt nicht nur für die Philosophie und die Geschichtswissenschaft, sondern für alle Geisteswissenschaften, insofern sie sich immer auch als historische Wissenschaften verstehen. Die Naturphilosophie hat entsprechend die vordringliche Aufgabe, Natur in Form von Kategorien des Geistes abzuhandeln, d.h. als Idee, Begriff, Objekt, experimentell erzeugte Tatsache usw. Damit legt sie immer auch Rechenschaft über ihre eigene Vergangenheit ab und schreibt an ihrer Geschichte. Für das Nachdenken über Natur bleibt die Naturphilosophie auf überlieferte und aktuelle Texte ebenso angewiesen wie sie dafür sorgt, geschärfte Naturbegriffe und strukturierte Argumente zum Naturwissen für die Texte und das Nachdenken anderer Disziplinen zur Verfügung zu stellen; zuvorderst für die Naturwissenschaften, von deren Erkenntnissen sich die Naturphilosophie wiederum bewusst begeistern wie herausfordern lässt. – Die zweite theoretische Sollbruchstelle ist die Gleichsetzung des Menschen und seiner Existenz mit der biologischen Art Homo sapiens – einer Spezies, die ggf. sogar technisch überwunden werden könnte (Trans- bzw. Posthumanismus). Durch diese Verkürzung wird der Mensch, den vom Tier maßgeblich unterscheidet, dass ihm sein Menschsein zu verwirklichen wesentlich als Aufgabe gestellt ist, letztlich nur noch als oberstes der Säugetiere verstehbar. Er teilt dann mit den Tieren eine ‚natürliche‘ Vergangenheit, aber noch keine Geschichte/n mit anderen Menschen. So wird nicht zur Sprache gebracht, wie unterschiedlich der Mensch sich – qua Geist und Vernunft, qua Denken, Fühlen und Handeln – in ein Verhältnis zur Natur gesetzt hat, dies heute tut und auch in Zukunft zu tun gedenkt. Wichtig ist: Erst in Kombination jener beiden reduktionistischen Vorannahmen zu ‚Mensch‘ und ‚Natur‘ und damit auch zur Konstitution von ‚Welt‘ würde es vielleicht möglich zu denken, dass Natur auch nach uns da sein wird – weshalb wir im betreffenden Satz oben das vorsichtige „womöglich“ hinzu gesetzt haben. Die so zum Ausdruck gebrachte Vorsicht ist auch eine Anspielung auf den Titel desjenigen Buches, das in jüngster Zeit wie kein anderes zur internationalen philosophischen Debatte um den Naturbegriff und das dominierende Weltbild der Naturwissenschaften beigetragen hat: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist (engl. 2012, dt. 2013) von Thomas Nagel. Die beiden o.g. theoretischen Sollbruchstellen stehen dort im Fokus.
|XIII|Jener Argumentationskomplex soll wegen seiner Aktualität und gerade mit Blick auf jüngere und/oder mit Science Fiction-Erzählungen vertraute Leserinnen und Leser dieses Buches kurz erläutert werden. Dabei werden die eingangs genannten Aussagen über Natur z.T. kritisch wieder aufgegriffen. Denn wenn Natur „im Trend“ ist, dann stellt sich dabei stets die Frage, in welchen Weisen sie das ist. Angenommen, Teile der bisherigen Menschheit würden die Erde für immer verlassen und extraterrestrisch als Menschen weiterleben, so bliebe Natur zumindest elementar in irgendeiner Form da, z.B. wenn jene Menschen in sog. ‚Life-Support-Systemen‘ mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt würden. Natur wäre auch in dieser reduzierten Form lebenswichtig oder genauer: überlebenswichtig. Den extraterrestrischen Menschen blieben vielleicht auch Naturfotografien, die sie an die Geschichte der irdischen Vergangenheit ihrer Vorfahren erinnerten – wenngleich sich dies etwa so anfühlen würde, wie wenn wir heute Bilder historischer Landschaften betrachten. Wir erkennen sie als Spuren unserer eigenen Geschichte, ohne den zugehörigen Sinnhorizont, der für die Menschen in früheren Zeiten galt, wirklich verstehen zu können. Um sich diesen Sinnhorizont wenigstens annähernd zu erschließen, bedarf es Quellen und zugehöriger Geschichten, die vom Gewesenen Zeugnis ablegen und sinnstiftend für das Verständnis der Gegenwart sind. Im Falle des tiefgründigen Bedeutungshorizonts von Natur und der mit ihr verbundenen Begriffe und Ideen sind dies z.B. historische Quellen zu Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Wetterveränderungen und Überflutungen (inklusive Fossilien), zur vorindustriellen Landwirtschaft, zum japanischen Zen-Garten und Englischen Garten, zur jüdisch-muslimischen Medizin des Mittelalters, zur antiken Legitimation der Sklaverei, zur Entstehung von Albert Einsteins Relativitätstheorien, zur Schönheit von Landschaft und zur Erhabenheit des Himmels.
Aber die These, dass Natur, so wie wir sie bislang in all ihrer Pluralität verstanden haben, auch nach „uns“, d.h. nach der Menschheit, da sein und nicht ‚nur‘ sein würde, widerspricht folgender Annahme: Über Natur kann nur im Rahmen von Mensch-Natur-Verhältnissen und Mensch-Welt-Verhältnissen (wozu auch wissenschaftliche, technische und philosophische Verhältnisse gehören) nachgedacht werden. Dieser naturphilosophische Impetus findet sich von den Vorsokratikern und Aristoteles bis in die Neuzeit, z.B. bei Georg W.F. Hegel, Edmund Husserl, Ludwig Wittgenstein, Hannah Arendt, Paul Feyerabend und Thomas Nagel. Entsprechend kann von Natur in eben dieser gewohnten Weise auch nur von Menschen erzählt und können die Erzählungen auch nur von Menschen hinreichend verstanden werden. Das schließt nicht prinzipiell aus, dass mögliche andere Lebensformen Geschichten über Natur erzählen, aber weist darauf hin, dass es wohl keine mehr von „unserer“ Natur und dem plural gestalteten Verhältnis zu ihr sein werden. Betroffen wären davon auch die Ursprungs- und Schöpfungserzählungen in Mythos, Religion und Wissenschaft, die in vielfältiger Übereinstimmung davon ausgehen, dass es vor dem Menschen im Kosmos und auf der Erde etwas gegeben hat, was man in Bezug zum Begriff ‚Natur‘ setzen kann: das Chaos, das Tohuwabohu, den Himmel, das Wasser, die Pflanzen und Tiere, die Sonne, die Uratmosphäre, die Archaeen (von griech. arché für: Anfang), die Dinosaurier usw. Dass Natur vor uns da war ist deshalb, wenngleich nicht unproblematisch, eine weitaus weniger strittige Aussage, als dass sie nach uns (noch) da sein wird. Hinter diesen |XIV|Überlegungen verbirgt sich eine seit der Antike vieldiskutierte Problematik, die als sog. homo-mensura-Satz von Protagoras zu den Gründungsdokumenten der abendländischen Naturphilosophie zählt und aus dem 5. Jh. vor Christus stammt: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß (wie) sie sind, der nicht seienden, daß (wie) sie nicht sind“ (DK 80 B1).
Doch selbst, wenn man im Gedankenexperiment Außerirdische mit einschlösse in ein zukünftiges „Wir“, gälte es zu bedenken: Es gibt keinen archimedischen Standpunkt im Weltall, von dem aus das Verhältnis von Natur, Mensch und Welt im wahrsten Sinne des Wortes begreiflich gemacht werden könnte – so schon 1958 Hannah Arendt in Vita activa (Kap. 37). Er ist ein Nirgendwo, weshalb das oben gewählte Wort „womöglich“ (wird Natur nach uns da sein) in Bezug auf die Aussage sogar sinnlos sein könnte. Hinzu kommt der philosophische Zweifel an einer temporal ungebrochenen Kontinuität von Natur als innerlich und dabei gleichzeitig äußerlich Vorgestelltes. Denn wenn die Natur des Menschen in den Gedankengebäuden des Transhumanismus als überwunden oder zumindest überwindbar postuliert wird, entsteht die Frage, wieso dies nicht auch die Vorstellung von der äußeren Natur, z.B. als Umwelt oder Landschaft, betreffen sollte. Transhumanistische Existenzen würden ja, wenn, dann eine andere körperlich-leiblich-geistige und somit auch eine andere innere Natur haben und deshalb wohl auch eine andere äußere Natur konzipieren – und umgekehrt. Und während wir uns von diesem Gedanken faszinieren lassen, der mit dem dystopischen Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (engl. 1968) von Philip K. Dick Teil der Weltliteratur geworden ist, gilt trotzdem: Die innere Natur des Menschen, das Selbstempfinden und -bewusstsein, ist alles andere als verstanden. Meist wird unterschätzt, dass „wir große, komplizierte Fälle von etwas sind, das objektiv physikalisch von außen und subjektiv mental von innen ist“ (Thomas Nagel). – Bezogen auf die berechtigte Mahnung, dass Hinweise auf ‚Natur‘ und auch ‚Mensch‘ als Vehikel von politischen Ideologien dienen oder dienen könnten, wäre demnach zu ergänzen: Umgekehrt sind unterlassene Hinweise auf ‚Natur‘, insb. in Verbindung mit der Vision von der Überwindung des Menschen, derselben Gefahr ausgesetzt. Von dieser Warnung ist auch der jüngere Ökologie-Diskurs nicht auszunehmen, insofern er sich die Metapher vom „Raumschiff Erde“ teilweise zu eigen gemacht hat, um allerdings gerade darauf hinzuweisen, dass die globale Natur bedroht ist – womit Krise und Fortschritt in einem Ausdruck vereint worden sind.
Und schließlich ergibt sich in jenem Argumentationskomplex ein logisches Problem: Wenn ‚die Natur‘ ‚die Welt‘ bedeuten und diese ‚das Weltall‘ als Ganzes meinen soll, wie kann es dann überhaupt noch eine Um-Welt geben? So bewahrheitet sich Johann W. von Goethes berühmte Aussage „Natur hat weder Kern noch Schale“ auch angesichts von zeitgenössischen Kosmologien und ihren Modellierungen, die im Spannungsfeld von Materialität und Virtualität stehen. Aus naturphilosophischer Sicht bleibt also fraglich, ob mit den immer populärer werdenden Visionen von einer transhumanistischen Existenzweise im All, d.h. mit einer die bisherige Natur ablösenden Lebensform nach Maßgabe der Technik, etwaige Entsprechungen zu Mensch-Natur-Verhältnissen auch nur annähernd begründet werden könnten. Gleichwohl erscheint es den Herausgeberinnen und Herausgebern dieses Lehrbuchs wichtig, im Angesicht |XV|jener aktuellen Visionen und Deutungen zu philosophieren und sie als Optionen des Nachdenkens über Natur nicht auszuschließen.
Dieses Unterfangen ist gerade deshalb ambitioniert, weil auch die Philosophie von den modernen Fragmentierungs- wie Homogenisierungstendenzen nicht verschont geblieben ist, ja sie sogar mit befördert hat. Die westliche Philosophie des 20. Jhs. wurde – auch jenseits von Deutschland – damit konfrontiert, dass ihre altetablierten Lehrstühle für Naturphilosophie entweder verschwanden oder bevorzugt in solche für Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, alternativ auch für Erkenntnistheorie bzw. Philosophie des Geistes, umgewidmet wurden. Dabei sind klassische Problemstellungen der Naturphilosophie, wie die schon in der Antike wichtigen Fragen nach Welt, Raum und Zeit, in alternative Denkarchitekturen eingeordnet worden. Die Folgen zeigen sich nun im 21. Jh. verstärkt. Sie wären nicht zu beanstanden, wenn bei jenen Transformationen die naturphilosophisch etablierten Begriffe und Konstellationen an die wichtigen Traditionen ihrer Genese und Verwendung anschlussfähig gehalten worden wären. Diese Begriffe und Konstellationen sind nämlich zum großen Teil bis in die Gegenwart bedeutsam: und zwar von Weltbildern bis zu Naturrechtsdebatten, von Materiekonzepten bis zum physikalischen „Teilchenzoo“, von Körperpraktiken bis zu Ernährungsstilen, von ästhetischen Naturidealen bis hin zum Konzept eines regulierbaren Naturhaushalts. Sie werden auch gebraucht zur Erfassung der noch nicht historisch sedimentierten Mensch-Natur-Verhältnisse etwa bezüglich der Antarktis und der Tiefsee, die jüngeren Datums sind und eine hohe Dynamik aufweisen.
Aber wenngleich das naturphilosophische Erbe an zahlreichen Hochschulen durchaus inhaltlich bearbeitet wird und teilweise nur unter anderem Namen figuriert, z.B. unter Philosophische Anthropologie, Ästhetik, Wissenschaftsphilosophie oder Tierethik, ist doch eine Vakanz historisch-systematischer Überblicksdarstellungen zur Naturphilosophie entstanden. Benötigt werden insb. Überblicksdarstellungen, welche die Historie mit einem aktuellen Frage- und Problemhorizont der Auseinandersetzungen um Natur und ‚Natur‘ verknüpfen. Vor allem in der schulischen und universitären Lehre macht sich diese Leerstelle seit längerem bemerkbar.
Aufgrund dieser Desiderate in Lehre und Forschung haben sich die Herausgeberinnen und Herausgeber vor einigen Jahren versammelt, um in einer ständigen Arbeitsgruppe miteinander in Dialog zu treten und dieses Lehrbuch für den Unterricht, aber auch zum Selbststudium zu entwickeln. Als Autorinnen und Autoren wurden auch ausgewiesene Experten jenseits des Herausgeberkreises eingeladen. Für die beabsichtigte Vielstimmigkeit war und ist die Überzeugung leitend, dass die Naturphilosophie mit ihrer reichhaltigen Vergangenheit ihrerseits Zukunft hat. Sie kann ihr Potenzial auch für Fächer jenseits der Philosophie entfalten, z.B. für die Pädagogik, die Soziologie, die Psychologie, die Literaturwissenschaft, die Kunstgeschichte, die Theologie, die Mathematik und – nur scheinbar selbstverständlich – für die Naturwissenschaften. Umgekehrt tragen all jene und weitere Wissenschaften dazu bei, die Naturphilosophie immer wieder neu herauszufordern. Deshalb wurde dieses Lehr- und Studienbuch zwar vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich von Philosophinnen und Philosophen geschrieben.
|XVI|Das Buch ist in vier Sektionen gegliedert:
1 Sektion I „Geschichte und Systematik“ bietet anhand repräsentativer Konstellationen und Personen Einblick in die reichhaltige Tradition der westlichen Naturphilosophie von der Antike bis in die Gegenwart. Dabei wird die Verschränkung von Geschichte und Systematik der Naturphilosophie deutlich.
2 In Sektion II „Grundbegriffe der Naturphilosophie“ werden ausgewählte fundamentale Begriffe mit ihren Bedeutungstraditionen und gegenwärtigen Semantiken vorgestellt. Das Spektrum der Grundbegriffe reicht dabei von ‚Natur‘ bis ‚Mensch‘. Es bildet einen perspektivischen Horizont für die Frage, welche Begriffe zu welcher Zeit und aus welchen Gründen ihre Bedeutung eher in wissenschaftlichen oder eher in nichtwissenschaftlichen Kontexten erlangen. (Zu weiteren Begriffen s. www.naturphilosophie.org.)
3 Sektion III rückt „Naturverhältnisse“ in den Mittelpunkt, d.h. den relationalen Charakter des Sprechens über, des Umgangs mit und des Verstehens von Natur sowie der damit verbundenen Beziehungs- und Deutungsmuster. Natur wird in Form von gesellschaftlichen Naturverhältnissen verhandelt, die von leiblichen und ästhetischen über u.a. experimentelle und erzählende bis hin zu geschlechtlichen und religiösen Naturverhältnissen reichen – und zuletzt das Mensch-Natur-Verhältnis als solches in Frage stellen.
4 Sektion IV schließlich behandelt „Naturphilosophie in der Praxis“ und damit Naturbezüge, die v.a. jenseits des Labors greifen und für weitreichende Debatten sorgen, z.B. wenn in Film und Fernsehen, in Schule und Küche, im Naturschutzgebiet und Waldkindergarten, auf dem Acker und beim Spaziergang Natur sinnstiftend vermittelt, praktisch behandelt und auch immer wieder neu verhandelt wird. Im Lichte naturphilosophischer Reflexionen zeigen sich an diesen Naturbezügen konfliktträchtige, z.T. widersprüchliche und sogar paradoxe Umgangsweisen mit Natur: z.B. die Sehnsucht nach Wildnis und die Faszination für die „unendlichen Weiten“ des Weltalls bei oft gleichzeitiger Unterschätzung der alltäglichen Technisierungen von Natur in Folge von industrialisierter Landwirtschaft und Tierhaltung. Damit wird auch ein kritischer Blick auf aktuelle Ökonomien der Aufmerksamkeit für ‚die‘ Natur gelenkt. In guter philosophischer Tradition mögen die gegebenen Hinweise auf Paradoxien und Widersprüchlichkeiten Anlass zum Nachdenken und zur Selbstreflexion bieten.
Mit diesem Aufbau werden vier unterschiedliche, jedoch miteinander verknüpfte Zugänge zur Naturphilosophie angeboten. Die Lektüre kann in jedem Kapitel des Lehr- und Studienbuches beginnen und von dort, unterstützt durch die Querverweise zwischen den Kapiteln, vertieft und erweitert werden. Weiterführende naturphilosophische Literatur ist, ohne Vollständigkeit anzustreben, jeweils am Ende der Kapitel genannt.
Danken möchten wir den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und ferner dafür, dass sie sich im Rahmen des mehrstufigen Begutachtungsverfahrens auf den aufwändigen Abstimmungsprozess bei der Konzeptualisierung wie auch der |XVII|Finalisierung des Lehr- und Studienbuchs eingelassen haben. Den anonymen Gutachterinnen und Gutachtern danken wir für ihre wertvollen Kommentare und Hinweise.
Wir danken dem Verlag Mohr Siebeck für die umsichtige Betreuung des Lehrbuchs. Für das sprachliche Lektorat danken wir Ariane Filius. Für umfangreiches Korrekturlesen und/oder Kommentieren sind wir darüber hinaus Alfred Dunshirn, Anna Katharina Göb, Claudia Güstrau, Sascha Kühlein, Uwe Lammers, Jochen Litterst, Sophie Nadolski, Fabian Ott und Steffen Stolzenberger zu Dank verpflichtet.
Das Lehrbuch wurde durch die sechsjährige Arbeitsgruppe „Natur begreifen – Natur schützen“ an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V., Institut für interdisziplinäre Forschung (FEST), in Heidelberg konzipiert, die anfänglich von Gerald Hartung, dann von Thomas Kirchhoff geleitet wurde. Als Zwischenergebnis der Arbeitsgruppe und Vorarbeit zu diesem Lehr- und Studienbuch ist 2014 die Anthologie Welche Natur brauchen wir? Analyse einer anthropologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts erschienen.
Ohne die finanzielle Förderung der obigen Arbeitsgruppe durch die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V., Institut für interdisziplinäre Forschung (FEST), in Heidelberg im Rahmen ihrer Grundfinanzierung durch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) wäre es nicht möglich gewesen, dieses Lehr- und Studienbuch zu konzipieren und herauszugeben.
Das Buch hat reges Interesse in Forschung, Lehre und Medien gefunden, so dass nach nur drei Jahren eine zweite Auflage erscheint. Sie wurde aktualisiert und auf Tippfehler durchgesehen. Unsere Einleitung und mit ihr das Buch sind durch die gesellschaftlichen Entwicklungen mehr denn je aktuell: Über Natur lässt sich nur in Mensch-Natur-Verhältnissen und in Kenntnis von Naturbegriffen sinnvoll nachdenken. Deshalb wurde im letzten Jahr, ergänzend zu diesem Buch, das Projekt „Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online Lexikon Naturphilosophie“ initiiert, an dem zahlreiche Autorinnen und Autoren dieses Buches beteiligt sind und in dem sukzessive frei zugängliche Artikel zu naturphilosophischen Begriffen versammelt werden sollen.
Thomas Kirchhoff und Nicole C. Karafyllis für die Herausgeberinnen und Herausgeber
Heidelberg und Braunschweig im Januar 2020