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Оглавление|5|I.1.A Kosmos und Universum:
Chaos, Logos, Kosmos
Nicole C. Karafyllis und Stefan Lobenhofer
1. Chaos und Mythos[1]
Der griechische Philosoph Epikur (341–271 v. Chr.) habe sich einst der Philosophie zugewandt, weil ihm sein Lehrer den Ausdruck „Chaos“ bei Hesiod nicht erklären konnte (DL X, 2). Mit dieser Anekdote bringt der Philosophiehistoriker Diogenes Laertius (3. Jh.) im Buch Leben und Meinungen berühmter Philosophen ein gängiges Motiv in die Anschauung: Philosophieren beginnt mit dem Staunen über die Welt (vgl. Aristoteles, Metaphysik I 982b11f.). Begleitet wird das Staunen von der Unzufriedenheit mit bestehenden Deutungsversuchen, von der Suche nach vernünftigen Erklärungen. In der Person Epikurs verbindet Diogenes das Thema des Anfangs der Welt im Chaos mit dem Anfang der Philosophie. Dies geschieht auch bildlich, denn das Staunen begegnet uns mit offenem Mund – und das griechische Wort „Chaos“ meint wörtlich einen klaffenden Schlund oder Abgrund. Beim Aussprechen sagt man wie beim Staunen ein langgezogenes „A“ und „O“, was die Bedeutung lautmalerisch unterstreicht und an Anfang und Ende des griechischen Alphabets erinnert. Aber was am Chaos machte Epikur unzufrieden?
Eine Antwort ist: seine Unermesslichkeit und damit die Schwierigkeit, das Chaos vernünftig zur Sprache zu bringen – und somit zum Logos. Denn das Chaos meint, modern ausgedrückt, die Grenze der Dimension. Über sie wird in Hesiods Mythos jedoch nichts gesagt. Der Dichter Hesiod (ca. 700 v. Chr.) hatte einst die Theogonie geschrieben, ein Epos über die Entstehung der Götterwelt, in der das Chaos den Urzustand des Kosmos darstellt. Hesiod lässt die Musen über den Anfang der Weltentstehung (Kosmogonie) singen:
„Wahrlich, als das Allererste [prṓtista[2]] entstand Chaos und danach
Gaia mit ihrer breiten Brust, ein immer sicherer Sitz für alle Gottheiten,
die den Gipfel des schneebedeckten Olymp bewohnen,
und die finsteren Abgründe in der Tiefe der breitstraßigen Erde,
Und Eros, der Schönste unter den unsterblichen Göttern,
Der Gliederlöser, der bei allen Göttern und Menschen,
Bezwingt den denkenden Sinn [nóon] und den verständigen Willen in ihrer Brust.
|6|Aus Chaos entstanden Erebos und schwarze Nacht [Nýx]
Aus der Nacht dann wieder Äther und Tag [Heméra],
Die sie [= Nýx] gebar schwanger vom Erebos, mit dem sie sich in Liebe verband.
Gaia aber brachte zuerst hervor den mit ihr gleich weiten
Uranos, den gestirnten, dass er sie überall einhülle,
Damit er sei den seligen Göttern ein sicherer Sitz für immer.“[3]
Aus dem Chaos entstehen per Spontangeneration die ersten Gottheiten als Ordnungsinstanzen der Natur: Erde (Gaia → III.9), Liebe (Eros), Nyx (schwarze Nacht) sowie Erebos (unterweltliche Finsternis) und Tartaros, das äußerste Ende der Unterwelt.
Epikurs Unzufriedenheit ist verständlich: Ist das Chaos das „Nichts“? Ist es „etwas“? Wie kann aus dem Nichts überhaupt die Welt bzw. der Kosmos entstehen? Ist die Welt wesentlich materiell oder immateriell aufgebaut? Abgesehen von der letzten Frage, die Epikur zugunsten einer materiellen Welt aus ewigen und unteilbaren „Atomen“ beantwortet sehen wird, haben die Philosophen offenbar seit den Mythen von Homer und Hesiod keine zufriedenstellenden Antworten auf die metaphysischen Fragen geben können. Eingedenk der Grundprobleme vom Sein und seinem Anderen – dem Seienden einerseits, dem Nichts andererseits – besteht dieses vermeintliche Manko auch heute noch. Dies gilt trotz der Fortschritte der neuzeitlichen Physik (→ II.3–II.6; IV.7) und trotz der sog. Chaostheorien, d.h. Theorien der Selbstorganisation (→ II.8), weil diese das Problem der Grenze nicht lösen können und deshalb logisch meistens eine erste Innerlichkeit des Alls (ein Selbst) unterstellen. Jenes Problem wird schon deutlich am Begriff ‚Universum‘, der wörtlich „das in Eins Gekehrte“ bedeutet. Und das Gesagte zum Fortbestand der Problematik gilt ferner trotz der Popularität des Ausdrucks „Medium“ im poststrukturalistischen Philosophieren der Gegenwart, in dem das Chaos seine Spur als Wandelndes ohne Grund hinterlassen hat.
Epikur wollte am Anfang seines Philosophierens Hesiods Ausdruck „Chaos“ verstehen, verbarg sich doch dahinter die Frage nach dem Urgrund allen Seins, aber auch die nach dem ewigen Abgrund. Hesiods Sukzessionsmythos von der Weltentstehung als sich abwechselnd zeugende und vernichtende Göttergenerationen macht die zwei gegensätzlichen kosmischen Prinzipien von Liebe und Streit, von Einheit und Differenz erzählerisch verstehbar (→ III.7). Das aus dem Chaos entsprungene Geschwisterpaar Gaia und Eros zeugt Uranos (den Himmel) und Okeanos, den kreisrunden Strom. Damit ist der Horizont als Grenze gebildet. Himmel und Meer umfließen die Erde, die als gebirgige und unterhöhlte Scheibe in einer Weltmitte gedacht ist. Zwei andere Kinder des Chaos, Nyx und Erebos, zeugen die Luft (Aether) und den Tag (Hemera), womit das Dunkle als vorgängig zum Hellen verstehbar wird. Der Kosmos entsteht also schrittweise und ohne das Chaos letztlich zu überwinden oder von der Welt abzulösen.[4] Dabei sind die göttlichen Naturen bereits normativ entlang einer vertikalen Achse von Gut (oben) und Schlecht (unten) geordnet. Eine sich zum Himmel |7|orientierende Oberwelt, die Welt der Schönheit und des Lichts, scheidet sich von der Unterwelt mit ihrer göttlichen Strafe und ewigen Finsternis. Dorthin werden nach dem Kampf der Titanen die Feinde des Zeus verbannt. All dies geschieht lange vor der Schaffung des Menschen.
Die religiöse Strömung der Orphiker liefert eine andere einflussreiche Weltentstehungsgeschichte, die u.a. von Platon (vgl. Philebos 66c) aufgegriffen worden ist. Am Anfang der musikalisch-poetisch („harmonisch“) strukturierten Welt war die Nacht. Darauf entstanden die Zeit (Chronos) und die Zwangsläufigkeit (Ananke), aus denen wiederum Chaos und Aether entstanden. Chronos erschafft im Aether das Weltei, aus dem Phanes (spätantik: Eros) entspringt. Wie immer es auch gewesen sein mag: Die Entstehung der Welt bleibt wörtlich im Dunklen. Dies gilt auch für die zeitlich noch vor Hesiod anzusiedelnden Epen Ilias und Odyssee des Dichters Homer, die vom bereits geordneten Zeus-Kosmos kundtun. Die Götter sind für einzelne Elemente und Naturphänomene zuständig und können sich und die Menschen morphisch wandeln. Dabei ist die göttliche All-Natur nicht scharf von der Natur der einzelnen Götter und Dinge zu trennen. Natur wirkt in Form von göttlichen Über-Naturen und Naturgewalten und ist dabei den Menschen auch Zeichen ihres Schicksals.
Beim Mythos handelt es sich demnach um eine Darlegung religiöser Naturverhältnisse (→ III.8). Weil aber etwa Odysseus mit List (téchnē) die göttliche Natur manchmal zu überwinden vermag und als Individuum frei handelt, wird die Odyssee auch als „Grundtext der europäischen Zivilisation“ und im Sinne aufklärerischen Denkens gesehen (Horkheimer/Adorno 1944/1969), denn der Mythos macht einen Möglichkeitsraum für den Logos auf. So finden sich auch in der heutigen Kosmologie und Elementarteilchenphysik noch symbolische Anklänge an das mythische Chaos: z.B. die Dominanz des Dunkels als hypothetisch angenommene, aber bislang nicht messbare „Dunkle Materie“ (→ II.6); ferner das Weiterbestehen des ursprünglichen „Chaos“ im Kosmos in Form der Mikrowellenhintergrundstrahlung, des ersten Lichts, das relativ kurz nach dem Urknall vor 14 Mrd. Jahren entstanden ist. Und auch bei den physikalischen Aussagen über „Vernichtungsschlachten“ von Materie und Antimaterie am Anfang des Universums mag man an Hesiods Göttergenerationen denken, die sich auf einen einfachen Anfang (Singularität) zurückführen lassen, selbst wenn er heute nicht als Chaos, sondern als Punkt gedacht wird.
Mythos und Logos bilden verschiedene Weisen des Erklärens und Verstehens (→ III.6), die parallel existieren. Es gibt keine lineare Fortschrittsgeschichte des Denkens, wonach der Mythos durch den Logos eindeutig abgelöst worden wäre. So wird noch lange nach Hesiod das Chaos bevorzugt dichterisch in die Anschauung gebracht. Und auch, wenn der Ausdruck schon im Griechischen als Gegensatz zur geordneten Welt des Kosmos verstanden wurde, wird er doch erst durch den römischen Dichter Ovid (43 v. Chr.–ca. 17 n. Chr.) explizit als Zustand der Unordnung oder Verwirrung (lat.: confusio) besungen (Metamorphosen I, 5–9).
Der Frage nach dem Chaos ausweichen und auf jegliche Metaphysik verzichten zu wollen ist verführerisch, hat aber Konsequenzen. Mit dem Hellenisten Epikur ist bereits ein Denker aufgetreten, der sich von seiner jugendlichen Frage nach dem Chaos ganz verabschiedet und stattdessen die Materie als ungeschaffen und ewig erachtet. |8|Er postuliert die in einem unendlichen Raum unendlich vielen, sich bewegenden „Atome“ (s. Schmidt 2007: 91–118). Dies mutet heute modern an (→ II.7), bedeutete aber für Epikur, auch den griechischen Göttern, die ihn nicht interessierten, eine teilweise materielle Natur zuschreiben zu müssen und somit die Theologie in seine Physik einzugliedern (s. Sedley 2007). Einen umgekehrten Weg beschritt das Christentum. Im lateinischen Kontext wird spätestens seit dem Kirchenvater Aurelius Augustinus (354–430) die Frage nach dem anfänglichen Urgrund in den starren Gegensatz von Form und Materie gezwängt, den es so im griechischen Denken nicht gibt. Er stellt das Chaos gemäß neuplatonisch-christlichem Weltbild als geschaffene Urmaterie dar und belegt es mit den Attributen „confusa et informis“ (zusammengemischt und ungestaltet). Nach Augustinus entstand der Kosmos nicht in der Zeit, sondern durch Gottes Schöpfung mit der Zeit (lat.: cum tempore). ‚Physik‘ wird in eine sog. Natürliche Theologie eingegliedert. So kann man eingedenk der biblischen Schöpfungserzählung der großen Provokation ausweichen, die das mythische Chaos bietet: dass es eine Zeit gegeben haben könnte, in der Gott noch nicht war (weiterführend Lobenhofer 2019).
Für die Philosophie hingegen bietet Hesiods „Chaos“ Anlass zum Aufbruch, um über die Natur von Raum und Zeit und über die Strukturen des Kosmos nachzudenken. Die nun in Abschnitt 2 zu erläuternden Vorsokratiker verbinden die Unklarheit des anfänglichen Grundes mit der Frage nach dem Logos im Rahmen naturphilosophischer Betrachtungen,[5] was für das aristotelische Denken (Abschn. 3 u. 4) erkenntnisleitend wird. Aristoteles wird die Existenz des Chaos zurückweisen, aber auch die eines Schöpfergottes. Die Philosophie trifft damit in ihrem Anfang eine wegweisende Entscheidung: Mit ihrem Ziel, „alles verständlich zu machen“, postuliert sie auch, „dass die Naturvorgänge verständlich sind. […] Sie ist daher gehalten, sich nach dieser Annahme zu richten, sei sie nun wahr oder nicht. Sie ist eine verzweifelte Hoffnung. Aber soweit der Naturprozess verständlich ist, ist der Naturprozess mit dem Vernunftprozess identisch“ (Peirce [1890] 1991: 133).