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2. Der Materialismus-Streit

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Das Auseinandertreten von Naturwissenschaften und Philosophie, das v.a. der Philosophie Friedrich W.J. Schellings (1775–1854) und Georg W.F. Hegels (1770–1831) angelastet wird (→ I.6), gilt, neben dem generellen Erfolg der Naturwissenschaften, als Grund für die Entstehung des naturwissenschaftlich geprägten Materialismus des 19. Jhs. An ihm entzündet sich ein überaus virulenter und weitläufig, oftmals in Form von öffentlichen Briefen, aber auch auf Tagungen ausgetragener „Streit zwischen |67|verschiedenen Facultäten des Menschen“ (Feuerbach 1866: 121), der wegen der Schärfe der Polemik den Titel eines Kampfes zu Recht trägt.

Die Streitfrage ist nicht, ob ein auf den Methoden der Naturwissenschaften basierender Materialismus wissenschaftlich zu begründen und zu rechtfertigen ist, sondern ob der methodische Materialismus entweder restriktiv oder dogmatisch zu verstehen ist. Auf einen klar umrissenen Bereich der Naturwissenschaften beschränkt lässt er Raum für andere Erklärungsarten, seien sie religiöser, weltanschaulicher, ästhetischer oder anderer Art. Dogmatisch verstanden ist er konsequent auch auf Gegenstände anzuwenden, die traditionellerweise nicht dem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften zugerechnet werden. Dazu zählen vornehmlich Gott und Seele, deren Existenz sich auf der methodischen Grundlage des naturwissenschaftlichen Materialismus nicht beweisen lässt. Fragwürdig ist jedoch, ob sich darüber hinaus ihre Nicht-Existenz naturwissenschaftlich beweisen lässt und die Seele nichts weiter als eine Fiktion, ein Wahngebilde ist, wie der Physiologe Carl Vogt (1817–1895) behauptet. Vogts Widerredner, allen voran Rudolph Wagner (1805–1864), halten den Versuch, die Annahme einer Seelensubstanz auf der Grundlage der Physiologie zu widerlegen, für eine Überschreitung vom Gebiet der Physiologie in das Gebiet der Weltanschauung. Vogt wird dementsprechend wahrgenommen als „Stifter einer neuen Weltanschauung“ (Frohschammer 1855: 1), die den methodischen Materialismus der Naturwissenschaften auf eine Ontologie ausweite und den naturwissenschaftlichen Materialismus zu einem Monismus erhebe.

Der Streit wird nicht zuletzt deshalb so heftig geführt, weil die Konsequenzen einer materialistischen Weltanschauung, die „so vollständig die Grundlagen unseres sittlichen und religiösen Lebens in Frage“ (Schleiden 1863: 5) stellt, gefürchtet werden. Vor dem Hintergrund der politischen Situation ist die Befürchtung der Untergrabung oder Unterwanderung der Gesellschaft durch eine auf den Grundlagen der Naturwissenschaften sich stützende materialistische Weltanschauung nicht unbegründet. Nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848 ist eine offene, politische Konfrontation aussichtslos, so dass sich der Weg zum gesellschaftlichen Fortschritt über die Popularisierung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, wie etwa einer Lehre der Nahrungsmittel für das Volk (Moleschott 1850), anbietet. Die Popularisierung ist insofern erfolgreich, als sie eine Diskussion eröffnet, die nicht in den Räumen der Fachgelehrten verbleibt, sondern weite Teile der Gesellschaft erreicht. Es sind Aussagen wie „Ohne Phosphor kein Gedanke“ (ebd.: 115) oder „daß die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren“ (Vogt 1847: 206), die, zumeist aus dem Zusammenhang gerissen, für heftige Reaktionen sorgen. Auch wenn die populären Texte der naturwissenschaftlichen Materialisten weder stilistisch noch inhaltlich besonders beeindrucken, so weiß z.B. Vogt vorsichtiger zu argumentieren, als die populäre Rezeption nahelegt. Das lässt sich schon an seinem berühmt-berüchtigten Vergleich von Nieren- und Gehirnprodukten nachvollziehen, den Vogt in den Kontext des Eingeständnisses von „Unwissenheit“ (ebd.: 205) und ungelösten Rätseln stellt und nicht mit dem Anspruch grenzenlosen Naturerkennens verknüpft.

In der Diskussion der viel drängenderen Frage, „ob alle Gedanken auf diesen uropoetischen Wegen entstehen sollten“ (Lotze 1852: 43), wird geflissentlich überlesen, |68|dass Vogt nicht weiter gehen will, als Erfahrung und Versuch ihn führen, und darüber hinaus die eigene Unwissenheit eingestanden wissen will: „Was man deßhalb auch von den Beziehungen der Gehirnsubstanzen zu den Nervenverrichtungen sagen möge, es ist besser, hier unsere Unwissenheit zu gestehen und nicht weiter zu gehen, als die Erfahrung und der Versuch uns geführt haben. Noch viel weniger können wir von der Beziehung der Geistesthätigkeiten zu dem Gehirne sagen; wenn auch Gall’sche Phrenologie[12] und Carus’sche Cranioskopie[13] die Räthsel gelöst zu haben sich brüsten. Ein jeder Naturforscher wird wohl, denke ich, bei einigermaßen folgerechtem Denken auf die Ansicht kommen, daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelenthätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um mich einigermaßen grob hier auszudrücken, daß die Gedanken in demselben Verhältniß etwa zu dem Gehirne stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren. Eine Seele anzunehmen, die sich des Gehirnes wie eines Instrumentes bedient, mit dem sie arbeiten kann, wie es ihr gefällt, ist ein reiner Unsinn; man müßte dann gezwungen seyn, auch eine besondere Seele für eine jede Funktion des Körpers anzunehmen und käme so vor lauter körperlosen Seelen, die über die einzelnen Theile regierten, zu keiner Anschauung des Gesammtlebens. Gestalt und Stoff bedingen im Körper überall die Funktion und jeder Theil, der eine eigenthümliche Zusammensetzung hat, muß auch nothwendig eine eigenthümliche Funktion haben“ (Vogt 1847: 205f.).

Der Materialismus-Streit ist kein Streit unter Fachgelehrten. Es ist ein Streit um Weltanschauungen, um die Deutungshoheit „unserer“ Natur. Eine heftig bestrittene Strategie der Schlichtung ist das von Wagner (1854: 20) als „doppelte Buchführung“ bezeichnete Parallelgehen von naturwissenschaftlich begründetem Wissen und dem Glauben an eine moralische Weltordnung, der allein ihn zur Annahme der Existenz der Seele nötigt. Diese doppelte Buchführung soll den Übergang von einem methodischen Materialismus auf eine streng monistisch aufgefasste materialistische Ontologie verhindern. Eine mögliche Einheit der Weltsicht wird damit konterkariert, so dass es zum „Kampfe zwischen Glauben und Wissen“ kommt (Henle 1876: 23).

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