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3. Der Darwinismus-Streit
Оглавление1859 erscheint Charles Darwins (1809–1882) Werk On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, das ein Jahr später in deutscher Übersetzung vorliegt und von den naturwissenschaftlichen Materialisten überaus positiv aufgenommen wird. Es vergeht keine Woche, wie Darwin beinahe amüsiert bemerkt, „without my hearing of some naturalist in Germany who supports my views, & often puts an exaggerated value on my works“ (Darwin [1870] 2010: 141). Nicht die übertriebene Wertschätzung der Theorie Darwins, sondern ihre weltanschauliche Vereinnahmung provoziert den Widerspruch erklärter |69|Anti-Darwinisten und trägt die Auseinandersetzung um Darwins Werk aus dem Kreis der Naturforscher hinaus. Aber auch als naturwissenschaftliche Theorie, frei von weltanschaulichen Implikationen, steht Darwins Werk zunächst mehrheitlich in der Kritik.
In der zweiten Auflage von On the Origin of Species, die der deutschen Übersetzung durch Heinrich G. Bronn zugrunde liegt, geht Darwin darauf ein und sucht in einer knappen Zusammenfassung seine Überlegungen zu untermauern: „Ich läugne nicht, dass man viele und ernste Einwände gegen die Theorie der Abstammung mit fortwährender Abänderung durch Natürliche Zuchtwahl vorbringen kann. Ich habe versucht, sie in ihrer ganzen Stärke zu entwickeln. Nichts kann im ersten Augenblick weniger glaubhaft scheinen, als dass die zusammengesetztesten Organe und Instinkte ihre Vollkommenheit erlangt haben sollten nicht durch höhere und doch der menschlichen Vernunft analoge Kräfte, sondern durch die blosse Zusammensparung zahlloser kleiner aber jedem individuellen Besitzer vortheilhafter Abänderungen. Diese Schwierigkeit, wie unübersteiglich gross sie auch unsrer Einbildungs-Kraft erscheinen mag, kann gleichwohl nicht für wesentlich gelten, wenn wir folgende Vordersätze zulassen: dass Abstufungen in der Vollkommenheit eines Organes oder Instinktes, welches Gegenstand unsrer Betrachtung ist, entweder jetzt bestehen oder bestanden haben, die alle in ihrer Weise gut waren; – dass alle Organe und Instinkte in, wenn auch noch so geringem Grade, veränderlich sind; – und endlich, dass ein Kampf ums Daseyn bestehe, welcher zur Erhaltung einer jeden für den Besitzer nützlichen Abweichung von den bisherigen Bildungen oder Instinkten führt. Die Wahrheit dieser Sätze kann nach meiner Meinung nicht bestritten werden“ (Darwin 1860: 492f.).
Darwin lässt an die Stelle einer theologischen Schöpfungsgeschichte eine natürliche Schöpfungstheorie treten, die das Rätsel der Entstehung neuer Arten, nicht aber das der Entstehung des Lebens überhaupt, naturwissenschaftlich zu lösen beansprucht. Wird Darwins Theorie anfangs v.a. in England „als eine vorübergehende naturphilosophische Träumerei verspottet“ (Haeckel [1868] 1878: 4), so wird ‚Entwicklung‘ bald zum „Zauberwort“ (Haeckel [1868] 1873: VI), das zur Lösung aller noch ausstehenden Rätsel herangezogen wird. Es ist demnach weniger der Geltungsanspruch, als naturwissenschaftliche Theorie ernstgenommen zu werden, als die „Prätension, das Räthsel alles Daseins gelöst zu haben“ (Zittel 1871: 147), und die damit einhergehenden weltanschaulichen Implikationen, die die Theorie Darwins zum populärsten Streitthema der Zeit werden lässt.
Die weltanschauliche Wendung eines biologischen Erklärungsversuchs war nicht zuletzt deshalb so überaus erfolgreich, weil einerseits der Begriff der Entwicklung nicht so neu war, wie es durch die Darwinisten kolportiert wurde, und andererseits der Begriff der Entwicklung keine einheitliche Verwendung fand. Analog der Darwin’schen Theorie, die nicht als ein Singuläres, sondern als ein Konglomerat verschiedener Theorien zu begreifen ist, ist auch der Begriff der Entwicklung selbst als eine Gemengelage unterschiedlichster Begriffe und ihrer Konnotationen aufzufassen. Das, was gemeinhin unter Darwins Evolutionstheorie verstanden wird, ist keineswegs ein einheitliches, in sich abgeschlossenes Theoriengefüge, sondern eine Mehrzahl mehr oder weniger aufeinander verweisender, selbständiger Theorien. (Vgl. Mayr [1982] 2003: 504–510.) Dazu gehören (1) die Evolutionstheorie, der gemäß die Lebensformen nicht statisch, sondern als in einem steten, kontinuierlichen und graduellen Entwicklungsprozess |70|begriffen zu verstehen sind, (2) die Deszendenztheorie, der gemäß alle Arten auf einige wenige Urformen als ihren gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden können, und (3) die Selektionstheorie, der gemäß der Anpassungsdruck einer spezifischen Umgebung zur natürlichen Selektion der am besten angepassten Exemplare einer Art führt. Evolution versteht Darwin dementsprechend als eine adaptive Entwicklung und nicht als eine einem bestimmten Naturgesetz folgende Entwicklung. Die Entwicklungstheorie als solche zeigt sich indifferent gegenüber mechanischen, organischen, materialistischen, pantheistischen oder theistischen Weltanschauungen. Anders sieht es bei der Deszendenztheorie sowie der natürlichen Züchtung, der Selektion, aus. Ihre Anwendung auf den „ganzen“ Menschen nimmt ihm seine Sonderstellung in der und zur Natur und lässt nicht nur den Menschen, sondern auch alle seine Kulturleistungen als Produkt eines natürlichen Prozesses erscheinen. Das Überleben eines einzelnen Menschen, einer Gesellschaft, sowie ihr Glaube und ihre Moral werden in der konsequenten Anwendung der Darwin’schen Theorien auf den Menschen zum Resultat eines natürlichen Prozesses der Selektion. Darwin hat die natürliche Züchtung eingeführt, um die Entstehung neuer Arten aus zuvor bestehenden analog zur künstlichen Züchtung, also die durch die selektierende Hand des menschlichen Züchters hervorgebrachte Variation, zu erklären. Das Produkt der natürlichen Züchtung ist die an ihre Umgebung am besten angepasste Art. Um die Interpretation und Anwendung dieses Erklärungsprinzips entzündet sich der Darwinismus-Streit.
Als Darwinisten im eigentlichen Sinn werden in diesem Streit die Anhänger der Selektionstheorie betrachtet. Auf ihrer Seite stehen naturwissenschaftliche Materialisten, die die natürliche Züchtung als notwendiges und „als allein ausreichendes Erklärungsprincip“ (Hartmann 1875: 4) der Entwicklung behaupten. Die Zweckmäßigkeit der Natur und ihrer Produkte ist für sie nichts anderes als das Resultat eines mechanischen Prozesses. Auf der anderen Seite stehen Anti-Darwinisten, in der Mehrzahl Theologen und Philosophen, die der natürlichen Züchtung allenfalls den Status einer rein naturwissenschaftlichen Hypothese zugestehen und sie als einen „nebensächliche[n] technische[n] Behelf des inneren Entwickelungsprocesses“ (ebd.: 5) auffassen. Der Darwinismus-Streit ist v.a. ein Streit um die Naturalisierung des Weltbildes, um die Stellung des Menschen zur und in der Natur. Auch wenn angesichts der aktuellen Naturalismus-Diskussion die Verwendung des Naturalisierungsbegriffs an dieser Stelle diachron erscheinen mag, so legen differenzierte Analysen eine von empiristischen Bestrebungen wohl zu unterscheidende Naturalisierungstendenz im 19. Jh. nahe (vgl. Heidelberger 2015).