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3. Grundwerte Europas, Grundwerte in Europa?

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Eine „dichte Beschreibung“ europäischer Werte wird zu einer Beschreibung von Topoi von Werten in Europa führen. Geert Mak und Timothy Garton Ash haben aus den Zentren Europas, Karl Markus Gauss und Corinna Milborn von den Grenzen Europas berichtet.62 Hier zeigen sich viele Gesichter Europas, im wörtlichen Sinne „Landschaftsskizzen“, wie sie Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen“ darstellen, die denn auch den Versuch aufgegeben haben, ein einheitliches System zu schaffen – oder auch nur einen Überblick von einer Metaperspektive. Gelebte Werte Europas werden in Wertestudien – wie etwa der European Values Study – erfasst oder auch in der Literatur reflektiert. Gerade die Literatur kann als „Fenster in kulturelle Kontexte“ dienen, die auf Bruchlinien in der Wertelandschaft aufmerksam macht. In Orhan Pamuks Roman „Schnee“ beispielsweise wird die Bruchlinie zwischen „Europa“ und der Türkei thematisiert.63 Europa wird als ambivalenter Ziel-, Referenz- und Reibepunkt beschrieben64, die Religion mit dem sozialen und politischen Leben verknüpft, religiöse Werte als untrennbar verwoben mit sozialen Werten und Normen gezeigt.65 Was bedeuten auf diesem Hintergrund „Toleranz“ oder „Pluralismus“? Was bedeuten in diesem Zusammenhang „spezifisch europäische Werte“? Bruchlinien zwischen europäischer Identität und nichteuropäischen Wurzeln finden sich auch in Jonas Hassen Khemiris Roman „Das Kamel ohne Höcker“66. Er liefert mit literarischen Mitteln eine dichte Beschreibung des Identitätskonflikts zwischen arabischem Herkunfts- und schwedischem Lebenshintergrund – mit der besonderen Brisanz der Lesarten der Situation in Israel und des Geschichtsunterrichts über den Nationalsozialismus. Dubravka Ugresic thematisiert in ihrem Roman „Das Ministerium der Schmerzen“ das Verhältnis der Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien zu Europa, Leszek Herman in „Der Klub der polnischen Wurstmenschen“ die deutsch-polnischen Beziehungen innerhalb der Europäischen Union, Monica Ali das Leben zwischen Kulturen und Werten anhand einer in London lebenden Frau aus Bangladesh.67 Diese – zugegeben etwas willkürlich herausgegriffenen – literarischen Werke zeigen die Komplexität dessen, was wir „europäische Werte“ nennen. Wenn man einen Blick auf lokale Gegebenheiten wirft, lösen sich homogene Muster auf, was auch Universalisierungsansprüche unter Druck setzt. Ähnlich wie lokale Theologien mit ihren Beschreibungen der je lokalen kulturellen Werte „messy“ sind,68 werden Beschreibungen europäischer Werte auf lokaler Ebene entsprechend diffus. So gelangt man eher zu „Grundwerten in Europa“ als zu „Grundwerten Europas“. Diese je lokale Diffusität kann auch nicht durch das Unterfangen großflächiger quantitativer Studien aufgefangen werden.

Dennoch: Man erinnere sich an das Problem, vor dem der bereits angeführte Ludwig Wittgenstein stand: Er wollte „die menschliche Sprache“ zum Thema machen und verlegte sich – nach der Einsicht in die unebene Beschaffenheit der Sprache, die mit dem erwähnten Bild der alten Stadt charakterisiert werden könne – auf philosophische Untersuchungen einzelner Gebrauchssituationen. An einer berühmten Stelle macht er sich selbst den Vorwurf: „Du machst dir’s leicht! Du redest von allen möglichen Sprachspielen, hast aber nirgends gesagt, was denn das Wesentliche des Sprachspiels, und also der Sprache ist.“69 Wittgenstein reagiert auf diesen Vorwurf mit dem Hinweis, dass die einzelnen Sprachspiele durch Familienähnlichkeiten miteinander verbunden seien und man nicht etwas suchen müsse, was ihnen allen gemeinsam wäre.70 Durch das Betrachten von vielen verschiedenen Kontexten des Sprachgebrauchs entwickelt sich über die Erkenntnis der inneren Verwandtschaft der einzelnen Spiele ein Gespür für die menschliche Sprache, für die Wittgenstein – etwa über die Begriffe der Regeln, des Regelfolgens, der Grammatik, der Öffentlichkeit – denn auch allgemeine Beobachtungen anstellt. Übertragen auf unsere Situation: Der Blick auf verschiedene werterelevante Kontexte erlaubt die vorsichtige Reflexion auf Grundwerte Europas. Fragen nach europäischen Werten stellen sich auf wenigstens drei Ebenen:

(1) Auf der Ebene von Fragen nach Geschichte und Erinnerung: Eine Gemeinschaft wird durch Geschichte, Gedächtnis und Erinnerung geprägt. Europa hat eine bewegte, von Konflikten zwischen den Nationalstaaten gekennzeichnete Geschichte, was sich in einem ausgeprägten kulturellen Pluralismus zwischen den einzelnen Regionen niederschlägt. Die Frage nach den gemeinsamen Wurzeln wird durch die Integration postkommunistischer Staaten verschärft, hat doch der Kommunismus ein „ungleichzeitiges“ und „zweigleisiges“ Europa geschaffen. Dazu kommt der „Zivilisationsbruch“ (Diner) des Holocaust und die Herausforderung, die Vergangenheit totalitärer Regimes aufzuarbeiten. In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen nach gemeinsamen historischen Wurzeln (der Werte) Europas.

(2) Auf der Ebene von Fragen nach Glaube und Religion: Welche Rolle spielen Religionen, vor allem auch die jüdisch-christliche Tradition in der Wertelandschaft Europas? Im Hinblick auf Menschenrechtskataloge, die als Referenzpunkt für Wertediskussionen herangezogen werden, verschärft sich diese Anfrage, hat doch die jüdisch-christliche Tradition durch Akzente in der Bildung des Begriffs der menschlichen Würde eine Quelle für das Anliegen von „human rights“ geliefert. In alternativen, vom Islam inspirierten Erklärungen der Menschenrechte – etwa die Cairo Declaration of Human Rights in Islam und später Arab Charter of Human Rights – werden gewisse Akzentsetzungen vorgenommen, die sich etwa auf den Begriff der Vernunft, des Gesetzes oder des Rechtes beziehen und durchaus weit reichende Implikationen haben. Im Lichte des bayerischen Kruzifixstreits, der französischen Diskussion um religiöse Symbole oder des dänischen Karikaturenstreits werden diese Fragen nach Religion und Kultur, nach dem Verhältnis von Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit, nach dem Verhältnis von Respekt vor religiöser Tradition und Respekt vor individueller Freiheit zu diskutieren sein. Ist es möglich, sich hier auf gemeinsame europäische Standards zu einigen, stellen sich doch die interreligiösen Konstellationen regional höchst divergent dar. Was bedeutet religiöser Pluralismus im Hinblick auf das Anliegen eines gemeinsamen Wertekanons?

(3) Auf der Ebene von Fragen nach gemeinsamen ideengeschichtlichen Wurzeln: Im Laufe der Geschichte der europäischen Philosophie haben sich Standards europäischen Denkens herausgebildet, die mit Vernunftbegriff, Standards intellektueller Redlichkeit und rationaler Diskurse, Fortschrittsoptimismus, Individualität und „Quellen des Selbst“ zu tun haben. Diese Topoi philosophiegeschichtlich rekonstruierbaren europäischen Denkens haben auf Kulturgestaltung und Wertediskussion gewirkt. Für die Entwicklung der Europäischen Union kann das Projekt der Moderne auf dem Hintergrund der Aufklärung mit homogenen Standards von Vernunft, Fortschritt, Abstraktion und Allgemeinheit von Prinzipien, Begründungspflicht als zentral angesehen werden. Wie wirksam sind diese Werte angesichts der Betonung von Pluralität und Pluralismus, Differenzen und Heterogenität, Lokalität und Minimalismus?71 In diesem Sinne wird man sich an die Frage nach „Europa und seinen Werten“ behutsam annähern. Die Grundwerte Europas beschäftigen den europäischen Einigungsprozess seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Neben dem Friedensaspekt dominierten in der Vergangenheit Vorstellungen über die sozialethischen Grundlagen des ökonomischen Wiederaufbaus, die zwischen Akzenten des Ordoliberalismus und dem Konzept einer sozialen Marktwirtschaft oszillierten. Die Erweiterung der Europäischen Union und die Veränderung der politischen Landschaft Europas durch den Zusammenbruch des Kommunismus haben die Debatte um Europa und seine Werte ebenso stimuliert wie die Frage nach einem EU-Beitritt der Türkei oder das Verhältnis zu den USA und zu China. Immer wieder wird auf einen europäischen Wertekanon Bezug genommen. Im angesprochenen Bericht von Artisaari, Frowein und Oreja wurden von den drei Autoren explizit Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte, das Prinzip der Nichtdiskriminierung, Toleranz und Humanismus als gemeinsame europäische Werte genannt. Diese Begriffe finden sich in der Präambel zum EU-Verfassungsentwurf wieder, in der wir lesen können: „Die Werte, auf die sich die Union gründet sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“72

Hier stellen sich entscheidende Fragen nach Begründung und Rechtfertigung, Kohärenz und Systematik, historischer und aktueller Verankerung dieser Begriffe im kulturellen und sozialen Zusammenleben. Handelt es sich nur um wenig reflektiertes Vokabular, um ethische Referenzpunkte einer Elite, um das akkordierte Ideal einer Gemeinschaft oder um den Ausdruck kulturell identifizierbarer Wertgrundlagen?73 Wie beziehen sich diese ethisehen Begriffe auf Moral und Moralität? Sind diese Begriffe als „dünne Konzepte“ zu behandeln oder können sie lokal verdichtet werden und wie sind etwaige regionale Unterschiede zu bewerten?

Im Frühsommer 2003 fand unter Federführung von Jürgen Habermas und Jacques Derrida als Reaktion auf den Irakkrieg eine prominent besetzte philosophische Diskussion zur Idee Europas statt. Dabei wurden zwei zentrale Punkte ausgewiesen: a) Es gibt in Europa spezifische ethische Potentiale, die gegen besagten Krieg mobilisiert werden können; b) es ist hinsichtlich dieser ethischen Potentiale eine offensichtliche Uneinheitlichkeit in Europa zu konstatieren, die sich in politischem Agieren manifestiert. Wie ist mit dieser Uneinheitlichkeit umzugehen? Eine Antwort könnte in der Suche nach einem gemeinsamen Kern und Fundament bestehen. Richard Löwenthal hat es beispielsweise unternommen, auf einen gemeinsamen europäischen Kern hinzuweisen, der Westen und Osten (zumindest Polen, Ungarn, Ostdeutschland, Tschechoslowakei einschließend) eine; es seien fünf Themen, die diesen Kern konstituieren: Konzentration auf Diesseitsprobleme, Vorherrschaft der Vernunft vor den magischen Elementen, Vorherrschaft freiwilliger Bindungen vor Blutsbanden, eine das Individuum vor der Gemeinschaft schützende Rechtsordnung, wertbetontes Verhältnis zur Arbeit.74 Diese fünf Momente sind ordnungsstiftend und versprechen die Möglichkeit einer Einheit – in diesem Falle freilich auf Kosten Russlands, das dezidiert nicht Teil dieser Ordnung ist. Die Ordnung hat ihre Grenzen und ist stets gezähmte Ordnung, kultivierte Ordnung, geschaffene Ordnung. Eine andere Antwort auf die Frage nach der Uneinheitlichkeit könnte schlichtweg im Hinweis auf die Notwendigkeit der Akzeptanz dieses unaufhebbaren Pluralismus bestehen. In jedem Fall dringen gerade in der Frage nach der Aushandlung von Pluralismus und Einheit moralische Fragen in die Gestaltung der Politik vor. Dies wird etwa am Beispiel der Verwaltung der Zukunft des ehemaligen Jugoslawien deutlich.75

Die derzeit zu spürende Finanz- und Wirtschaftskrise gibt Fragen nach den gemeinsamen Grundlagen und den gemeinsamen Zielen eine neue Dringlichkeit. Die vorliegende Buchreihe möchte der Frage nach europäischen Werten, oszillierend zwischen Gemeinsamkeit und Differenz, zwischen allgemeinen Ansprüchen und besonderen Beobachtungen.

1 Vgl. die umfangreiche Darstellung von Tony Judt – Judt, T., Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München 2006; siehe auch James, H., Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. München 2004; Davies, N., Europe. A History. London 1997.

2 Um nur zwei Schlüsselwerke der von Emmy Werner begründeten Forschung zu nennen – Wolin, S. J., The Resilient Self: How Survivors of Troubled Families Rise Above Adversity. New York 1993; Lifton, R., The Protean Self: Human Resilience in an Age of Fragmentation. New York 1994.

3 Vgl. Sheffi, Y., The Resilient Enterprise. Cambridge (Mass.) 2005.

4 Vgl. Nic. Eth. I 1,1094a26–b11.

5 Pol. III 9, 1280a31f.; VII 4, 1326b8f; VII 8, 1328a36ff.

6 Nic Eth X 10, 1170b31f.

7 Habermas, J., Der 15. Februar oder: Was die Europäer verbindet, in: ders., Der gespaltene Westen. Frankfurt am Main 2004, 43–51, hier: 44.

8 Omaar, R., Only Half of Me. British and Muslim: The Conflict Within. London 2007.

9 Vgl. Sen, A., Identity and Violence. London 2006. Sen spricht in diesem Buch über die Komplexität von Identitätskonstruktion und Identitätszuschreibung.

10 Ramadan, T., Western Muslims and the Future of Islam. Oxford; vgl. auch Chevel, T./Seeliger, A. (Hg.), Islam in Europa. Eine internationale Debatte. Frankfurt am Main 2007; Özyürek, E., The Politics of Cultural Unification, Secularism and the Place of Islam in New Europe, in: American Ethnologist 32 (2005) 509–512.

11 Ayaan Hirsi Ali ist freilich dadurch bekannt geworden, dass sie vor der naiven Annahme einer Vereinbarkeit von Islam und westlicher Welt – durchaus in doppelter Plakativität präsentiert – warnt; vgl. Ali, A. H., The Caged Virgin. London 2006.

12 Assmann, A., Der lange Schatten der Vergangenheit. München 2006.

13 Vgl. Bideleux, R./Jeffries, I., A History of Kastern Europe. London 1998.

14 Ähnlich wie Religionen, die auf „primäre Erfahrungen“ angewiesen sind, die den Interpretationsrahmen für weitere Erfahrungen bieten, beziehen sich auch Werte notwendigerweise auf ein Erfahrungsfundament – zum Begriff der primären religiösen Erfahrung vgl. Sedmak, C., Lokale Theologien und globale Kirche. Freiburg i. Br. 2000, 87ff.

15 Michael Hechter zitiert nach Joas, H., Die Entstehung der Werte. Frankfurt am Main 1999, 30.

16 – „conceptions of the desirable“ (Van Deth, J. W./Scarbrough, E., The Impact of Values. Oxford 1998, 21).

17 Vgl. Joas, H., Die Entstehung der Werte, 28.

18 Wickert, U., Der Ehrliche ist der Dumme. Über den Verlust der Werte. Hamburg 1994, 40.

19 Selbst in postmodernen Zeiten eines Werterelativismus wird man kaum bestreiten können, „daß viele Menschen sich weiterhin ihrer besonderen Werte durchaus sicher fühlen und auf eine Verletzung ihrer Werte mit leidenschaftlicher Empörung reagieren“ (Joas, Die Entstehung der Werte, 20). Die Formulierung vom „Leerlauf“ bezieht sich natürlich auf einen bekannten Gedanken Wittgensteins, der in Bezug auf nicht in der Umgangssprache verankerte Begriffe von einer Art Leerlauf gesprochen hat (vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Oxford 1967, 38, 107).

20 Vgl. Frankfurt, H., The Importance of What We Care About, in: Synthese 52 (1982) 257–272.

21 Margalit, A., Politik der Würde. Berlin 1997, 169.

22 Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, 18.

23 Vgl. Meier, C., Polis und Staat. Zwei Ausprägungen des Politischen und die Frage nach seiner Zukunft, in: Schmidinger, H./C. Sedmak (Hg.), Der Mensch – ein „zôon politikón“? Darmstadt 2006, 25–46.

24 Wiese, L. v., What is European Culture?, in: The British Journal of Sociology 11,1 (1960) 1–9.

25 Ebd., 4f.

26 Man denke an die Mahnungen von Mark Mazower – Mazower, M., Der dunkle Kontinent. Berlin 2000.

27 Vgl. Meier, C., Athen und Rom. Der Beginn des europäischen Sonderwegs, in: ders., Von Athen bis Auschwitz. München 2002, 64–100.

28 Meier, C., Um Fünfzehnhundert: Das „Europäische Wunder“, in: ders., Von Athen bis Auschwitz. München 2002, 39–63, hier: 55. Für Europa scheint ein geringeres Festhalten an Traditionen und größere soziale Mobilität charakteristisch (gewesen) zu sein, was die Entwicklungen begünstigte.

29 Martha Nussbaum führt die Vermittlung dieser Fähigkeit, ein geprüftes Leben zu führen, als eine der drei Grundaufgaben jeder Bildungseinrichtung an – vgl. Nussbaum, M., Cultivating Humanity. Cambridge (Mass.) 2003.

30 Vgl. Meier, C., Die griechisch-römische Tradition, in: Joas, H./Wiegandt, K., (Hg.), Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt am Main 2005, 93–116, hier: 101.

31 Meier, Athen und Rom, 71.

32 Ebd., 76.

33 Vgl. Rembert, R., Socrates, Discussion and Moral Education, in: International Review of Education 41,1/2 (1995) 97–108; Benson, H. H., Socratic Wisdom. The Model of Knowledge in Plato’s Early Dialogues. Oxford 2000; ders. (Hg.), Essays on the Philosophy of Socrates. Oxford 1992; Vlastos, G., Socrates: Ironist and Moral Philosopher. Cambridge 1991.

34 Rémi Brague vertritt sogar die These, dass Europa am ehesten aus dem Römertum verstanden werden könne: Brague, R., Europa. Eine exzentrische Identität. Frankfurt am Main 1993.

35 Cicero, De Officiis. Hg. von H. Gunermann. Stuttgart 1986. – Ich verwende im Folgenden die Abkürzung „DO“; zur Interpretation des Werkes vgl. Dyck, A.R., A Commentary on Cicero, De Officiis. Ann Arbor (Mich.) 1996.

36 Cicero charakterisiert den „homo honestus“, den ehrenhaften Menschen, als einen gutgesinnten und aufrichtigen Menschen, dem Trug und List fremd sind (DO I,63). Nichts soll durch Hinterhalt, Vorspiegelung, Trug geschehen (DO III,68).

37 – einem Eintritt, der sich im 16. Kapitel des neutestamentlichen Buches der Apostelgeschichte vollzieht …

38 Taylor, C., Quellen des Selbst. Frankfurt am Main 1996; das „Selbst“ wird im Sinne einer „Selbsterzählung“ konstruiert – vgl. Ochs, E./Capps, L., Narrating the Self, in: Annual Review of Anthroplogy 25 (1996) 19–43; Thomä, D., Erzähle dich selbst. Frankfurt am Main 2007.

39 Ambrosius konnte in seiner Cicero-Rezeption auf die Kommunizierbarkelt stoischen Gedankenguts in christliche Denkweisen bauen. „Stoicism, and especially the milder, more realistic Stoicism of the middle and late Stoa, was particularly congenial to early Christianity. Christian and Stoic psychology and ethics, their teaching on the logos, providence, and nature, found numerous areas of overlap“ (Davidson, I. J., Ambrose’s de officiis and the Intellectual Climate of the Late Fourth Century, in: Vigiliae Christianae 49 (1995) 313–333, hier: 316). Damit legte er eine neue Form apologetischer Literatur vor: „Ambros’s plan in Duties of the Clergy was to take the scheme of the pagan virtues and the pagan definitions of decent conduct, and show that such excellent precepts are abundantly illustrated not only in the Old and New Testaments, but in the history of the Christian Church, from its inception to the moment when the bishop was writing. Yet, the main purpose of De Officiis Ministrorum, as E. K. Rand says, was not, to reconcile ancient theory with Christian truth, but to show the pagans that the new faith had as many exemplifications of their best virtues as they themselves have“‘ (Baskin, J. R., Job as Moral Exemplar in Ambrose, in: Vigiliae Christianae 35,3 [1981] 222–231, hier: 224); die angeführte Stelle findet sich bei Rand, E. K., Fathers of the Middle Ages. New York 1928, 82. Gerade aus diesem Grund ist diese Schrift für das Verständnis des neuen Menschenbildes, das das Christentum nach Europa gebracht hat, von besonderer Bedeutung.

40 Peter Brown hat darauf hingewiesen, dass für Ambrosius der Mensch durch seine Seele zu bestimmen ist: „For him, a man was his ‚soul“‘ (Brown, P., Augustine of Hippo. A Biography. Berkeley (Calif.) 1969, 84.

41 Palladius, Leben der Väter (Historia Lausiaca), 5; vgl. auch ebd. 15 (Makarius der Jüngere) und 35 (Johannes von Lykopolis).

42 Vgl. die beiden „klassischen Beiträge“ zum Thema der Einsamkeitsfähigkeit als Resilienz- und Kreativitätsressource – Winnicott, D., The Capacity to be alone, in: ders., The Maturational Process and the Facilitating Environment. London 1969; Storr, A., Solitude. London 1997 (orig: The School of Genius. London 1988). Diese Beiträge stehen mit dem Topos der Innerlichkeit in engem Zusammenhang.

43 Athanasius, Leben des heiligen Antonius (Vita Antonii), 14.

44 Taylor, Quellen des Selbst, 373.

45 Ebd., 207.

46 Sedmak, C. Sozialtheologie. Frankfurt am Main 2001, 284–294.

47 Für diese Ansicht kann vor allem Roger Bacon stehen – vgl. die beiden Diskussionsbände, die Florian Uhl herausgegeben hat: Uhl, F. (Hg.), Roger Bacon in der Diskussion I und II. Frankfurt am Main 2001f.

48 Die jüdische Tradition mit ihrem Monotheismus, ihrer Entfaltung besonderer Verpflichtungen und eines Begriffs von „Hören“ und „Gehorsam“, mit ihrer prophetischen Tradition und ihrem Bekenntnis zu kosmischer Ordnung hat die Idee der Gottebenbildlichkeit des Menschen und damit die Idee der Menschenwürde in entscheidender Weise geprägt. Zugleich hat sie ein Modell dafür geliefert, wie eine unsichtbare religiöse Ordnung und eine sichtbare politische Ordnung zusammen gehen könnten. Die christliche Tradition hat mit ihren Aussagen über Schöpfung, die Menschwerdung Gottes, das Liebesgebot, die Hoffnung und die Umkehr ein Heilsangebot unterbreitet, das Werte der Aufklärung wie Toleranz (Langmut Gottes, Bekehrung zum Christentum ohne Beschneidung), Autonomie (Gewissensfreiheit und Verantwortung, Realität der Sünde) und Menschenwürde (Gottebenbildlichkeit in einer christologischen Lesart) ankündigen konnte. Gerade auch die Idee der Gleichheit aller Menschen wurde durch die christliche Tradition entscheidend vorbereitet. Hier stellt sich die Frage nach der Bewertung des christlichen Weltbildes für die europäische Identität. Hans Meier verweist auf den kulturellen Beitrag des Christentums, Paul Veyne warnt demgegenüber vor einer Überschätzung (Maier, H., Welt ohne Christentum – “was “wäre anders? Freiburg i. Br. 21999; Veyne, P., Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht. München 2008). Veyne warnt in genereller Skepsis gegenüber einer Rede von „Wurzeln“ in der Geschichtswissenschaft davor, dem Christentum eine zu mächtige Rolle zuzuschreiben: „Europa hat keine christlichen oder anderen Wurzeln, sondern es hat sich in Entwicklungsstufen, die nicht vorhersehbar “waren, schrittweise herausgebildet; keiner seiner Bestandteile ist ursprünglicher als irgendein anderer. Europa “war nicht im Christentum angelegt, es ist nicht die Entwicklung eines Keims, sondern das Ergebnis einer Epigenese“ (152).

49 Campenhausen, A. von, Christentum und Recht, in: Antes. P. (Hg.), Christentum und europäische Kultur. Freiburg i. Br. 2002, 96–115, hier: 98.

50 Über Gott und die Welt. Eduardo Mendieta im Gespräch mit Jürgen Habermas, in: Maneman, J. (Hg.), Befristete Zeit (Jahrbuch Politische Theologie 3). Münster 1999, 190–209, hier: 191. Die Bedeutung religiöser Deutungsangebote für Europa erkennt Habermas explizit in einer jüngsten Aufsatzsammlung an: Habermas, J., Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI. Frankfurt am Main 2008.

51 LeGoff, J., Das alte Europa und die Welt der Moderne. München 1996, 24ff.

52 Vgl. LeGoff, J. (Hg.), Der Mensch des Mittelalters. Frankfurt am Main 1989.

53 Vgl. Cardini, F./Fumagalli Beonio-Brocchieri, M.T., Universitäten im Mittelalter. München 2000.

54 Vgl. Elias, N., Die höfische Gesellschaft. Frankfurt am Main 1983; ders., Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bde. Frankfurt am Main 1992f. – Zu Elias vgl. Lepenies, W., Ein Außenseiter, voll unbefangener Einsicht. Laudatio auf Norbert Elias, in: Elias/Lepenies, Zwei Reden anläßlich der Verleihung des Theodor W. Adorno-Preises 1977. Frankfurt am Main 1977, 3–34; Ayam, R., Norbert Elias and „The Civilizing Process“, in: Theory and Society 5,2 (1978) 219–228; Fontaine, S., The Civilizing Process Revisited: Interview with Norbert Elias, in: Theory and Society 5,2 (1978) 243–253.

55 Eco, U., Der Name der Rose. München 1982; dazu Kroeber, B. (Hg.), Zeichen in Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“. München 1987; Kerner, M., (Hg.), „… eine finstere und fast unglaubliche Geschichte“? Mediävistische Notizen zu Umberto Ecos Mönchsroman „Der Name der Rose“. Darmstadt 31988.

56 Vgl. Flasch K. (Hg.), Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Mainz 1989.

57 Vgl. Weber, M., Vorbemerkung, in: ders., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1). Tübingen 1956, 1–16.

58 Vgl. Schluchter, W., Rationalität – das Spezifikum Europas?, in: Joas, H./Wiegandt, K. (Hg.), Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt am Main 22005, 237–264.

59 Habermas, J., Der gespaltene Westen. Frankfurt am Main 2004, 52.

60 Hobsbawm, E., The Age of Extremes. London 1994.

61 – und hier in der kritischen Theorie; vgl. Honneth, A., Pathologien der Vernunft. Frankfurt am Main 2007.

62 Mak, G., In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert. München 2004; Ash, T. G., History of the Present. Essays, Sketches and Despatches from Europe in the 1990s. London 1999; Gauss, K. M Die sterbenden Europäer. Wien 2001; ders., Die Hundeesser von Svinia. Wien 2004; ders., Die versprengten Deutschen. Wien 2005.

63 Pamuk, O., Schnee. München 2005 (Istanbul 2002). Einen Blick auf das Verhältnis Europas zur Türkei wirft auch der Roman „Katze, Mann und Tod“ von Zülfü Livaneli (Zürich 2005 – Istanbul 2001).

64 Vier einschlägige Sätze (ebd., 135): „Heiliger Koran ist, was Gott befiehlt; und seine deutlichen Befehle sind nichts, was wir als seine Diener diskutieren könnten.“ 143: „Für sie stand das Kopftuch nicht nur für die Liebe Allahs, sondern auch für ihren eigenen Glauben und ihre Ehre.“; 152: „Der wahre Dichter stellt immer die gleiche Frage. Wenn er lange glücklich ist, wird er gewöhnlich. Und wenn er lange unglücklich ist, findet er nicht die Kraft in sich, sein Gedicht lebendig zu erhalten […]. Glück und das wahre Gedicht gehen nur eine ganz kurze Zeit zusammen.“ 162: „Du hast gewußt, daß nur solche, die klug und unglücklich sind, gute Gedichte schreiben.“ 243: „Es heißt, sie bereiten Selbstmordattentate mit Bomben vor. […] Du hast Angst, du schämst dich, wenn die Europäer sehen, was wir hier tun? Weißt du, wie viele Menschen die aufgehängt haben, um ihre modernen Welten zu gründen, die du so bewunderst?“ 244: „Außerdem kann man dieses Land nur ordentlich regieren, wenn man Angst vor der Religion verbreitet. Später stellt sich immer heraus, daß diese Angst berechtigt ist. Wenn sich das Volk nicht vor den Fundamentalisten fürchtet und Zuflucht bei Staat und Heer sucht, fällt es der Reaktion und der Anarchie anheim.“ 284: „Ich möchte niemanden repräsentieren […]. Ich möchte nur mit meiner eigenen Geschichte, allein, mit allen meinen Sünden und Fehlern den Europäern gegenübertreten […]. Ich hätte so gern, daß in Europa ein paar Menschen meine Geschichte lesen.“ 305: „Die türkischen Familien lassen ihre Mädchen nur Friseuse lernen […]. In Frankfurt gibt es Hunderte von türkischen Friseusen.“ 323: „Lapislazuli hatte sich überzeugen lassen, daß es die Leute im Westen beeindrucken “würde, wenn die Person, die als kurdischer Nationalist die Erklärung in der „Frankfurter Rundschau“ unterzeichnete, ein Atheist wäre.“ „Die öffentliche Meinung in Europa ist nicht unser Freund, sie ist unser Feind. Nicht weil wir ihr Feind sind, sondern weil sie uns instinktiv geringschätzen“; „In Europa ist niemand so arm wie wir“, sagte einer der drei jungen Kurden“; „Aber wir wissen alles, was Europa bedeutet […]. Europa ist in Zukunft unser Ort in der Menschheit.“ Und: „Wenn die ein Gedicht schreiben oder ein Lied singen, sprechen sie im Namen der ganzen Menschheit. Sie sind Menschen, wir nur Muslime. Wenn wir etwas schreiben, ist es Volksdichtung“ (336).

65 „Ka hatte von Anfang an gewußt, daß an Gott glauben in der Türkei nicht heißt, daß der einzelne Mensch dem höchsten Gedanken und dem größten Schöpfer begegnet, sondern vor allem, daß er sich einer Gemeinschaft und einer sozialen Umgebung anschließt“ (ebd., 75). Religion und Gemeinschaft hängen auch über die Rahmung des individuellen wie kollektiven Lebens zusammen: „Mit fahrigen Händen zündete sich Necip zunächst eine Zigarette an: ‚Wenn es Allah nicht gibt, dann heißt das, daß es kein Paradies gibt. Dann können die Millionen Menschen, die ein Leben in Mangel, Armut und Unterdrückung verbringen, nicht einmal ins Paradies kommen. Was ist dann der Sinn all der Qualen, die die Armen durchmachen? Wozu leben wir dann und durchleiden sinnlos all diese Qualen?‘“ (125).

66 Khemiri, J. H., Das Kamel ohne Höcker. München 2006 (Stockholm 2003); vgl. zur angesprochenen Problematik Predelli, L. N., Interpreting Gender in Islam: A Case Study of Immigrant Muslim Women in Oslo, Norway, in: Gender and Society 18 (2004) 473–493.

67 Herman, L., Der Klub der polnischen Wurstmenschen. Berlin 2004; Ugresic, D., Das Ministerium der Schmerzen. Berlin 2005 (Zagreb 2004); Ali, M., Brick Lane. London 2003.

68 Vgl. Schreiter, R., Constructing Local Theologies. Maryknoll (N.Y.) 1985; Sedmak, C., Doing Local Theology. Maryknoll (N.Y.) 2002.

69 Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, 65.

70 Ebd., 67.

71 Vgl. Toggenburg, G. N., The Debate on European Values and the Case of Cultural Diversity. European Diversity and Autonomy Papers 1/2004; siehe auch Davies, N., Europe, 1057ff.

72 Sind die Menschenrechte nur auf dem Hintergrund einer europäischen Tradition verständlich zu machen? Anthony Pagden weist die Verbindung zwischen Naturrechtsdenken und Menschenrechtskanon auf; diese ursprünglich auch für kolomalistische Zwecke verwendete Verschränkung wurde durch die französische Revolution durchbrochen, die ihrerseits einen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und einem bestimmten politischen System propagierte. Grundlage des Diskurses waren in jedem Fall jedoch Universalitätsansprüche auf einem genuin europäischen Boden (Pagden, A., Human Rights, Natural Rights, and Europe’s Imperial Legacy, in: Political Theory 31,2 (2003) 171–199. Relevant im Kontext der Rechtfertigung von Universalitätsansprüchen ist auch die Frage nach der Bedeutung der jüdisch-christlichen Tradition für die Menschenrechte; vgl. Muray, D., The Theological Basis for Human Rights, in: Irish Theological Quarterly 56,2 (1990) 81–101.

73 Politik, will sie wirksam sein, braucht nicht nur „deliberatio“, sondern auch: Leidenschaft; damit auch eine Verankerung in der Gefühlswelt der Menschen; vgl. Walzer, M., Vernunft, Politik und Leidenschaft. Frankfurt am Main 1999.

74 Löwenthal, R., Die Gemeinsamkeiten des geteilten Europa, in: Weidenfeld, W., (Hg.), Die Identität Europas. Bonn 1985, 43–65.

75 Vgl. James, H., Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, 454–466.

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