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Solidarität in Europa
ОглавлениеDer Begriff der Solidarität spielt in verschiedenen politischen Foren der Europäischen Union und in den Diskussionen um das sozialethische Profil der Europäischen Union eine wichtige Rolle.15 Allerdings deutet vieles darauf hin, dass Solidarität in Europa ein gemeinschaftlicher Grundwert ist, den es erst umzusetzen gilt.16 Die Strukturen der Solidaritätsbereitschaft innerhalb der Union haben sich durch die letzte EU-Erweiterung wie auch durch die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 merkbar verändert. Dazu kommen Diskussionen um das Gewicht des Staates und die Verantwortung der Bürger und Bürgerinnen innerhalb der Gesellschaft.17 Die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft hat 2004 ein Dokument mit dem bezeichnenden Titel „Solidarität ist die Seele der Europäischen Union“ herausgebracht.18 Darin wird klargestellt, dass der Prozess der europäischen Einigung Menschen direkt berührt und diese denn auch unmittelbar in ihren Werteorientierungen gefordert und herausgefordert sind. Das Kapitel IV der Europäischen Grundrechtscharta trägt den Titel „Solidarität“. Darin werden Grundrechte und Zugänge zu Diensten von allgemein wirtschaftlichem Interesse angesprochen. Das Dokument der COMECE faltet diese Überlegungen weiter aus. Mit Bezug auf die Enzyklika „Sollicitudo Rei Socialis“ (Nr. 38) von Papst Johannes Paul II. wird Solidarität definiert als „feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, für das Wohl aller und eines jeden, weil wir für alle verantwortlich sind.“ Sie ist also Entscheidung zum helfenden Handeln aus dem Bewusstsein der Verbundenheit. Diese Entscheidung könne nicht per Dekret andemonstriert werden: Kein europäisches Gesetz oder Programm, so das Dokument der COMECE, könnten die Solidarität in der Familie oder die gute Nachbarschaft ersetzen (Nr. 2).19 Solidarität muss also auf lokale Ebene eingeübt werden – diese lokale Ebene kann durch abstrakte Ideale auch nicht abgelöst werden. Solidarität wird hier als Entschluss zu einer handlungsleitenden Haltung beschrieben – sie ist „mehr als ein bloßer materieller Interessenausgleich“ und setzt ein Bewusstsein der Verbundenheit voraus (Nr. 6). Im Grunde kommen im Begriff der Solidarität eine Mikroebene der Verbundenheitsbereitschaft, wie wir sie in Form von „special obligations“ einzelnen Menschen gegenüber kennen und anerkennen, und eine Makroebene der Erweiterungs-, ja Universalisierungsbe-reitschaft zusammen. Solidarität wird wirksam, wenn ein Bewusstsein der freundschaftlichen Verbundenheit herrscht.20 Freundschaftlichkeit wird im Begriff der Solidarität zu einer politischen Kategorie. Sie schließt Anerkennung und Respekt vor dem je konkreten Anderen und dem generalisierten Anderen ein, eine Haltung des Wohlwollens und der Generativität, die sich auf der Grundlage von Vertrauen um das Wohl des Anderen sorgt. Diese Haltung kann – in der Tradition der „habitus“-Theorie von „virtus“ – als Tugend beschrieben werden. Das Dokument der COMECE mahnt auf einer europäischen Ebene diese Solidarität als Grundhaltung, die juristisch nicht einklagbar ist (Nr. 24), ein: „Solidarität misst sich nicht allein an den Transferleistungen in der Europäischen Union. Hinter den materiellen Transferleistungen steht stets eine sie tragende politische Haltung. Im Übrigen sind nicht nur materielle, sondern auch „geistige Güter“ Gegenstand der Solidarität. Dazu gehört der Austausch der Gaben im kulturellen und spirituellen Bereich, die wohlwollende Neugier auf andere Kulturen und Gewohnheiten, der Wille zur Freundschaft und die Anerkennung der unterschiedlichen Geschichte“ (Nr. 10). Solidarität ist eine Haltung, die Motivation und Semantik aus dem Mikrobereich schöpft (Kategorien von Wohlwollen und Freundschaft), aber auf dem Makrobereich zur Anwendung kommen kann. Gerade weil hier „warme und weiche“ Faktoren zum Ausdruck kommen, wird Solidarität mitunter als „das Andere der Gerechtigkeit“ charakterisiert. Friedrich Hengsbach charakterisiert die Tugend der Solidarität als „Respekt vor den anderen als unvertretbar einzelnen“, während er die Tugend der Gerechtigkeit als „Respekt vor den anderen als gleichberechtigten“ darstellt.21
Solidarität wird damit zu einer Koordinationsgestalt, die Pluralismus und Heterogenität abfedert – ganz im Sinne Durkheims, der Solidaritätsbedarf und den Abbau von Homogenität miteinander verbunden hat. Gleichzeitig steigen damit die Anforderungen an die Motivation zur Solidarität. Die Vielfalt Europas ist eine der Leitideen, die die europäische Entwicklung von „Vereinigten Staaten“ unterscheiden. Andererseits erhöht sich auf Europa im Allgemeinen und die Europäische Union im Besonderen der Druck, eine gemeinsame Grundlage, die gerade auch Wertüberzeugungen umfasst, zu reflektieren. Hier kommt der Solidarität als der Bereitschaft, Gemeinsamkeit anzuerkennen, eine besondere Bedeutung zu. Die Frage nach Solidarität wird in der Moralphilosophie auch mit der Frage nach Vertrauen und der Rolle des Vertrauens für den Aufbau und Erhalt einer Gemeinschaft diskutiert.22 Im Rahmen des Diskurses über den europäischen Einigungsprozess steht die Rede von Solidarität vor den beiden großen Herausforderungen der Solidarität nach innen (Nettozahlerdebatte innerhalb der Europäischen Union) und der Solidarität nach außen (Verwehrung des Guts der Mitgliedschaft bzw. globale Verankerung der Europäischen Union). Endet Solidarität an den Grenzen der EU?23 Und wenn dies so ist, wie kann – eine Frage, die bereits Platon beschäftigte – gleichzeitig „weiche Solidarität“ nach innen und „harte Abgrenzung“ nach außen gelebt werden?24 Oder auch: Wie kann Solidarität in einem europäischen Diskurs verankert werden, der Universalisierungsansprüche stellt, dabei aber in die Glaubwürdigkeitsfalle faktisch begrenzter Solidaritätsreichweiten fällt?
Diese Fragen sind wie offene Wunden. Offen ist auch die Frage, inwieweit der Solidaritätsbegriff „typisch europäisch“ ist. Der vorliegende Band geht auch dieser Frage exemplarisch nach. Inwieweit unterscheidet sich ein von römischem Recht, christlicher Tradition, Aufklärung und Arbeiterbewegung inspirierter Solidaritätsbegriff von einem konfuzianischen Verständnis von menschlicher Bindung, die über „Kind-Eltern-Beziehungen“ und Loyalitätsverhältnissen gegenüber Staat und Tradition bestimmt wird?25 Inwieweit unterscheidet sich der Begriff des Sangsaeng (ausgesöhntes Zusammenleben) aus dem koreanischen Jeungismus vom europäischen Solidaritätsbegriff? Oder ein afrikanischer Vergleich: In Südafrika wurde seit Ende des Apartheidregimes der Begriff „ubuntu“ als Grundlage für ein geeintes Südafrika diskutiert.26 Ubuntu als „Leben in Beziehung“ geht mit einer bestimmten Anthropologie und einer bestimmten Ontologie einher. Es ist ein Begriff, der als genuin afrikanischer Begriff präsentiert wird und den Anspruch hat, „tiefer“ zu gehen als der europäische Solidaritätsbegriff. „Ubuntu“ steht einem cartesianischen Modell von Individualität, aus dem sich (in einem zweiten Schritt) Formen von Vergemeinschaftung bilden können, klar entgegen. Im Kontext des Politischen betont „ubuntu“ die Bedeutung von Konsens und Übereinstimmung und gemeinsamer Anstrengung, etwa auch im wirtschaftlichen Bereich in Form von Kooperativen. „Ubuntu“ betont die Einheit – horizontal als Einheit innerhalb eines Volkes und einer Gesellschaft, vertikal als Einheit, die auch die Vorfahren einschließt. In diesem Sinn hat „ubuntu“ auch eine religiöse Bedeutungsschicht. Schrittweise lassen sich also Aspekte der „Tiefengrammatik“ des Begriffs herausschälen, um die Nuancen und Unterschiede zum europäischen Verständnis von Solidarität hervortreten zu lassen. Die verbleibenden Fragen nach Reichweite und Bindungskraft, Begründung und Operationalisierung, europäischer Spezifität und Universalisierbarkeit werden im vorliegenden Band berührt.