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1. Wertegemeinschaft

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Der für die europäische Geistesgeschichte so maßgebliche Philosoph Aristoteles hat die politische Gemeinschaft über eine Werteordnung bestimmt. Eine Gemeinschaft bildet sich, wie es im berühmten Eingangssatz seiner „Politik“ heißt, um eines Guten willen. Die „polis“ als ein durch Mauern nach außen abgegrenztes Gemeinwesen ist wie jeder Staat eine Gemeinschaft zum Gut-Leben, das sich also auf Begriffe des guten Lebens verständigt haben muss.4 Eine Gemeinschaft hat Bestand in der Suche nach gutem und glücklichem Leben.5 Der gemeinsame Boden in der Werteorientierung und dem gemeinsamen Verfolgen geteilter Ziele sind eine erste Grundbedingung für ein Gemeinwesen. Eine zweite Grundbedingung jeder entsprechenden eudaimonia-orientierten Gemeinschaft ist die Freiheit. Interessanterweise ist eine dritte Grundbedingung für das von Aristoteles wünschenswerte Modell des Zusammenlebens im Rahmen von freundschaftlicher Verbundenheit der Bürger (wenn schon nicht Bürgerinnen!) die Größe des Gemeinwesens – jenseits von 100.000 Einwohner(inne)n könne sich keine Gemeinschaft des Gut-Lebens bilden.6 Eine vierte Grundbedingung ist die Diversität – ein Staat besteht aus der Art nach verschiedenen Menschen (Pol II 2, 1261a22f.). Aus diesen knappen Bemerkungen ergeben sich für das Projekt eines geeinten Europa die beiden Grundspannungen, „Gemeinsamkeit und Pluralismus“ sowie „Freiheit und Grenzen“ aufeinander abzustimmen. Tatsächlich haben diese beiden Grundspannungen („Wie viel Gemeinsamkeit ist möglich und nötig, wie viel Differenz ist wünschenswert und erträglich“ bzw. „Wo enden Spielräume, wie werden sie begrenzt und wodurch wird diese Begrenzung begründet?“) die Geschichte Europas gerade nach Beginn eines sich beschleunigenden Einigungsprozesses geprägt.

Es wäre naiv, diesen politischen Weg europäischen Zusammenrückens als Prozess aristotelisch geleiteter Werteorientierung anzusehen. Dennoch stellt sich die Frage nach dem, was eine Gemeinschaft zusammenhält – und dies mit dem Zusatz, dass Werte nicht bloß über ihre Funktion (Kitt für die Gemeinschaft zu sein) erklärt, motiviert und mit lebensgestalterischer Relevanz erfüllt werden können. Die Rede von „europäischen Werten“ kommt jedoch im Vergleich zu den wirtschaftlichen und politischen Motiven als sekundäre ins Spiel. Zur Erinnerung: Der Schumanplan wurde am 9. Mai 1950 vorgestellt. Er ging auf eine Idee von Jean Monnet zurück, der vorgeschlagen hatte, die französisch-deutsche Stahl- und Kohleproduktion unter eine gemeinsame Organisation zu stellen, die für eine Beteiligung weiterer Staaten offen sei. Dieser Vorschlag war die Frucht eines Nachdenkens über die Zukunft Europas, näherhin über die Bewältigung der Gegebenheiten von Krieg und Nachkriegszeit, noch genauer über die Rolle, die Deutschland in Europa spielen sollte. Bereits 1924 hatte eine Gruppe rund um den französischen Nationalökonomen Charles Gide ein Komitee für eine Europäische Zollunion gegründet. Einerseits sollte damit eine Epoche transnationalen, europäischen Denkens eingeläutet werden, andererseits ging es um die Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungen, was vor allem durch die zwei Jahre später erfolgte Gründung einer Internationalen Rohstahlgemeinschaft seinen Ausdruck fand. Weltwirtschaftskrise und Zweiter Weltkrieg verwandelten diesen Weg in eine Sackgasse – die allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg wieder geöffnet wurde. 1947 wurde die Bewegung für eine Europäische Einheit ins Leben gerufen, entscheidend mitgetragen durch Churchills Überzeugungen und Engagement. Im Mai 1949 wurde in Strassburg der Europarat gegründet, der im November des darauffolgenden Jahres die Europäische Konvention für Menschenrechte verabschiedete. Zuvor hatten mit Jahresbeginn 1948 die Beneluxstaaten eine Zollunion realisiert, die allerdings erst nach erfolgter Antwort auf die brennende Frage nach der Rolle Deutschlands in Europa und den französisch-deutschen Beziehungen zu einem Motor für einen europäischen Transformationsprozess werden konnte. Der Schumanplan stellte eine solche Antwort in Aussicht. Deutschland wurde als gleichwertiges Mitglied der Staatengemeinschaft behandelt und Teil eines internationalen Verbandes, der die Zukunft Europas prägen sollte. Im April 1951 wurde in Paris von sechs Staaten die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet. Großbritannien, gestützt durch angloamerikanische Zusammenarbeit und das Netz des Commonwealth, übte gegenüber dieser Dynamik eines europäischen Projekts noble Zurückhaltung, was in der Folge eine französische Prägung der europäischen Institutionen zur Folge hatte. Dass Paris zum intellektuellen Zentrum der Nachkriegsjahre wurde, verstärkte zudem den französischen Einfluss. Dazu kam die für viele schmerzhafte Entkolonialisierung mit der damit einhergehenden Ernüchterung, die ein verstärktes Interesse am europäischen Raum mit sich brachte. Subtile Dynamiken von Exklusion und Inklusion, Allianzenbildung und Bündnisformung zeichneten sich ab, nachdem die europäische Transformation die Einteilung von „Siegerstaaten“ und „Kriegsverlierern“ de facto aufgehoben hatte. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft von Kohle und Stahl war die Dynamik eines europäischen Kooperationsprojektes erlahmt. Es blieb den Beneluxstaaten vorbehalten, hier einen – durchaus wirtschaftlich motivierten – Neuanfang zu setzen. Die Konferenz von Messina von 1955 brachte jedenfalls die sechs EGKS-Staaten und einen britischen „Observer“ an einen Tisch. Bereits im November dieses Jahres setzte sich die britische Euroskepsis durch, was zu einem Ausstieg des Inselkönigreiches führte. Der belgische Politiker Paul-Henri Spaak führte nach der Konferenz eine Kommission an, die im März 1956 ihre Empfehlungen vorlegte. Der Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde von jenen sechs Staaten unterzeichnet, die fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Projekt einer Montanunion unternommen hatten. Es dürfte kaum zu argumentieren sein, die Römischen Verträge als Ausdruck eines um sich greifenden Europaenthusiasmus zu deuten. Vielmehr waren volkswirtschaftliche Bedenken angesichts des Beginns eines postkolonialen Zeitalters und einer Ära eines zweigleisigen Europa mit seinen Auswirkungen auf Absatzmärkte – dezidiert nationale Interessen also – ein Motor des Geschehens, ein Motor, der allerdings nur stotternd in Gang gesetzt wurde; Widerstand gegen das Projekt trat in Frankreich ebenso auf wie in Deutschland. Widerstand gegen das EWG Programm zeigte sich in weiterer Folge auch darin, dass im November 1959 eine Europäische Freihandelszone debattiert wurde, die die EWG Staaten allerdings nicht umfasste, da Frankreich einen entsprechenden Vorschlag Großbritanniens, das sich nun zunehmend für europäische Partner zu interessieren begann, zurückgewiesen hatte. Dass die europäische Transformation in institutioneller Hinsicht durch die EWG bewirkt wurde, zeigt sich unter anderem in der zunehmenden Attraktivität dieses sich auch zusehends nach exklusiver Clubstruktur verstehenden Bündnisses, das Großbritannien erst im dritten Anlauf im Jahr 1973 – gemeinsam mit Dänemark und Irland – Mitgliedschaft zuerkannte. Sowohl die Vor- als auch die Nachgeschichte der Römischen Verträge sind also von Konflikten und Spannungen, strategischen Überlegungen, wirtschaftlichen Interessen, pragmatischem Entgegenkommen und einer gehörigen Portion Skepsis geprägt. Gleichzeitig wurde jedoch die Zäsur zwischen Westeuropa und Osteuropa verstärkt und ein ungleichzeitiges und zweigleisiges Europa geschaffen.

Freilich: Auch Identitätsfragen spielten eine entscheidende Rolle – es ging in der Geschichte des europäischen Einigungsprozesses etwa um die Identität Deutschlands, um das Selbstbewusstsein eines von zwei Weltkriegen gedemütigten und gespaltenen Europa, um die Frage nach den nationalen wie transnationalen Zielen, die die Wahl von Mitteln anleiten sollten. Identitätsfragen wiederum sind untrennbar mit Wertfragen verknüpft. Identitätsfragen treten dort auf, wo Identitätsansprüche ausgehandelt und koordiniert werden müssen, wo Identitätsarbeit als Arbeit an Kultivierung, Stabilisierung und Verteidigung von Profil und Position im öffentlichen Raum zur Konfliktarbeit wird, wo Identität unsicher und brüchig wird und sich infrage gestellt sieht. Es lassen sich dabei zwei der Art nach verschiedene Bruchstellen unterscheiden, in denen Fragen der Identität offenkundig werden: Zum einen Fragen der Abgrenzung von Europa gegenüber einem wie auch immer zu definierenden „Außen“; zum anderen Fragen innereuropäischer Abgrenzung.

(1) Fragen „außereuropäischer Abgrenzung“ sind etwa der Diskurs um europäische Identität versus amerikanische, asiatische oder afrikanische Identitäten. Der 15. Februar 2003 kann als ein symbolischer Tag für diese Bruchstelle angesehen werden. An diesem Tag wurde in Barcelona und Berlin, London, Madrid, Paris und Rom in großer Zahl gegen die von manchen europäischen Stimmen deponierten Loyalitätsbekundungen zum US-amerikanischen Krieg gegen den Irak demonstriert. „Kein Zweifel“, so kommentiert Jürgen Habermas, „die Macht der Gefühle hat Europas Bürger gemeinsam auf die Beine gebracht.“7 Diese Gemeinsamkeit drückte einen Willen zur Einheit gegen ein US-amerikanisches Profil aus, ein Bekenntnis zu einer europäischen Identität, auch wenn dieses Bekenntnis, nüchtern betrachtet, aus der Bankrotterklärung einer geeinten europäischen Außenpolitik erwuchs. Es war in diesem Zusammenhang vom „altmodischen Europa“ die Rede, das die modernen Erfordernisse eines Präventivschlags im Krieg gegen den Terrorismus nicht begriffen hatte. Hier wird europäisches Denken gegen amerikanisches Tun ins Spiel gebracht, die Besonnenheit der alten Welt gegen das Dreinschlagen der neuen, die Vorsicht derjenigen, die an Grenzen gestoßen sind, gegen den amerikanischen Traum unumschränkter Machbarkeit.

Eine interessante Variante dieser Identitätsarbeit stellt der Diskurs über das Verhältnis von Europa und dem Islam dar. Er wird in vielen Fällen als Diskurs außereuropäischer Abgrenzung geführt, wobei gute Gründe dafür sprechen, hier von einer innereuropäischen Grenzziehungsdebatte auszugehen. Der britische Journalist Rageh Omaar, ein Muslime mit somalischen Wurzeln, beschreibt in seinem engagiert geschriebenen Buch „Only Half of Me“ den Umstand, dass er nur die Hälfte seiner Identität (nämlich Journalist und britischer Staatsbürger zu sein) friktionsfrei in die Öffentlichkeit tragen könne, die andere Hälfte (seine Herkunft, seine Religionszugehörigkeit) Konfliktpotential berge.8 Eine Gemeinschaft möge sich überlegen, was es bedeute, die Komplexität von Identitätsfragen, die mit lebenstragenden Grundüberzeugungen und einem tiefen emotionalen Fundament zu tun haben, zugunsten von Forderungen nach einer bestimmten Struktur des öffentlichen Raumes auszublenden.9 Die Gestaltung des öffentlichen Raumes beschäftigt auch den einflussreichen Theoretiker Tariq Ramadans, der sich für eine klare Trennung zwischen Religion und Kultur ausspricht, eine Gleichbehandlung der Religionen fordert, Selbstbescheidung durch die Einsicht in die historische Gebundenheit von Formen des menschlichen Zusammenlebens einmahnt und explizit darauf drängt, einen europäischen Islam zu etablieren.10 Als europäischer Islam würden wir es nicht mit einem Abgrenzungsdiskurs „nach außen“, sondern mit einem Identitätsdiskurs „nach innen“ zu tun haben.11

(2) Eine zweite Bruchstelle, an der Identität deutlich wird, zeigt sich im Diskurs um innereuropäische Abgrenzungsfragen. Hier geht es etwa um Bruchstellen, die sich in der Frage nach dem Verlassen des europäischen Wertebodens inmitten des Kontinents zeigen. Dies betrifft in erster Linie – aber nicht ausschließlich, wenn man an das Wiedererstarken der früheren kommunistischen Kräfte in osteuropäischen Staaten denkt – politische Entwürfe und Bewegungen vom rechten Rand des politischen Spektrums. Beispielhaft sei hier auf den „Fall Österreich“ verwiesen, der im Jahr 2000 für Identitätsdiskussionen gesorgt hatte. Der sogenannte „Weisenbericht“ vom 8. September 2000, erstellt von Marti Artisaari, Jochen Frowein und Marcelino Oreja, wurde einerseits als Ausdruck eines europäischen Diskurses um eine Wertebasis, andererseits als Ausweg aus den gegen Österreich verhängten Sanktionen positioniert. Der Umstand, dass hier Sanktionen verhängt wurde, drückte die Ambition aus, den Wertediskurs über das Formale hinaus zu gestalten und in der Lebenswelt der Menschen zu verankern. Dieser Bericht hatte u.a. die Frage zu beantworten: Steht Österreich auf dem gemeinsamen europäischen Werteboden? Als normative Grundlagen von europäischen Werten, wie sie etwa in der Europäischem Menschenrechtskonvention festgehalten sind, wurden explizit Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte, das Prinzip der Nichtdiskriminierung, Toleranz und Humanismus als gemeinsame Wertebasis genannt. In diesem Dokument kann man europäische Identitätsarbeit erkennen – und an den Diskussionen rund um den Bericht und dessen Entstehung auch ablesen, wie konfliktgeladen und durchaus diffus diese Arbeit auch gestaltet wird. Innereuropäische Abgrenzungsfragen zeigen sich auch in der Auseinandersetzung zwischen „Westeuropa“ (hier wohl auch in einem ideologischen Sinn verstanden) und den anderen Teilen Europas (Osteuropa, Südeuropa). Wie soll mit der hier aufgebauten Ungleichzeitigkeit umgegangen werden? Aleida Assmann hat in diesem Zusammenhang etwa auf die Gefahr der Opferkonkurrenz – wer hat mehr gelitten, die Opfer des Nationalsozialismus oder die Opfer des Stalinismus? – hingewiesen.12 Konkurrenz tritt auch mit der Beschreibung Europas auf – aus historischen Gründen wird West- und Nordeuropa mehr Aufmerksamkeit geschenkt als Ost- und Südeuropa.13

An solchen Bruchstellen wird die Aushandlung europäischer Identität deutlich. Orte des Widerstands sind Indikatoren für Konturen einer Wertelandschaft. Dass es eine europäische Wertelandschaft gibt, ist unumstritten. Die Auseinandersetzungen widmen sich der Frage nach der Einheitlichkeit und Beschaffenheit dieser Landschaft. Eine Wertelandschaft ist nicht nach Belieben konstruierbar. Sie kann nicht am grünen Tisch entworfen und per Dekret verordnet werden. Eine Wertelandschaft ist keine Hausordnung, sondern ist auf einschlägige Erfahrungen angewiesen (aus diesem Grund ist es auch weise, die eine Hausordnung an gelebte Werte rückzubinden). Entsprechend sind europäische Werte oder Werte in Europa nicht ein Fundament, das einfach verordnet werden könnte. In diesem Sinne sind Wertelandschaften als existentiell prägende Weltanschauungen auch mit Religionen vergleichbar: Man entscheidet sich nicht für eine Religion, man entscheidet sich auf der Grundlage einer Religion; man entscheidet sich nicht für Werte, man entscheidet auf der Grundlage von Werten. Ähnlich wie eine Religion sind Werte auf grundlegende Erfahrungen angewiesen, die Werten mit Formen des „Ergriffenseins“ (Hans Joas) zusammenbringt.14 Ähnlich wie Religionen stiften Werte Identität – sie schaffen die Integration von verschiedenen Wünschen und Lebensformaspekten. Und ähnlich wie eine Religion hat auch eine Wertelandschaft verschiedene Dimensionen – eine kognitive Dimension, durch die bestimmte Überzeugungen für wahr gehalten werden; eine affektive Dimension, die Werte auch emotional verankert sein lässt; eine soziale Dimension, die Werte in den Rahmen einer Gemeinschaft einbettet; eine normative Dimension, die bestimmte Verhaltenserwartungen an Menschen heranträgt; eine praktische Dimension, die sich im „cash value“ von Werten für das tägliche Leben zeigt – welchen praktischen Unterschied macht das Anerkennen von bestimmten moralischen Werten?

Hat man früher vom „Guten“ oder den Tugenden gesprochen, so ist heute zumeist von Werten die Rede. Das lässt insofern tief blicken, als damit ein Bekenntnis zur Vielfalt (dem einen Guten stehen viele Werte gegenüber), eine Tendenz zur Ambiguität (der Wertekanon ist flexibel) und ein Hang zur Depersonalisierung (von Werten scheint man unbeschadet von Menschen, die diese Werte hochhalten, sprechen zu können) ausgedrückt sind. Freilich: Auch der Diskurs über bestimmte Werte ist ein Diskurs über das Gute – und steht in Verbindung mit dem, was (entweder um seiner selbst willen oder aufgrund von einem höheren Gut) als erstrebenswert angesehen wird. Man könnte Werte als Ressourcen dritter Ordnung beschreiben. Ressourcen erster Ordnung sind jene Ressourcen, mit denen wir gebrauchend und verbrauchend umgehen – Raum und Zeit, Kapital und Arbeitsleistung, Energie und Güter. Ressourcen zweiter Ordnung sind jene Ressourcen, mithilfe derer wir die Ressourcen erster Ordnung verwalten und verteilen. Die Fähigkeit, Urteile zu fällen und Entscheidungen zu treffen, ist eine Ressource zweiter Ordnung; die Fähigkeit, eine Situation wahrzunehmen und in einen Referenzrahmen einzubetten, ist eine Ressource zweiter Ordnung. Präferenzen und Bedürfnisse sind Ressourcen zweiter Ordnung. Ressourcen dritter Ordnung sind jene Ressourcen, an die sich die Ressourcen zweiter Ordnung im Zuge des Managements von Ressourcen erster Ordnung wenden können. Werte sind nicht Präferenzen, sondern der Bezugsrahmen für Präferenzen; Werte sind nicht Entscheidungen, sondern die Grundlage für Entscheidungen; Werte sind nicht Bewertungen, sondern Kriterien für Bewertungen; Werte sind nicht Wünsche, sondern Konzeptionen des Wünschenswerten – und in diesem Sinne Ressourcen dritter Ordnung. Unter Werten könnte man „hochgradig emotional besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte“ verstehen oder auch „relativ generelle und dauerhafte Bewertungskriterien“15, die auf einer Ebene über Präferenzen anzusiedeln sind, da Werte auch Präferenzen bewerten lassen. Werte sind Konzeptionen des Wünschenswerten16, mit einer besonderen Ausrichtung auf menschliches Handeln und Verhalten.

Als Ressourcen dritter Ordnung sind Werte nicht direkt beobachtbar, sondern nur in ihren Auswirkungen zu erkennen; Werte sind als moralische Ressourcen zu verstehen. Moralische Ressourcen sind Quellen für moralische Orientierung wie auch für moralische Motivation – sie geben die Richtung an, in die wir gehen sollen und vermitteln auch die Kraft, Schritte auf diesem Weg zu tun. Werte haben mit Präferenzen und Interessen, mit Bedürfnissen und Motivatoren zu tun, bewegen sich aber eine Stufe höher als Präferenzen, Interessen, Bedürfnissen und Motivatoren. Werte dienen als Ressource für diese vier Bereiche. Während wir Ressourcen erster Ordnung verwalten und auch Präferenzen begründen und entscheiden können, liegen Werte auf einer tieferen, die Identität stärker berührenden Ebene. Werte werden nicht am grünen Tisch erzeugt, sondern erwachsen aus menschlichen Lebensformen. Werte fallen nicht vom Himmel und können nicht nach Belieben ausgetauscht oder neu bestimmt werden. Sie haben einen affektiven Gehalt, sind mit einem „Lebensgefühl“ und einem „Geschmack für das Leben“ verbunden und nur auf dem Hintergrund einer kulturellen Landschaft her verständlich zu machen. Werte können nicht verordnet werden; sie sind eingebettet in eine Lebensform. Werte sind denn auch nicht mit Normen gleichzusetzen, da Normen gesatzt werden können, während Werte sich nicht verordnen lassen.17 Werte können nicht verordnet werden, sie müssen wachsen: „Werte lassen sich weder stehlen noch übertragen, noch kreditieren. Und Lebenssinn und Gemeinschaftsverpflichtung lassen sich nicht einfach verordnen.“18 Diese Einsichten wurden immer wieder politisch wirksam, so bei den Bemühungen Indonesiens, das annektierte Osttimor dadurch zu einem Teil Indonesiens zu machen, dass bei Kindern gezielt emotionale Bindungen an indonesische Symbole und Mythen wie Flagge und Hymne hergestellt wurde.

Werte erzeugen inneres Engagement; dies lässt sich deutlich an moralischen Gefühlen zeigen. Empörung ist ein Indikator dafür, welche Werte noch „am Werk“ sind, d.h. Gültigkeit beanspruchen können und nicht „leer laufen“.19 Es lässt also tief blicken, worüber man sich empört und welche Situationen in einer bestimmten Kultur starke Gefühle erzeugen. Man denke an die Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI am 12. September 2006 und die Reaktion, die diese Vorlesung nach sich zog. An solchen Orten des Widerstands zeigen sich moralische Ressourcen. Solche Orte des Widerstands sind moralisch relevant, weil sich hier feste Strukturen zeigen, Werte, die noch über Bindekraft verfügen. Werte sind ja auch Formen von Bindungen; sie haben damit zu tun, dass ich mich aktiv an etwas binde und dass ich mich binden lasse; wer eine Bindung eingeht, wird durch diese Bindung selbst verändert. Diese Bindung wird nicht bloß als Einschränkung erfahren, auch als Ausdruck von Freiwilligkeit und als Ausdruck dessen, der ich bin.20 Aus diesem Grunde kann die Zugehörigkeit zu identitätsstiftenden Gruppen, die ihrerseits auch in eine wertegetränkte Lebensform einladen, individuelle Identität durch erfolgte Bindung erzeugen. „Eine identitätsstiftende Gruppe zeichnet sich durch eine gemeinsame Kultur aus, die wesentliche Lebensbereiche umfaßt. Die Lebensstile und Handlungsweisen, die Ziele und Beziehungen ihrer Mitglieder werden durch eben diese gemeinsame Kultur geprägt.“21 Zugehörigkeit (und weniger Leistung), geteilte Kultur, Beziehungen wechselseitiger Anerkennung prägen identitätsstiftende Gruppen, die für das zugehörige Individuum Identitätsressourcen bereitstellt. Für den europäischen Raum ist hier die Frauge zu stellen, inwieweit Europa die Kriterien einer identitätsstiftenden Gemeinschaft erfüllt, die Zugehörigkeitsofferte unterbreitet, eine gemeinsame Kultur aufbaut und Identitätsressourcen bereitstellt.

Wir haben es nicht mit einer homogenen Landschaft zu tun. Die Wertelandschaft lässt sich, um Wittgenstein zu bemühen, mit einer alten Stadt vergleichen und ansehen als „ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“22 Ähnlich verhält es sich mit der Wertelandschaft. Werte verändern sich gewissermaßen organisch, unmerklich; sie verschieben sich, wenn sie im Alltag an Plausibilität verlieren, wenn sie an Bindungskraft eingebüßt haben. Werte können also auf ihre Bindungskraft, auf ihre „Dichte“ (Verankerung im Alltagsleben), auf ihre „Reichweite“ hin überprüft werden. Lebensformen und Werte sind miteinander verbunden; Änderungen der Lebensform lassen auch die Wertelandschaft verändern – eine Veränderung, die sich meist unmerklich und langsam vollzieht – dies war etwa die Erfahrung in manchen europäischen Städten während des ersten US-Irak-Kriegs, in denen sich „von innen“, aus einer europäisch-islamischen Perspektive Widerstand gegen den Krieg zeigte.

Auf diese Weise sind Werte und Identität eng miteinander verknüpft. Moralische Ressourcen sind Quellen für Bindungen – als Quellen für Bindungen sind sie auch Quellen für Identität, die ja durch Bindungen konstituiert wird. Die Identität einer Institution hängt von den Bindungen ab, die diese Institution an Menschen, an Produkte, an andere Institutionen, an Werte eingegangen ist bzw. erfahren hat. Auch die Identität eines Menschen wird durch die Bindungen bestimmt, die erfahren bzw. gewählt werden.

Werte haben zumindest drei Dimensionen: Eine kognitive Dimension, die mit Überzeugungen verbunden ist; eine affektive Dimension, die mit einer gefühlsmäßigen Färbung dieser Bindungen zusammenhängt; eine volitive Dimension, die diese Bindungen als Resultat wie Motor von Willensentscheidungen werden lässt. Aufgrund dieser drei Dimensionen gehen Werte auch entsprechend tief; sie rühren an die Identität. Wie verhält es sich mit politischen Werten? Wenn man unter Politik die Fähigkeit versteht, wahrlich im Sinne des Ganzen zu handeln23, dann sind politische Werte jene moralischen Ressourcen, auf die ein Gemeinwesen angewiesen ist, um als Gemeinwesen überleben zu können. Hier stellt sich die Frage: Welcher Wertemotor bewegt Europa und erhält Europa in Bewegung?

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