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2. Spezifisch europäische Werte?

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Welcher Wertemotor bewegt Europa? Gibt es spezifisch europäische Werte, die in einer besonderen Beziehung zu Europa stehen – etwa dadurch, dass sie hier ihren Ursprung und ihre weltanschauliche Ersteinbettung erfahren haben oder dadurch, dass sie in Europa in besonderer Weise entfaltet wurden oder gar dadurch, dass sie exklusiv für Europa Gültigkeit beanspruchen können? Diese drei Spielarten des Begriffs „europäischer Wert“ können nicht einfach nivelliert werden. Gibt es spezifisch europäische Werte in einem dieser drei Sinne?

Vor knapp fünfzig Jahren hatte Leopold von Wiese in einem Beitrag für „The British Journal of Sociology“ davor gewarnt, spezifisch europäische Werte anzunehmen.24 Die Rede von einem europäischen „Kulturkreis“ sei vernünftiger als die Rede von einer europäischen „Kultur“ mit spezifisch europäischen Werten. Selbst wenn man die Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und Personalität als Erbe von Humanismus und Aufklärung betrachte, könne man diese Aspekte nicht als exklusiv europäisch ansehen.25 Damit wird einerseits ein Hinweis auf zwei möglichen Quellen europäischer Grundwerte gegeben, andererseits vor Exklusivitätsansprüchen gewarnt. Europa hat im Laufe seiner Geschichte immer wieder Wertelandschaften bewegt; Christentum, die Aristotelesrezeption im Mittelalter, Humanismus, Aufklärung, Romantik – um nur einige zu nennen – können als umfangreiche Erdbewegungsarbeiten angesehen werden, die die Landschaft neu gestaltet haben. Eine Kulturlandchaft ist ja nicht nur, um Wittgensteins Bild zu erweitern, eine Stadt, sondern auch ein Muster von Wäldern und Feldern, Hügeln und Tälern, Dörfern und Sümpfen, Städten und Steppen. Veränderungen vollziehen sich mit unterschiedlicher Intensität, hinterlassen aber allemal Spuren. Die Rede von europäischen Werten verbindet sich häufig mit dem Anspruch der Spezifität (oder gar: Exklusivität) in Entstehungszusammenhang und Fragen der Interpretationshoheit einerseits und der Universalität andererseits. Dass sich hier der Verdacht einer neokolonialistischen Haltung einstellt, ist verständlich. Es ist deswegen immer an den Modus der Bescheidenheit zu erinnern, wenn man sich Gedanken über den europäischen Sonderweg macht.26

Historisch gesehen ist es möglich, von einem europäischen Sonderweg zu sprechen. Massenwohlstand, Freiräume und Menschenrechte können als Signaturen eines spezifisch europäischen Entwicklungsgangs angesehen werden. Der historisch begründete Sonderweg Europas, der durch Ansprüche und Erfahrungen von Expansion in die Welt, durch wissenschaftliche, politische und industrielle Revolutionen sowie durch Formen des Kapitalismus charakterisiert werden könnte, kann nach Christian Meier, auf den die folgenden Absätze sich immer wieder beziehen, auf die griechisch-römische Tradition zurückgeführt werden.27 Diese historische Rückführung kann mehr Raum beanspruchen als die bekannten Hinweise auf die geographische (Sonder)Ausstattung Europas, die sich mit folgenden Stichwörtern charakterisieren ließe: gemäßigtes Klima; Ausbleiben von Klimakatastrophen; vergleichsmäßig gut geeignete Böden; Verfügbarkeit von Wasser; unregelmäßige und anfangs geringe Besiedlung des Landes, was Transportund Handelsnotwendigkeiten mit sich brachte; Ausstattung mit vielen Gebirgszügen, was zur Herausbildung vieler Einheiten, damit zu Vielfalt und einer Pluralität von Autarkien führte. Diese Voraussetzungen wurden, so könnte man vorschlagen, über drei maßgebliche Metafähigkeiten umgesetzt und ausgenutzt: Erstens durch die Entwicklung eines Verständnisses, eines Ideals und einer Praxis von „Bildung“, die als Fähigkeitsfähigkeit verstanden werden kann, als Fähigkeit zur Koordination, Aneignung, Einordnung und Entwicklung von je weiteren Fähigkeiten; zweitens durch die Metafähigkeit der „Erfindung des Erfindens“, der Entwicklung von systematischen Wegen zur Entwicklung. Drittens durch die Meta-Fähigkeit des Neuen, des kreativen Anfangs, der Kunst des steten Neubeginns, der kulturellen und epistemischen Mobilität, der Fähigkeit zu einem steten Neubeginn. „Auf eigenartige Weise fing man in Europa immer wieder neu an.“28 Diese drei Metafähigkeiten zusammen statten Europa mit Flexibilität und Resilienz aus. Zugegeben, das sind kühne Thesen und grobe Pinselstriche, aber sie geben Fragerichtungen an die Hand, die Antworten erforschen auf die Suche nach der Eigenart Europas, die nur mit Blick auf die „longue durée“ erkundet werden kann.

Der griechischen Situation verdanken wir, um wieder auf Christian Meier zurückzukommen, die Idee des öffentlichen Gesprächs. Hier werden Diskursräume eröffnet und öffentlicher Vernunftgebrauch ermöglicht. Hier entsteht auf dem Hintergrund geringer Spezialisierung die Notwendigkeit, sich von anderen durch intellektuelle Eigenschaften und diskursive Fertigkeiten abzusetzen – und diese wiederum kulminieren in einer grundlegenden Metafähigkeit, der Fähigkeit, Fragen zu stellen, Fragen nach dem Ersten und Letzten, Fragen nach Gründen und dem letzten Grund, Fragen nach einem geprüften Leben. Diese Fähigkeit hat ein Bildungsideal begründet, das als Fähigkeit zur Metareflexion, verstärkt über die Aufklärung und deren Vernunftkritiken, prägend für die Idee der Entwicklung von Menschen geblieben ist.29 Entscheidend für den griechischen Beitrag zur Kulturbildung war die Bedeutung der Freiheit – nicht verstanden als persönliche Freiheit durch Interiorität, sondern als Freiheit in ihrer politischen Dimension. Die griechische Kultur beruhte nicht auf Institutionalisierung, Spezialisierung, Zentralisierung oder der Ausbildung von strikten Hierarchien.30 Missbrauch von Freiheit wurde durch die Einführung von argumentationsgeleiteten Schiedsgerichten eingedämmt und dadurch auch eine gewisse Öffentlichkeit des Diskurses über die Freiheit geschaffen. Selbstständigkeit und Öffentlichkeit sind denn auch zwei Stichwörter, die zur Charakterisierung des griechischen Verständnisses von Freiheitskultur herangezogen werden müssen. Die ökonomische Unabhängigkeit ermöglichte die an einem Vernunftideal, das sich von Zweckrationalität deutlich abhob, orientierte Diskurskultur, die das Gespräch auf das Argument bauen konnte und das Zusammenleben nicht auf die Instrumentalisierung von Menschen als Geschäftspartnern zu reduzieren brauchte. Hier wurde durch das öffentliche Gespräch tatsächlich eine von Haus und Arbeit unterschiedene Sphäre geschaffen, die als „Sphäre der Freiheit“ charakterisiert werden könnte.31 Noch einmal: Wir haben es hier weder mit der Idee innerer Freiheit noch mit der Idee egalitärer Freiheit zu tun. Und doch wurden durch diese Entwicklungen Voraussetzungen geschaffen, die sowohl dem persönlichen Vernunftgebrauch als auch der Idee der Demokratie entscheidende Impulse gaben. Die politische Freiheit paarte sich überdies mit einer neuen Verhältnisbestimmung von Kompetitivität und Kooperativität, schaffte die Öffentlichkeit doch Voraussetzungen dafür, im Vergleich mit den anderen hervorragen zu wollen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Idee eines die Öffentlichkeit konstituierenden Gemeinwesens. Ein wichtiges Werkzeug zur Erhaltung der Gemeinwesenidee waren die Idee von Maß und Maßhalten und diese wiederum rückgebunden an die Idee einer Ordnung, die über Willkür und Belieben hinausging. Auf diese Weise entstand ein kultureller Boden:

So waren die Griechen relativ offen, relativ verblüffbar, relativ stark zu Fragen angeregt; Fragen nach Maß und Gesetz, nach der Ordnung der Polis und der Welt; genauer: diese Offenheit war nicht nur diesem und jenem eigen, diese Fragen wurden nicht hier und da einmal laut, auf daß es damit dann sein Bewenden gehabt hätte. Sondern das Fragen war für diese Gesellschaft typisch. Weil es kaum vorgeprägte Antworten gab und keine inneren Schweigegebote ihnen gegenüber.32

Diese Beobachtungen lassen sich in der Gestalt des Sokrates noch deutlicher fest machen – hier finden wir die Kunst, Fragen zu stellen, die Kultur des öffentlichen Diskurses, der Primat des Arguments vor der Autorität.33

Neben der griechischen Kulturbildung kann der Beitrag der römischen Kultur als Pfeiler für den Aufbau des europäischen Sonderweges beschrieben werden.34 Die römische Situation baut die Kultur der Öffentlichkeit, die bereits in griechischen Demokratiemodellen verfeinert wurde, weiter aus und entwickelt eine Rechtskultur, die Ausprägung von Amtsautorität und Universalansprüche, auf dem Hintergrund von bemerkenswerter Assimilationskraft und der Etablierung von Latein als einer Lingua franca. Der vielleicht wichtigste Beitrag Roms zur europäischen Kultur war die Ausbildung einer politischen Ordnung mit dem Meisterwerk des römischen Rechts. Das römische Recht ließ die Notwendigkeit einer Rechtswissenschaft entstehen und verstärkte damit die in der griechischen Kultur grundgelegte Fähigkeit, explizit auf einer Metaebene über die Grundfesten des Zusammenlebens nachzudenken. Damit hängt auch ein feiner Sinn für Pflichten zusammen, der in einem Verständnis von der rechten Organisation des öffentlichen Raumes Ausdruck findet.

Dieser Sinn für Pflichten und die entsprechende Strukturierung des öffentlichen Raumes kann mit Ciceros klassischem Werk „De officiis“ exemplifiziert werden.35 In diesem 44 v. Chr. entstandenen und an den Stoiker Panaitios angelehnten Opus „De officiis“ (DO) beschäftigt sich Cicero systematisch mit Fragen einer Ethik des öffentlichen Dienstes hat. Ich greife einige Eckpunkte heraus: Cicero hält fest, dass kein Bereich des Lebens, weder die Sphäre des Öffentlichen noch die Sphäre des Privaten, von den Standards pflichtgemäßen Handelns und von der Verpflichtung zur ehrenhaften Lebensführung ausgenommen sein könne (DO I,4). Hier finden sich Strukturen einer rationalen Lebensführung: Die Frage nach dem pflichtgemäßen Handeln und damit nach den Standards der Handlungsbewertung kann nicht getrennt werden von der Frage nach dem höchsten und letzten Gut (DO I, 5 u. 7). Von hier aus ist auch das Maß für die Handlungsbewertung zu gewinnen. Die Erkenntnis des pflichtgemäßen Handelns nach Cicero ist einerseits die Einsicht in das höchste Gut, andererseits die Einsicht in die täglichen Vorschriften (DO I,7). Urteilskraft ist also auf praktischen Sinn für Alltägliches und die Weisheit angewiesen. Jene Weisheit, die den Status einer vorrangigen Tugend einnimmt, besteht im Wissen um die göttlichen und menschlichen Dinge (DO I,153), also im Wissen um Wesentliches und Höchstes. Reflexion wird in die Lebensform des verantwortungsvollen Menschen eingeschrieben. „Honestas“ und „decus“, Ehrenhaftigkeit und Schicklichkeit, werden zu den eigentlichen Eckpfeilern des pflichtgemäßen Handelns (DO I,17).36 Ein Mensch mit Verantwortung muss seine Identität in entsprechender Form durch feste Bindungen konstituiert haben, muss über Selbstdisziplin und Selbstverantwortung verfügen. Dieses (Selbst)Reflexionsniveau erlaubt es auch, den Blick auf das Ganze zu richten. Es ist nichts nützlich, was rücksichtslos ist (DO III,46). Es ist Zeichen eines hochsinnigen Menschen, den Blick – Rücksicht! – auf andere, auf das Gemeinweisen und auf das Ganze des Lebens zu richten. Hochgesinnte Menschen sind tapfer, gutgesinnt und aufrichtig (DO I,63), Freunde der Wahrheit. Cicero geht es um diese „viri fortes et magnanimi“ für Führungspositionen. Menschen sind politische Lebewesen, die dem Gemeinwesen etwas schulden. Wir nicht für uns selbst geboren, sondern das Gemeinwesen beansprucht zurecht einen Teil unseres Daseins (DO I,22). Die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft hängen mit den eigenen Potentialen zusammen: Selbsterkenntnis ist notwendig für den rechten Dienst an der Gemeinschaft: Jeder Mensch erkenne seine Begabungen und erweise sich als scharfsinniger Beurteiler seiner guten und seiner schlechten Seiten (DO I,114). Cicero verschränkt die Pflichten gegenüber der Gemeinschaft mit Pflichten gegenüber uns selbst. Die Pflicht zur Selbsterkenntnis und die Pflicht zur Erkenntnis des höchsten Gutes sind gleichzeitig soziale Pflichten mit politischen Implikationen. Der öffentliche Raum ist individualethisch relevant, umgekehrt ist aber die Persönlichkeitsbildung auf politische Tugenden angewiesen. Es geht um die Ausbildung einer Lebenshaltung, die die Zusammengehörigkeit der Menschen betont und dabei zwei Grundsätzen folgt: Niemandem zu schaden und klar zwischen Gemeingut und Privatbesitz zu unterscheiden und somit Gemeingut als Gemeingut und Privates als Privates zu behandeln (DO I,20). Das Gemeinwesen zu einer Quelle des persönlichen Profits zu machen, ist nach Cicero schändlich, verbrecherisch und gottlos (DO II,77). Der Mensch mit Verantwortung darf niemanden schädigen und hat dem Gemeinnutzen, also dem Ganzen des Gemeinwesens, dem Gemeinwohl, zu dienen (DO I,31). Ein Mensch, der an der Spitze eines Gemeinwesens stehen will, muss den Nutzen aller Beteiligten im Auge behalten und für den ganzen Organismus sorgen (DO I,85). Es ist verwerflich, nur einen Teil im Auge zu behalten und den Rest des Ganzen zu vernachlässigen. Auf diese Weise – Förderung des einen Teils, Vernachlässigung des anderen Teils – entstehen Aufruhr und Zwietracht. Es gilt, für alle Sorge zu tragen und die Interessen der anvertrauten Mitglieder des Gemeinwesens nicht auseinandertreten zu lassen, sondern alle mit einem klaren Gerechtigkeitssinn zusammenzuhalten (DO II,83). Besonders ist darauf zu achten, dass Menschen einander nicht übervorteilen – wenn ein Mensch durch den Nachteil eines Mitmenschen seinen eigenen Vorteil erhöht, wird langfristig die Lebensgemeinschaft der Menschen aufgehoben (DO III,21) – das sei nach Cicero noch mehr gegen die Naturordnung als Tod, Armut oder Schmerz. Hier werden die Grundfesten des Zusammenlebens erschüttert. Wenn jeder nach seinem Vorteil rafft, wird die Gemeinschaft zerstört (DO III,22). Cicero geht es wesentlich um die Bildung einer umfassenden und wechselseitigen Vorteilsgemeinschaft. Der Nutzen aller Einzelpersonen und der Nutzen der Allgemeinheit sind identisch zu halten – wenn alle nur auf ihren je eigenen Vorteil schauen, löst sich die Gemeinschaft der Menschen auf (DO III,26). Die Gemeinschaft, die Cicero vorschlägt, ist nicht nur nach Maßstäben der Leistungsgerechtigkeit bemessen: Eine besondere Fürsorgepflicht entsteht gegenüber den schwächeren Mitgliedern eines Gemeinwesens. Auch gegen Niedriggestellte ist Gerechtigkeit zu wahren und sicherzustellen (DO I,41). Die Mühe um Gleichheit in Recht und vor Gericht ist gerade mit Blick auf die Schwächeren zu unternehmen (DO II,85).

So entsteht in der antiken Kultur etwas ganz Neues – eine Kultur, die durch Staatsbürgertum und bürgerliche Freiheiten und entsprechende Rechte und Rechtssicherheiten gekennzeichnet ist. Dieses Recht ist freilich nicht ein Freibrief für Stipulation, sondern an die Idee des Guten gebunden, die Cicero noch mit universalen Ansprüchen klar zu machen sucht. Dadurch entsteht eine einzigartige Verknüpfung von Macht mit Recht und Weisheit. Dadurch verändert sich das Selbstverständnis des Menschen, der als „zoon politicon“ angewiesen ist auf eine strukturierte und koordinierte Gemeinschaft, die nach expliziten Regeln Macht verteilt und abstimmt. Die Idee des Bürgertums, die auf Recht und Ordnung, Freiheit und Autonomie angewiesen ist, mag hier als Zentralidee gelten.

Mit dem Eintritt des Christentums in den europäischen Kontext37 werden neue Akzente auf dem europäischen Weg gesetzt. Charles Taylor zeichnet in seinem Grundsatzwerk Konturen des Selbstverständigungsprozesses der Neuzeit nach.38 Mit der jüdisch-christlichen Tradition erfährt das Menschenbild eine historische Veränderung, die im griechisch-römischen Denken nicht auszumachen war. Entscheidende Beiträge des Christentums waren wohl einerseits das Verständnis der Bedeutung des Bedeutung des gewöhnlichen Lebens, das als tätig-produktives Leben im Dienst der Familie bejaht werden konnte und andererseits das Verständnis von Interiorität; die Überzeugung, dass Menschen Wesen mit Komplexität und Tiefe seien. Dies kann man deutlich im direkten Vergleich zwischen Cicero und Ambrosius von Mailand zeigen. Ambrosius von Mailand legt Ende des vierten Jahrhunderts mit seiner Schrift „De officiis ministrorum“ (DOM) eine Ethik des Handelns im öffentlichen (kirchlichen) Raum vor, indem er Grundideen von Cicero mit dem christlichen Zusammenhang in einen Dialog stellt.39 Neben bemerkenswerten Übereinstimmungen mit dem stoischen Gedankengut Ciceros finden sich Neuakzentuierungen, die vor allem mit der angesprochenen Interiorität des Menschen zu tun haben: „Behüte deinen inneren Menschen“ ruft Ambrosius den Kirchendienern und Kirchendienerinnen, also denjenigen, die zum Dienst in der Kirche gerufen sind, zu (DOM I,3,11).40 Oder auch: Wandle in deinem Herzen wie in einem geräumigen Haus! (DOM III,1,1). Das Innere des Menschen wird auch Ort für das gnadenhafte Wirken Gottes im Verborgenen. Gott ist es auch, der auf das Verborgene sieht; deswegen werden auch die inneren Regungen des Menschen in ihrer Bedeutung aufgewertet. Sittlich gutes Leben wird vor allem durch den Glauben an einen künftigen Richter gefördert (DOM I,26,124). Damit wird auch die Motivation gegeben, Standards pflichtgemäßen Handelns nicht aufgrund externer und unmittelbarer Rückmeldungen einzuhalten, sondern aufgrund eines Blicks auf das eigene Leben im Ganzen. So ist denn auch ersichtlich, dass die Kategorie des „Verborgenen“ im Unterschied zu Schein und Ansehen an Bedeutung gewinnt (vgl. DOM II,1,3) – das Sittlichgute zeigt sich auch und gerade im Verborgenen. Dieser Innenraum des Menschen ist zu pflegen und zu nähren – im Dialog mit einer Quelle, in der der Mensch nicht aus sich schöpft. Für Ambrosius steht fest: Ein Kirchendiener und eine Kirchendiener verstehen sich als Teil eines größeren Ganzen und sind angehalten, aus einer Quelle zu schöpfen, die nicht selbst geschaffen ist. Es gibt „nur einen wahren Lehrer. Er allein brauchte nicht lernen, was er alle lehrte; Menschen aber müssen erst lernen, was sie lehren, und empfangen von ihm, was sie anderen überliefem sollen“ (DOM I,1,3). Hier klingt denn auch der Primat des Hörens vor der Rede durch. Hier wird auch angedeutet, dass die Unausschöpfbarkeit des Inneren mit der Unerschöpflichkeit einer den Menschen übersteigenden Quelle zu tun hat. Arbeit am Inneren geschieht vor allem durch das Schweigen, dem Ambrosius – im Unterschied zu Cicero – eine gewichtige Bedeutung beimisst. Menschen mit Führungsverantwortung müssen damit nach Ambrosius die Fähigkeit haben, mit sich allein zu sein – und über Herz und Mund zu wachen (DOM I,3,10). Durch das Schweigen kann Behutsamkeit eingeübt werden (DOM I,2,7). Maßhalten in der Rede ist Schlüssel zum Inneren. Sie ist die erste Pflicht (DOM I,10,35).

Mit dieser Betonung der Innerlichkeit erhält die Seelenkraft des Menschen eine zentrale Bedeutung. Ein Mensch mit Führungsverantwortung muss sich durch Seelenstärke auszeichnen, durch seelischen Mut. Kraft der Seele ist mit der Tugend der Tapferkeit verbunden, die auch unter widrigen Umständen nach dem Guten streben lässt (DOM I,36,179). Tapferkeit ist erforderlich für die Selbstbeherrschung, die wiederum entscheidend für den Aufbau der Innerlichkeit ist. Innere Stärke zeigt sich in der Fähigkeit, „das Fleisch“ zu beherrschen (DOM I,36,181), wobei „Fleisch“ hier wohl für Leib und Begehren stehen dürfte. Innere Stärke (seelische Starkmut) manifestiert sich in zweifacher Art: Zum einen durch eine Geringschätzung (wir könnten sagen: eine maßvolle Relativierung) des Äußerlichen und Unwesentlichen, zum anderen im klaren Blick auf die höchsten Güter, im Blick auf das sittlich Gute und das Schickliche (DOM I,36,182). Innere Stärke zeigt sich im Freisein der Seele von Beunruhigungen (DOM I,37,186). Mit dieser Betonung von Schweigen und Innerlichkeit, Seelenstärke und Seelenregungen steht Ambrosius nicht allein. Viele patristische Schriften betonen Innerlichkeit und Seelenkraft. Die ägyptischen Wüstenmönche beispielswiese hatten in ihrer Identitätsarbeit die Innerlichkeit und den Segen der Einsamkeit entdeckt. Das Innere ist ein Gut, das behütet und geschützt werden muss – und dieser Schutz ermöglicht es auch, mit widrigen Bedingungen umzugehen. Palladius von Helenopolis beschreibt in seiner „Historia Lausiaca“ Beispiele für die Kultur der Innerlichkeit. Er wird nicht müde zu betonen, dass die Menschen für ihre Seele Sorge zu tragen hätten, und dass es Ordnungen für die menschliche Innerlichkeit gäbe: Die Einsiedelerin Alexandra etwa antwortet auf die Frage, ob ihr denn die Einsamkeit nicht zur Last werde, mit einem klaren Hinweis: „Ich bete vom frühen Morgen zu jeder Stunde bis zur neunten und spinne Leinwand, mache während der anderen Zeit im Geiste die Runde bei den heiligen Patriarchen, Propheten, Aposteln und Märtyrern und esse dann mein Stücklein Brot.“41 Auf diese Weise wird mittels eines Tagesplans, eines Rhythmus und einer gepflegten Regelmäßigkeit, mittels der Zugehörigkeit zu einer weiten unsichtbaren Gemeinschaft, mit einem Besinnen auf die grenzenlosen Möglichkeiten des Menschen, der sich Gott verbunden weiß, die Arbeit an der Innerlichkeit strukturiert und der Umgang mit Widrigkeiten ermöglicht. So wirkt das Äußere nach innen. Umgekehrt wirkt aber auch das Innere nach Außen, denn die Fähigkeit zur Einsamkeit setzt eine innere Kultur voraus.42 So heißt es in der Lebensbeschreibung des Antonius durch Athanasius über Antonius’ Fähigkeit zum Alleinsein:

Die Verfassung seines Innern aber war rein; denn weder war er durch den Missmut grämlich geworden noch in seiner Freude ausgelassen, auch hatte er nicht zu kämpfen mit Lachen oder Schüchternheit […]. Er war vielmehr ganz Ebenmaß, gleichsam geleitet von seiner Überlegung, und sicher in seiner eigentümlichen Art.43

Antonius verfügte über inneres Gleichgewicht und inneren Reichtum, was es ihm möglich machte, äußerliche Unbill und Kargheit zu ertragen. Innerer Reichtum lässt äußere Kargheit nicht einfach durchstehen, sondern bettet das Äußere in einen Deutungsrahmen ein, der es voll Möglichkeiten zur Transformation sieht. Auch Theodoret von Cyrus betont in seiner Historia religiosa aus dem fünften Jahrhundert die Seele als Zentrum der menschlichen Identität, die der Nahrung bedürfe und gepflegt werden wolle. Auch das Bild des Arztes findet sich für „innere Krankheiten“, also Krankheiten der Seele – etwa bei Evagrius Ponticus. Hier wird ein neues Kapitel des menschlichen Selbstverständnisses aufgeschlagen, das weiter die Selbstverständnisdiskussion des Menschen prägt.

Die geistesgeschichtliche Wende hin zu einem Menschenbild, das von Interiorität gekennzeichnet ist, bringen die „Confessiones“ des Augustinus. In dieser inneren Autobiographie schafft Augustinus ein neues genus litterarium und gleichzeitig etabliert er die Introspektion als Erkenntnismethode. In den „Confessiones“ wird das Innere des Menschen zum eigentlichen Identitätskern: Der Mensch muss einkehren in die „Wohnstätte seiner Seele“ (Conf X, 25, 36). Hier im Inneren begegnet er Gott. Durch die Seele steigt der Mensch auf zu Gott (Conf X,7,11). Der geistliche Mensch sieht mit inneren Augen, von innen her, mit den Augen Gottes (vgl. Conf XIII,31,46). Der Mensch hat durch seine Seele die Möglichkeit unhörbare Worte zu sprechen, eine Welt des Innen aufzubauen (Conf X,2,2). Nur der Mensch, der in sich einkehrt, findet, was in ihm ist. Augustinus beschreibt die „memoria“ als Ort, an dem ungeahnte Schätze zu finden sind (Conf X,8, 10–12). Das Bild des Raumes – Haus, Wohnstatt – findet sich immer wieder und lässt tief blicken. Es ist eine Leitmetapher für das menschliche Selbstverständnis – die Seele kann Eigenschaften wie ein Haus haben, weit sein, eng sein, aufgeräumt sein, schmutzig sein, leer sein … „Zu eng ist meiner Seele Haus“, schreibt Augustinus im ersten Buch (Conf I,1,5) – zu eng, um Gott eintreten zu lassen. Diese Gottferne lässt den Menschen nicht zu sich kommen; und diese Gottferne lässt den Menschen im Irrtum tappen. Das Innere des Menschen ist im Moment der Gottferne unausschöpfbar, weil der gottferne Mensch nach Augustinus nicht erkenntnisfähig ist; das Innere des Menschen ist aber auch im Moment der Gottnähe unausschöpfbar, weil dann Gott in der Seele des Menschen Wohnung nimmt. Das Motiv des Unausschöpflichen durchzieht die „Confessiones“: Vor Gott liegt der Abgrund des menschlichen Herzens offen (Conf X,2,2), ein Abgrund, den der Mensch selbst nicht ausloten kann. Nur Gott kennt die Seele in ihrer Tiefe. Und nur Gott kann das tiefe Sehnen der Seele heilen: Denn die Seele strebt und begehrt (vgl. Conf IV,2,3), sie will Ruhe finden in dem, was sie liebt (IX,10,15), kann aber nicht zur Ruhe kommen; solange sich des Menschen Herz nicht zu Gott wendet, bleibt sie in Schmerzen verhangen (Conf IX, 10,15). Das Motiv der Unruhe des Herzens prägt die „Confessiones“ vom ersten Abschnitt an (Conf I,1,1: „inquietum est cor nostrum donec requiescat in te“). Damit wird das Innere des Menschen unter irdischen Bedingungen im Modus der Unruhe und der Unausschöpflichkeit beschrieben.

Die Idee der „Innerlichkeit“ bringt die Überzeugung mit sich, dass das Innere eines Subjekts unausschöpfbar sei, nicht einmal vom Subjekt selbst, auch wenn es einen privilegierten Zugang zum eigenen Inneren gäbe. Die Bekenntnisses des Augustinus zeigen ein Menschenbild auf, das die Seele in den Mittelpunkt der Rede vom Menschen rückt, Gott als oberstes Ordnungsprinzip der Seele darstellt, dem menschlichen Willen und dem menschlichen Erinnern eine genuine Rolle in der Seele des Menschen zuerkennt und die Selbstsorge zum Prinzip der Lebensgestaltung erhebt. Durch diese bei Augustinus angelegten Strukturen des Selbst entsteht eine Konzeption des Selbst auf der Grundlage von drei Vermögen – „das der desengagierten Vernunft – samt der damit verbundenen Ideale der selbstverantwortlichen Freiheit und Würde –, das der Selbsterkundung und das der Bindung durch persönliche Entscheidung.“44 Das Gefühl der Innerlichkeit wird konstitutiv für das europäische Verständnis des menschlichen Selbst. „Wir sind Geschöpfe mit innerer Tiefe, mit einem Inneren, das zum Teil unerforscht und dunkel ist.“45 Durch die Idee eines Selbst wird nicht nur die Weltwahrnehmung perspektivisch, je persönlich, sondern auch eine Perspektive auf die eigene Innerlichkeit eröffnet. Diese Wende zu einem neuen Menschenbild hat auch Konsequenzen für die Rede von Toleranz, Barmherzigkeit, Solidarität oder auch Gleichheit.

Auch die zweite große Veränderung durch das Christentum – die „Bejahung des gewöhnlichen Lebens“ – bringt Konsequenzen für Werte wie Gleichheit und Solidarität mit sich. Diese Entwicklung bringt die Überzeugung mit sich, dass das Heil des Menschen nicht nur in spirituellem Elitismus und anspruchsvoller Askese zu finden sei. Der Weg zum Heil wird damit nicht notwendigerweise als „Rückzug von der Welt“ und Aufbau einer (wie auch immer inneren) Gegenwelt dargestellt, sondern kann „inmitten“ (der Gemeinschaft, der Welt, der vita activa) erfolgen. Damit geht vor allem auch eine Aufwertung der menschlichen Arbeit einher.46 Diese Bejahung des gewöhnlichen Lebens hat à la longue auch Auswirkungen auf die Wissenschaft und die Idee, dass sie dem gewöhnlichen Leben zu dienen habe.47 Man wird sich angesichts dieses Beitrags des Christentums für das europäische Selbstverständnis durchaus fragen müssen, welche Bedeutung die jüdisch-christliche Tradition für die europäischen Werte haben soll.48 Das Christentum mit seinem Bekenntnis zur Würde der Person mit ihrer seelenhaft verfassten Innerlichkeit, mit seinem Bekenntnis zur solidaritätsmotivierenden Gleichheit der Menschen und seiner Lehre von der Kongruenz zwischen Vertikalität und Horizontalitat in den beiden Liebesgeboten hat tatsächlich Menschenbild, Weltbild, Gesellschaftsbild nachhaltig geprägt – das betrifft erstens das Verhältnis von Religion und Staat: Mit dem universalen Anspruch des Christentums endet die antike Einheit von Staat und Religion. „Das Verhältnis von Staat und Kirche im Sinne eines rechtlich geordneten Gegenübers von weltlichem Gemeinwesen und rechtlich selbständigen Religionsverbänden ist eine Hervorbringung des Christentums.“49 Der Staat wird im Christentum zu einer vorletzten Ordnung, die sich gegenüber höheren Instanzen zu verantworten hat. Das Christentum als Rahmen hat Ressourcen dritter Ordnung bereitgestellt und neue Kraftwerke für moralische Ressourcen geschaffen. Jürgen Habermas hat folgende Formulierung gefunden:

Das Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufergestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechte und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative.50

Einen besonderen Beitrag zum europäischen Sonderweg finden wir schließlich auch im Mittelalter – dazu einige andeutende Bemerkungen, die am ehesten den Charakter von Erinnerungen („reminders“) haben: Max Weber hatte die mittelalterliche Stadt seinerzeit durch Autonomie, Rechtssicherheit (rationale Gerichtsverfahren), Bürgerlichkeit und aktives Unternehmertum unter Einschluss von Konkurrenz charakterisiert. Das Mittelalter prägt das moderne Europa, dem es technische Entwicklungen, Handelskulturen und eine neue Politik (moderne Nationalstaaten; die Idee der Demokratie, wie sie durch Bettelorden und Klöster noch weiter verfeinert wurde; die Säkularisierung der Politik; eine Umwandlung internationaler Beziehungen unter Formulierung eines präzisen Feindbilds) bereitstellte. Nach Jacques LeGoff sind es vor allem vier Aspekte der mittelalterlichen Geschichte, die das moderne Europa prägten: die agrarische Tradition mit ihrer Behandlung des Bodens – das Feudalsystem wurde schrittweise abgeschafft; die funktionstüchtigen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie; die Vielfalt im staatlichen Bereich; die Entwicklung kultureller Vorbilder (Heilige, das Ideal der Höflichkeit und des höfischen Benehmens; die Entwicklung der Urbanität).51 Die Urbanisierung darf als Schlüssel zur Neuzeit denken – hier entwickeln sich internationaler Handel und moderner Kapitalismus; hier bilden sich neue Stände heraus. Man denke an den Stand der Kaufleute oder an den Stand der Intellektuellen.52 Die Kaufleute schafften Luxusgüter für die Adelsschichten und Güter des täglichen Gebrauchs, was mit Transportmöglichkeiten, einem Sinn für eine erweiterte Geographie und auch der neuen Stadtkultur zusammenhing – reziprok bedingen hier einander die urbanen Notwendigkeiten von Statussymbolen und die durch den Handel erschlossenen Optionen auf seltene Güter. Die Naturalwirtschaft wird durch die Einführung einer Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis, die vor allem auch mit den Kriterien der Seltenheit und der Beschwerlichkeit der Anschaffung gerechtfertigt wurde, durchbrochen. Der Stand des Kaufmanns selbst durchbrach auf zweifache Weise die etablierte soziale Ordnung – zum einen durch die Notwendigkeit, sich Bildung anzueignen, um die Geschäfte tätigen zu können (Fremdsprachen, Orientierungssysteme, Kalkulation, Logistik); zum anderen durch die Möglichkeit, das Privileg der adeligen Geburt durch persönliche Vermögensbildung zu relativieren. Durch den Reichtum mancher Kaufleute wurden etablierte soziale Hierarchien infrage gestellt. Buchhaltung und Bankwesen können nicht von diesen neuen Formen der Existenzgestaltung nicht getrennt werden. Ähnlich neu ist die Gestalt des Intellektuellen die das Privileg von Klerikern auf die primären Bildungsgüter langsam auflösten. Die Entstehung der Universitäten schaffte einen neuen Blick auf die nichtmanuelle Arbeit, die sich zwischen Kunst und Wissenschaft etablieren konnte.53 Durch diese sozialen Umbrüche entstehen neue Umgangsformen und Regelwerke, neue Formen der Etikette, der Rollenerwartungen und der Verhaltensabstimmung. Die Stadtkultur brachte das Zusammenleben vieler Menschen auf engem Raum mit sich, was hygienische Herausforderungen, die Notwendigkeit von Höflichkeit und Umgangsformen, von Arbeitsteilung und Verwaltungsapparaten mit sich brachten. Neue Formen von sozialer Schichtung und sozialer Exklusion kamen auf, Wohltätigkeit wurde schrittweise monetarisiert und institutionalisiert. „Urbanität“ und „Zivilisiertheit“ wurden als Wertbegriffe und Ausdruck eines Selbstverständnisses eingeführt, mit „feiner Lebensart“ verbunden, einer bestimmten Feierkultur und der neuen Erfindung des Luxus. Die Arbeiten von Norbert Elias haben hier manche Schneise geschlagen.54

Diese Hinweise könnten sich unter dem Stichwort „Flexibilität“ (Fähigkeit zum Neuanfang) zusammenfassen lassen. Die Widerstandskraft im europäischen Raum, sich von Veränderungen und Tiefschlägen – auch nicht von der verheerenden Pest Mitte des 14. Jahrhunderts – brechen zu lassen, mag als ein Signum des europäischen Sonderwegs angesehen werden. Illustriert werden diese Entwicklungen in Umberto Ecos bemerkenswertem Roman „Der Name der Rose“, der Anhaltspunkte für die Lokalisierung von Aufklärung im Mittelalter finden lässt.55 Der Roman zeigt deutlich den Konflikt zwischen religiösen und säkularen Autoritäten auf, zwischen empirischen und spekulativen Wissenschaften. Tatsächlich wurde das Jahr 1277 zu einem symbolischen Jahr, in dem erstmals lehramtliche Autorität und theologische Expertise in institutioneller Form in Konflikt gerieten.56 Es gibt durchaus Anhaltspunkte für die These, dass sich im 13. Jahrhundert eine erste Aufklärung ereignete, ausgehend vom arabischen Raum, der die aristotelischen Werke überliefert hatte und damit wissenschaftstheoretische Revolutionen einleitete.

Es würde sich im Zusammenhang mit einem Blick auf das Mittelalter auch lohnen, in einem eigenen Diskurs über den Beitrag des Islam zur europäischen Idee nachzudenken. Die erwähnte „Aufklärung im Mittelalter“ ist jedenfalls ohne den Einfluss des Islam nicht denkbar. Der Islam schaffte durch das Bekenntnis zum Koran als einem arabischen, heiligem Buche Grundlagen für die Bedeutung von Bildung (Alphabetisierung, Sprachwissenschaft, Grammatik) und entwickelte auf der Grundlage der medizinischen Kunst eine Philosophie, die sich mit empirischen Untersuchungen der Natur anfreunden konnte und zudem ein unkompliziertes Verhältnis zum menschlichen Körper entwickeln konnte, was der platonisch-christlichen Tradition deutlich schwerer fiel. Der arabische Einfluss in Spanien brachte zudem erste Hochblüten der Urbanisierung durch die Einführung von Luxusgütern und einer Kultur, die sich etwa in Musikinstrumenten, einer jahreszeitlichen Anpassung der Kleidung und der Einführung einer Essenskultur (Speiseabfolge) niederschlagen konnte. Diese dürren Andeutungen sollen jedenfalls den Verdacht zerstreuen, hier werde die religiöse Grundlage Europas allein auf jüdisch-christliche Quellen reduziert – wobei über die keltisch-germanischen Wurzeln auch gesprochen werden könnte.

Der europäische Sonderweg wurde auch wesentlich durch die Aufklärung geprägt. Grundideen dieser breiten und tiefen und nachhaltigen Veränderung der geistesgeschichtlichen Landschaft finden sich in den beiden Vorreden zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Kant spricht in seiner ersten Vorrede von 1781 davon, dass die Vernunft an ihre eigenen Grenzen stößt – gerade dadurch, dass sie ihr Geschäft betreibt. Das beschwerlichste aller Geschäfte ist das Geschäft der Selbsterkenntnis und eben dieses Geschäft ist so zu betreiben, dass die Vernunft – über eine Kritik der Vernunft – einen Gerichtshof vor sich und in sich findet. Eine Metareflexion auf Gebrauch und Grenzen der Vernunft wird zum Kerngedanken der kritisch aufgeklärten Aufklärung. In der Vorrede zur zweiten Auflage von 1787 thematisiert Kant die Frage nach dem Vertrauen in die Vernunft und kommt auf die praktische Vernunft zu sprechen, indem er den berühmten Hinweis gibt, das er das Wissen aufheben musste, um zum Glauben Platz zu bekommen. Vernunftkritik wird hier mit der Frage nach dem guten menschlichen Leben zusammengebracht. In der Dezembernummer der Berlinischen Monatsschrift von 1784 erschien Kants berühmter Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“. Aufklärung wird hier bekanntlich als Prozess der Befreiung des Menschen aus einem Zustand von Urteilsunfreiheit beschrieben – aus einem Zustand der Unfähigkeit, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Damit wird der je individuell zu kultivierende Vernunftgebrauch zur obersten Instanz und bereitet damit die Einsichten in den Gewissensbegriff vor, den wir ein Jahrhundert später bei John Henry Newman finden. Kant schlägt auch hier eine Brücke zwischen Metaphysik und Ethik, indem er die Tugendlehre mit dem Aufklärungsdiskurs verklammert und Faulheit und Feigheit als die Ursachen für die verbreitete Unmündigkeit der Menschen ausweist. Dazu kommt die politische Dimension dieser Überlegungen. Die Aufklärung zeigt sich allein in diesen drei Texten nicht als harmlose, individualisierende Betrachtung des Vernunftgebrauchs, sondern als Vernunftkritik mit politischen Implikationen und dem Anspruch, Standards für das gute (von Einsichten in Pflichten bestimmte) Leben und Zusammenleben. Entscheidend sind die Metaebene der vernünftigen Reflexion auf den Vernunftgebrauch und die Selbstletztinstanzlichkeit der Vernunft, die nicht vor einem weiteren Gerichtshof stehen kann, dessen Richter/innen nicht wieder die Vernunft stellt.

Im Zusammenhang mit der Reflexion auf die Aufklärung verdanken wir Max Weber den Begriff der okzidentalen Rationalität. Damit wird ein spezifisch europäisches Verständnis von Vernunft behauptet, das gleichwohl universale Gültigkeit habe.57 Weber assoziiert die moderne okzidentale Rationalität mit dem bürgerlichen Betriebskapitalismus und dessen rationaler Organisation der freien Arbeit; mit dem politischen Anstaltsstaat und dessen Monopol des legitimen Zwangs und schließlich mit der empirisch-historischen Wissenschaft, die an einer „Entzauberung der Welt“ arbeite und die Welt in kausale Mechanismen zu verwandeln suche. Von diesen Faktoren habe sich der Betriebskapitalismus als die schicksalsvollste Macht erwiesen, die mit einer berechenbaren Rechtspflege, organisierter Verwaltung und einer Entwicklung der mathematischen und experimentellen Wissenschaften einhergegangen war. Entscheidend für den Menschen im Kontext dieser Entwicklungen wird das Projekt einer rationalen Lebensführung, die als Selbstbeherrschung und Weltbeherrschung einen Zug sowohl nach Innen als auch nach Außen hat. Die rationale Lebensführung auf der Grundlage des Berufslebens führt zu dem, was Weber „Berufsmenschentum“ genannt hat. Hier schließt sich Webers berühmte These an, dass dieses Berufsmenschentum sich mit dem Geist der christlichen Askese gepaart habe, der die Entwicklung des Kapitalismus als Bändigung der irrationalen Triebe erst ermöglicht habe. Diese Bändigung zeige sich in der Trennung von Haushalt und Betrieb, in der rationalen Buchführung und in den technischen Möglichkeiten und den Anforderungen der Exaktheit. Die Idee, den Kapitalismus auf der Grundlage spirituellen Kapitals anzusiedeln, hat nicht an Aktualität eingebüßt. Webers Überlegungen, dass Sparen eine Form der Distanzierung zur Welt impliziere und diese erst motiviert werden müsse, dass der Kapitalismus den Habitus des Sparens und damit lebensformprägende Gewohnheiten hervorbringe und diese über Disziplinierung (Einteilung von Zeit, Hinhabe an eine überpersönliche Sache, Arbeit) zu organisieren sei, hat wenig von Überzeugungskraft eingebüßt.58

Okzidentale Rationalität steht in engem Zusammenhang mit der Moderne. Die Moderne wird in der Regel durch Stichworte wie Aufklärung, Hermeneutik, Bewusstsein von Geschichtlichkeit, Teleologie des Geistes, Industrie und Nationalstaat, Klassen, funktionale Differenzierung, Männer- und Frauenrollen, wissenschaftliche Letzturteilsinstanz, Wahrheitssuche, Berechenbarkeit, Beschleunigung, Fortschrittsglauben, technologischer Optimismus charakterisiert. Vernunft und Autonomieideal prägen die Moderne, die philosophisch gesehen mit dem Projekt gesicherter Erkenntnis und begründeter Geltung beschäftigt ist. René Descartes gilt im philosophischen Kontext als Vater der Moderne, weil er das unerschütterliche Fundament für menschliches Erkennen und eine Methode für den Erkenntnisfortschritt aufzuspüren versucht hat. Nietzsche mit seinem Bekenntnis zum Individuellen, zum Lebendigen und Unberechenbaren, mit seiner Betonung des Willens und des Leidenschaftlichen, wird geistesgeschichtlich als Drehscheibe eines Eintritts in eine Postmoderne situiert. In diesen geistesgeschichtlichen Zuschreibungen liegen moralische Ressourcen, verheißt doch die Moderne bestimmte Formen menschlichen Zusammenlebens. Als identitätsstiftende Merkmale Europas zählt Jürgen Habermas auf: Säkularisierung, Staat vor Markt, Solidarität vor Leistung, Technikskepsis, Bewusstsein für die Paradoxien des Fortschritts, Abkehr vom Recht des Stärkeren, Friedensorientierung aufgrund geschichtlicher Verlusterfahrung.59 Diese Liste macht deutlich, dass die Erfahrung des Krieges mit seinen Lektionen einer Banalität des Zweckrationalen die Moderne mit ihren Verheißungen von Wachstum und Fortschritt gebremst haben. Im August 1914 hat die Moderne nach der Wahrnehmung des englischen Historikers Hobsbawm ihre Unschuld verloren, eine Ära ist zu Ende gegangen.60 Dieses Zu-Ende-Gehen wird im Zweiten Weltkrieg noch einmal verdichtet: Zygmunt Bauman hat darauf hingewiesen, dass bestimmte Momente der Moderne in der Lesart Max Webers – moderne Bürokratie, wissenschaftliche Wertefreiheit, Machbarkeitsideologie – Teil des Programms von Auschwitz gewesen waren. Wegbereiter einer philosophischen Diskussion waren neben Wittgensteins Spätphilosophie der Sprachspiele denn auch die beiden philosophischen Klassiker „Dialektik der Aufklärung“ (Kritik am Vernunftbegriff der Moderne) und „Negative Dialektik“ (Kritik an der Universalgeschichte). Auf diesem Hintergrund wird die Moderne als weltanschauliche Auskunftsquelle europäischer Selbstvergewisserung zur Herausforderung des Umgangs mit Differenz und dem Nichtmachbarem – zum Umgang mit jenen Bereichen also, die sich den Versprechungen der Moderne von Einheit und Machbarkeit widersetzen. Dabei bleibt die Modernisierung für das europäische Projekt mit ihren Tendenzen einer Durchsetzung politischer Zentralgewalten, der Ausbildung politischer Teilhaberechte, von formaler Schulbildung, der Herausbildung urbaner Lebensformen und der Säkularisierung von Werten richtungweisend für die europäische Identität.

Mit derartigen Pinselstrichen lässt sich ein europäischer Sonderweg herausarbeiten, der mit Begriffen wie „Freiheit“, „Öffentlichkeit“, „Recht“, „Innerlichkeit“, „gewöhnliches Leben“, „Flexibilität“, „Vernunftkritik“ beschrieben werden kann. Charles Taylor und Max Weber weisen dabei auf eine Spannung im europäischen Prozess der Selbstverständnisdiskussion hin: Wir haben es hier mit „Innen“ und „Außen“, mit „Implizitheit“ und „Explizitheit“, mit „Selbstgefühl“ und „Selbstverständigung“ zu tun. Respekt vor Subjektivität und Respekt vor Unparteilichkeit gelten gleichermaßen und gleichzeitig. Das mag paradox klingen – aber wenn man einen zweiten Blick auf diese Materie wirft, kann man erkennen, dass diese beiden Aspekte einander bedingen. Vernunft als je persönliches Vermögen, das nicht mechanisch funktioniert und maschinell abgebildet werden kann, ist auf die Idee der Innerlichkeit verwiesen; und gerade deswegen ist Vernunftkritik auch außerhalb einer Politischen Philosophie möglich. Andererseits wird die Vernunftkritik gerade in der Politischen Philosophie wirkmächtig verortet.61

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