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EUROPÄISCHE PERSPEKTIVEN Manfred Prisching Solidarität und europäische Lifestyles
ОглавлениеMit den großen Werten der Freiheit und Gleichheit hat es immer ein bisschen weniger Schwierigkeiten gegeben als mit dem dritten Begriff, der Brüderlichkeit; auch wenn unter allen diesen Werten die Menschen immer Vieles und Unterschiedliches verstanden haben.1 Aber die „Brüderlichkeit“ hat etwas Altertümliches an sich, und das wird nicht viel besser, wenn sie durch „Geschwisterlichkeit“ ersetzt wird. „Solidarität“ scheint demgegenüber der modernere Begriff für jene Haltung zu sein, die mit diesen Worten gemeint ist. Um ihn gruppieren sich Assoziationen wie Wohltätigkeit, Menschenliebe, Sympathie, Wohlwollen, Altruismus, Empathie, Vertrauen oder Loyalität. Noch modernere Begriffe finden sich im Umfeld: von der „Vergemeinschaftung“2 über die „gesellschaftliche Integration“3 bis zur „sozialen Inklusion“4. Der ehrwürdige Begriff hat aber deswegen seine Relevanz nicht verloren, denn nicht so selten werden wir zur Solidarität mit den Armen der Dritten Welt aufgerufen, zur „Frauensolidarität“5 und zur „Generationensolidarität“6, ja selbst zur Solidarität mit der Tierwelt oder der Natur.
Die „Werte“, und schon gar die großen, haben es an sich, dass sie im gesellschaftlichen Wandel jeweils neu gedeutet werden müssen. In einer Gesellschaft, die man als spätmoderne oder postmoderne, als „zweite“ oder „reflexive Moderne“ bezeichnen mag, die jedenfalls durch das Postulat der Individualisierung und Pluralisierung sowie durch eine bunte Vielfalt von Lebensstilen7 gekennzeichnet ist, stellt sich die Frage nach der Solidarität anders (a) als in einer traditionellen Gesellschaft der frühen Neuzeit, (b) als in einem gleichermaßen prekären wie dynamischen Industrialisierungsprozess des 19. Jahrhunderts, (c) als im Zeitalter des Aufschwungs des „Nationalismus“ im 19. Jahrhundert, jener Epoche, in der es selbstverständlich war, dass die Bezugsgröße für „solidarische Gefühle“ die eigene Nation war, (d) als in einem tayloristischen Expansionismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, (e) in einer wohlfahrtsstaatlichen Konsolidierung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, (f) als im Zeitalter der Durchsetzung des „Globalismus“ an der letzten Jahrhundertwende, wo von der Solidarität häufiger dann die Rede ist, wenn multikulturell-kosmopolitische Verpflichtungen wachgerufen werden sollen oder Asyl- und Menschenrechtsverhältnisse zur Diskussion stehen. Da sich in den letzten Jahrzehnten alle sozialen Verhältnisse, die festgefügt schienen, aufzulösen beginnen in Milieus, Identitäten und Lifestyles, ist es angemessen, auch eine Verortung der Solidarität in diesem Ambiente vorzunehmen.