Читать книгу Solidarität - Группа авторов - Страница 19

5. Unverbindliche Solidarität

Оглавление

Die Sehnsucht nach Gefühlen der Solidarität und der Gemeinschaft ist auch in der zweiten Moderne lebendig, und dennoch wollen die meisten die damit verbundenen Kosten nicht tragen. Die Lösung ist die „temporäre Vergemeinschaftung“.32 Mit ihr hat man beides: im lockeren Alltagstreiben die Liquiditäten und Unverbindlichkeiten, eine Situation, in der man sich an nichts halten muss, aber alles beanspruchen kann; und in den aus der Zeit gebrochenen Events das freigewählte Erleben von Gemeinsamkeit, deren Verbindlichkeit durch einen Blick auf die Uhr ausgelöscht werden kann. Freisetzung des Individuums und Einbettung in die Masse; Gemeinschaftlichkeit ohne Nachteile; zugleich ganz für sich und ganz mit den anderen sein – man kann alles haben, und das sofort. Welch großartige Lösung für eine Gesellschaft, die eine Versagung jedweder Option als Skandal empfindet und die Trade-offs des Lebens illusionistisch wegwischt.

Die Temporalität ermöglicht eine Solidarisierung, die keine weiteren Folgen hat. Im Unterschied zu „echten“ Gemeinschaften mit „echten“ Solidaritätsgefühlen existieren posttraditionale Vergemeinschaftungen, solange die Mitglieder an ihre Existenz glauben und daran teilhaben. Mitgliedschaft beruht auf Attraktivität, nicht auf Zwang. Über sie wird entschieden, sie ist nicht selbstverständlich. Die Gemeinschaftlichkeit beruht auf dem Willen der Mitglieder, und dieser kann jederzeit versagt oder widerrufen werden. Manifestationen der Gemeinschaft sind als richtig angesehene Verhaltensweisen, Signale, Embleme, Zeremonien, Attitüden, Relevanzauffassungen, Kompetenzen.33 Wenn der Mensch der Postmoderne zeitweilig seine Individualität suspendieren, die Qual der permanenten Selbstverortung und Selbsterfindung loswerden möchte, dann kann er – risikolos und temporär – Teil eines größeren Ganzen werden. Aber es sind überschaubare Versionen von Solidarität: die Begeisterung der Zuhörer und Zuhörerinnen beim Popkonzert; das stundenweise Engagement bei der kämpferischen Demonstration gegen den Wirtschaftsgipfel; die Protestaktion der Schulklasse gegen die Ausweisung einer beliebten ausländischen Mitschülerin.

Es bedarf offensichtlich in den meisten Fällen des Gefühls der Unvermeidlichkeit, um dann Solidarität auszuüben, wenn sie etwas kostet. Die üblichen Interaktionen sind temporär, zufällig, präferenzengesteuert. Keine dauerhafte Gemeinschaft, sondern temporäre Vergemeinschaftung; keine festen Gefüge, sondern lose Netzwerke: „Während ‚Brüderlichkeit‘“, meint Zygmunt Bauman,

existierende Strukturen voraussetzt, die das entsprechende Verhalten vorab definieren und festlegen, verfügen Netzwerke über keinerlei Vorgeschichte: Sie entstehen erst im Verlauf der Interaktion und können nur durch fortlaufende Kommunikation aufrechterhalten bzw. permanent neu geschaffen oder wiederbelebt werden. Im Gegensatz zu einer Gruppe oder anderen „sozialen Gefügen“ sind Netzwerke auf den einzelnen zugeschnitten, der in ihrem Mittelpunkt steht.

Die Netzwerkbeziehungen sind fragil, „so flüchtig wie die Identität des zentralen ‚Knotenpunkts‘, der der Schöpfer, Eigentümer und Manager seines eigenen Netzwerks ist.“ Beziehungen sind nur noch Beziehungen: „Es handelt sich um leicht zu lösende, eindimensionale und voraussetzungslose Bindungen ohne feste Dauer und langfristige Verpflichtung.“34

Gleichwohl gibt es zuweilen auch stabile Netzwerke, „gefühlte“ Vergemeinschaftungen; gerade deshalb, weil sich die „schicksalhaften“ Vergemeinschaftungen weniger aufdrängen als je zuvor. Denn die Schwächung der Schicksalhaftigkeit lässt freie Valenzen zu, auch für „Wahlgemeinschaften“, in denen der „gemeinsame Geist“ nicht als umfassender Lebenszusammenhang aufzufassen ist, wie dies Tönnies unterstellt hat, sondern als eine partikuläre Gemeinsamkeit von Geisteswelt oder Stimmungslage: ein Geist, der sich an Orten ballt und wieder löst. Entscheidend ist, dass wir – in einer bestimmten Situation – gemeinsam fühlen. Events sind ganz besonders jene „Knoten“, an denen die gemeinsame Orientierung sinnlich erfahrbar wird.35 (Freilich war dies schon immer der Fall: Die christlichen Kirchen wussten schon, warum sie die „Sonntagspflicht“ in ihren Geboten verankert und beeindruckende Inszenierungen wie eine Fronleichnamsprozession angeboten haben.) Events bieten die dramaturgisch-emotionelle Verdichtung von Authentizität, die außeralltägliche Erfahrung von Wesen und Sinn; in einem verfügbaren Ambiente den Anschluss an die Unverfügbarkeit. Sie sind also nicht nur Ausdruck prekärer Solidaritätsgefühle, sie stiften auch ein wenig Solidarität. Nur darf man diese in der zweiten Moderne nicht besonders strapazieren.

Solidarität

Подняться наверх