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Das Kreuz und der Halbmond
ОглавлениеDie erste internationale Konferenz trat 1863 in Genf zusammen, einer Stadt, in der später der Völkerbund seinen Sitz haben wird und die sich als „Stadt des Friedens“ entwirft. Sie ist die Speerspitze einer Schweiz, die sich zugleich als Meisterin der Neutralität und als Pionierin auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts profilieren will. Ihre Konventionen zielten auf das Asylrecht ab sowie auf den Schutz der Verwundeten, Kranken und Kriegsgefangenen. Die Kodifizierung des Rechts ging mit der Einrichtung von Institutionen einher: auf der einen Seite ab 1863 das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und auf der anderen die nationalen Gesellschaften, die auf örtlicher und nationaler Ebene oft ältere Initiativen der Zivilgesellschaft integrierten, um den Kriegsopfern beizustehen.
Eine der ersten Herausforderungen für diese neue Galaxie von Institutionen war die Gründung des Roten Halbmondes im Jahr 1876 im Anschluss an ein Ansuchen der Hohen Pforte. Im Kontext der damaligen Konflikte auf dem Balkan wurde die Gründung eines muslimischen Vereins ursprünglich als häretisch, weil unvereinbar mit dem eigentlichen Begriff der christlichen Nächstenliebe, auf dem die Initiative von Dunant aufbaut, angesehen. Die Aktion der Bewegung nahm jedoch am Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Balkankriegen und vor allem mit dem Ersten Weltkrieg eine universellere Dimension an. Die Hilfe erstreckte sich nun mehr und mehr auch auf die Zivilbevölkerungen, die Opfer von internationalen Konflikten, Bürgerkriegen oder Naturkatastrophen sind. Die Aufgaben ergeben sich seither nicht mehr bloß aus dringlichen Situationen, sondern verweisen auch auf alltägliche Praktiken wie die Blutspenden oder die Bereitstellung von medizinischem Gerät. Die nationalen Gesellschaften vereinen nun 105 Millionen Freiwillige in 186 Ländern, was aus dieser Bewegung das größte humanitäre Netz auf der Welt macht. Kann man dann aber noch von einem europäischen Erinnerungsort sprechen?
Das Emblem des Roten Kreuzes ist nunmehr universell. Die Gesichter seiner Angestellten von Nicaragua über Palästina oder Südafrika bis hin zu Japan zeugen von einer Ausstrahlung, die weit über die europäischen Länder hinausgeht. Dennoch spiegelt die Aktion des Roten Kreuzes auf dem Kontinent manche der heikelsten Fragen des 20. Jahrhunderts wider. Über die vom IKRK gesammelten Zeugenberichte und audiovisuellen Archive hinaus gibt es zahlreiche lebendige Spuren der Initiativen des Roten Kreuzes. Der Wechsel der Generationen beeinträchtigt nicht vollständig die Weitergabe von persönlichen Erinnerungen, die mit der Identifizierung eines in Gefangenschaft geratenen Angehörigen, mit der Postverbindung zwischen Gefangenen und Familien oder auch mit dem Schutz hungernder und/oder vertriebener Zivilisten während eines der Weltkriege zusammenhängen. Die Erinnerungen sind jedoch nicht immer von Dankbarkeit geprägt. Eine Form von Unverständnis oder Zorn bleibt angesichts der Ohnmacht der Bewegung gegenüber dem Naziregime spürbar. Die Tatenlosigkeit des IKRK angesichts der Massenverhaftungen der Juden, der Deportationen und der Barbarei in den Lagern ist gleichbedeutend mit einer Tragödie innerhalb der Institution und mehr noch in den Familien, die keine Hilfe erhalten haben.