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Die Wirklichkeit der Seele
ОглавлениеOhne eigentlich Frucht des Naturalismus zu sein, konnten sich auch Kautskys politisch ausgerichtete Romane erst in seiner Atmosphäre entfalten. Doch noch bevor der Naturalismus sich in Deutschland literarisch durchsetzte, verkündete Hermann Bahr bereits sein Ende: „Die Herrschaft des Naturalismus ist vorüber, seine Rolle ist ausgespielt, sein Zauber ist gebrochen.“32 Nicht länger solle die Natur des Künstlers ein Werkzeug der Wirklichkeit sein, „um ihr Ebenbild zu vollbringen“, sondern umgekehrt, nun solle die Wirklichkeit wieder zum Stoff des Künstlers werden. Bahr forderte einen „nach innen“ gekehrten Naturalismus, eine neue Sensibilität „der feinsten und leisesten Nuancen, ein Selbstbewußtsein des Unbewußten“33, eine künstlerische Wendung „vom Bilde des rings um uns zur Beichte des tief in uns“.34 Weil aber der Naturalismus prägend gewesen sei, heiße es nun, seine Errungenschaften in die neue Psychologie zu integrieren: „Das moderne Bedürfnis verlangt Psychologie, gegen die Einseitigkeit des bisherigen Naturalismus; aber es verlangt eine Psychologie, welche durch den Naturalismus hindurch und über ihn hinaus gegangen ist.“35
Bahrs Kritik galt Paul Bourgets 1879 veröffentlichtem Roman André Cornélis, der wegen seiner subtilen psychologischen Argumentation und des klaren rhetorisch geschliffenen Stils von den Zeitgenossen als Gegenpol zu Zolas wildem Naturalismus gelesen worden war. Bourget gestand Bahr zwar zu, das eigentliche psychologische Gewissen des Fin de siècle gewesen zu sein, kritisierte aber nun seine poetologische Konzeption.36 Nicht gezeigt habe Bourget, sondern erklärt, kein psychologisches Kunstwerk habe er geschaffen, sondern seinen Lesern eine psychologische Dissertation unterbreitet. Bahr wartete mit Gegenvorschlägen auf; er forderte nun die Synthese von naturalistischer Kunst und psychologischem Feingefühl: „Die neue Psychologie wird vom Verstande in die Nerven gelegt – das ist der ganze Witz.“37
Für die Schriftstellerinnen sollte die „neue Psychologie“ deshalb maßgeblich werden, weil sie eine Totalität von Wirklichkeit zum Gegenstand der Kunst beschwor, in der ausdrücklich der psychischen Wirklichkeit ein dominierender Platz eingeräumt wurde. Diese im Erzählstil zu spiegeln, also nicht, wie der gemaßregelte Bourget „nur“ zu berichten, verlangte nun Bahr. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob er dabei das Unbewußte im Sinne Freuds verstand oder nicht,38 von Wert sind die poetologischen Konsequenzen der „neuen Psychologie“, weil sie ein Erzählen dicht an der Grenze des Bewußtseins vorbereiteten.39 Diese Programmatik wußten jene Schriftstellerinnen für ihre Kunst zu nutzen, die sich der „seelische[n] und soziale[n] Emanzipation“ des Weibes verschrieben hatten und nun nach einem adäquaten Ausdruck für die „Durchsetzung der Persönlichkeit“40 strebten – allen voran Gabriele Reuter. Durch den Naturalismus an detailgetreue „Wirklichkeitsschilderung“ gemahnt, richtete sie sich in der Wiedergabe ihrer Frauengestalten vor allem nach den eingeforderten Faktoren milieu und temps, um Dasein und Entwicklung der ihr besonders am Herzen liegenden Menschen darzustellen: der bürgerlichen Mädchen und Frauen. Die „neue Psychologie“ kam ihr entgegen, ging es der „Seelenmalerin“ (Klemperer) Reuter doch in erster Linie darum, die psychischen Belastungen eines gesellschaftlich vorgegebenen Weiblichkeitsideals in typisierten „Mitschwestern“ vorzuführen. Bevorzugte Erzählformen wie Innerer Monolog und Erlebte Rede demonstrierten spiegelbildlich die innere Not, die die scheinbar naturgegebene Forderung nach „Weiblichkeit“ im weiblichen Menschen tatsächlich verursachte. Auf diese Weise verlieh Reuter ihren Frauenfiguren jene Stimme, die den ersten Schritt zur Persönlichkeit ausmachen sollte.
Im Vergleich mit innovativen männlichen Autoren, die zur gleichen Zeit schrieben, war letzteres freilich ein Schritt in die falsche Richtung. Richteten sich die Frauen mit dem Dienst in eigener Sache schon gegen die (nur im Naturalismus kurzfristig aufgehobene) Zweckfreiheit der Kunst, so erwies sich das Selbstverständnis als autonome Persönlichkeit scheinbar schon als obsolet, als es von den Schriftstellerinnen entdeckt wurde. Beharrlich hielt sich die Meinung, daß die literarischen Subjektentwürfe von Frauen den männlichen immer schon hinterherhinken.41 Doch ganz abgesehen davon, daß auch in der von Männern produzierten Literatur um 1900 Versuche der Subjektkonstitution neben ihrer grundsätzlichen Infragestellung existierten, bedienten sich die Schriftstellerinnen der vorhandenen Identitätsentwürfe ihrer männlichen Zeitgenossen, um sie nach eigenem Ermessen auf den weiblichen Bedarf zuzuschneidern und schließlich auch selbständige Entwürfe zu wagen.
So zeigt Gaby Pailer am Beispiel von Hedwig Dohms Roman Sibilla Dalmar, wie das konturlose Selbst der „Sibilla“ im Spiel mit Fremd- und Bild zitaten, die eine Auseinandersetzung der Frau mit den vorgefundenen Werten ihrer Zeit spiegeln, die (scheiternde) Suche nach weiblicher Identität vorführt. Pailer identifiziert die Romanfigur der „Sibilla“ als „erzählendes Medium“ – also nicht mehr Charakter im traditionellen Sinn –, so daß an die Stelle des „Subjekts“ der Diskurs tritt. Doch nicht nur auf die um 1900 florierenden Ich-Entwürfe nimmt der Roman Bezug; er könnte sich nicht im Untertitel Roman der Jahrhundertwende nennen, wenn Dohm sich nicht mit einem entscheidenden Einfluß auseinandersetzte: Nietzsche.