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Wirst du begehrt, bist du was wert?

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Allein am Beispiel Boy-Eds zeigt sich, daß Radkaus in Anlehnung an Foucault verfaßte These, wohl eher das ständige Reden als das – nach Freud verantwortliche – Schweigen über Sexualität habe Verunsicherung bewirkt und Druck ausgeübt, die gegensätzlichen geschlechtsspezifischen Ausrichtungen des Sexualitätsdiskurses vernachlässigt. Während nämlich als Folge neuer medizinischer Entdeckungen (z.B. die Beziehung der Syphilis zur Geisteskrankheit) männliche sexuelle Belange in das Zentrum einer außerordentlichen Gesprächsbereitschaft rückten, blieben weibliche weitgehend tabuisiert. Und bewegte sich der männliche Sexualitätsdiskurs in redseliger Selbstbezogenheit im Spannungsfeld zwischen Ansteckungsgefahr und Potenzverlust, so existierte parallel ein zweiter, bei dem es schlicht um Sein oder Nicht-Sein sexueller Bedürfnisse ging. Unter die Tabuisierung vorehelicher Körperfreuden fielen zwar offiziell beide Geschlechter, mit dem Unterschied indessen, daß das Risiko für männliche Aktivisten außerordentlich gering war, hatten sie doch weder Schwangerschaft noch gesellschaftliche Demütigung zu befürchten. Im Gegenteil, hartnäckig hielt sich die Auffassung, dem angeblich konstitutionell und genetisch verbürgten Geschlechtstrieb des Mannes müsse aus gesundheitsfördernden Gründen ein Ausleben gestattet werden, während es für die züchtige bürgerliche Tochter schon als ehrenrührig galt, beim Anblick eines Verehrers nicht gleich die Augen niederzuschlagen.

Einhellig wurde im zeitgenössischen Diskurs die männliche Paarungsbereitschaft als biologisch verbürgtes Erbgut angenommen und bedurfte daher auch keiner Erörterung. Alleinige Gefahrenquelle moralischer Verderbnis waren die Töchter Evas. Als oberstes Mittel gegen die libidinöse Gefahr galt, allen Theorien von der geringen sexuellen Begierde der unverheirateten Frau zum Trotz, die Erziehung der jungen Damen, denn andernfalls, so der Nervenarzt Krafft- Ebing, werde die ganze Welt zum Bordell und Ehe und Familie undenkbar. Anstandsbücher, die den heiligen Beruf der Jungfrau auf das feinste ausschmückten, wurden zu unverzichtbaren Begleitern eines Frauenlebens. Unverdrossen mahnten sie, den Anfängen zu wehren:

Alle guten Eigenschaften des weiblichen Charakters würden an ihrem Wert verlieren, wenn die eine, die Sittlichkeit, fehlte. Was könnte denn für die Jungfrau wichtiger sein, als die Reinheit ihres Herzens und ihren sittlich guten Ruf als das größte Heiligtum bewahren, ohne welche keine weibliche Tugend … ist.92

Während dem jungen Mann empfohlen wurde, sich „die Hörner abzustoßen“, wurde zur problemloseren Unterweisung in tadelloses voreheliches Benehmen der jungen Frau die sexuelle Begierde schlichtweg abgesprochen. Offizielle Codierungen suchten ihre Wünsche im Kern zu ersticken und brandmarkten jede Form freizügigen Verhaltens als normverletzend.93 In aufwendiger Rhetorik94 galt es, die Natur der Frau so zu disziplinieren, daß sie in die Vorstellung einer künstlichen Natur mündete, deren Unterwerfung und Beherrschung freilich seit Jahrhunderten dem Mann oblag. In beispielloser Rigidität konditionierte das Bürgertum den weiblichen Körper mit Blick auf männliches Wunschdenken: Es verordnete der unverheirateten Frau „natürliche“ Asexualität, die in der Ehe95 durch die Tatkraft des Gatten in ebenso natürliches Begehren umgewandelt werden könne. Die wenigsten Ratgeber berücksichtigten den Zusammenhang von Sexualverhalten und Rollenverteilung der Geschlechter – ein Informationsdefizit, das die Schriftstellerinnen nachdrücklich behoben. Lesevergnügen war hier nicht mehr garantiert: Die meisten Schriftstellerinnen offenbarten den Wunsch nach einem lustvollen und gewaltfreien weiblichen Begehren innerhalb der patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen als utopisches, ja törichtes Verlangen.

Helene Böhlau schreckte in Halbtier! nicht davor zurück, Vergewaltigungsszenen zu beschreiben, deren körperliche Folgen noch hinter den psychischen Traumen zurückblieben. Gabriele Reuter schuf eindrucksvolle Bilder weiblicher Psyche, die demonstrierten, wie die Frau gesellschaftliche Restriktionen gegenüber ihren körperlichen Bedürfnissen internalisierte und als Scham und Schuldgefühl gegen sich selbst richtete. In Ida Boy-Eds Roman Um Helene kollidiert der sexualisierte Blick des Liebhabers mit dem Unvermögen der Frau, der Imagination gerecht zu werden, da sie kein Bewuβtsein ihres eigenen Begehrens hat. Einige von Maria Janitscheks Erzählungen Vom Weibe griffen die Diskussion um die Sexualerziehung bürgerlicher Mädchen auf. In der Erzählhaltung, so Sigrid Schmid-Bortenschlager und Theresia Klugsberger, trennte sich die Position von Erzählerin und Heldin: Während sich im ironisch-kritischen Erzählton die prinzipiell positive Einstellung der Autorin zum weiblichen Begehren offenbarte, zeigte das Schicksal der „Heldin“ die immanente Unmöglichkeit einer positiv erlebten weiblichen Sexualität. An ihr hatte der Mann wesentlichen Anteil.

Um so dankbarer waren 1901 die als verantwortungslose Egoisten beschimpften Männer, als sie in den Zürcher Diskussionen das leidenschaftliche Bekenntnis einer Frau lesen durften, das in der Frage gipfelte: „Warum sollte das moderne Heidentum uns nicht auch ein modernes Hetärentum bringen? Ich meine, den Frauen den Mut zur freien Liebe vor aller Welt wiedergeben?“ Die Essayistin, Franziska zu Reventlow, bezweifelte nicht die gleichwertigen intellektuellen Fähigkeiten von Mann und Frau, sah aber im Gegensatz zu den „Bewegungsdamen“ kein anzustrebendes Ziel darin, sie auch zur Geltung zu bringen. Kategorisch rechnete sie die Kosten solcher Gleichheitsgelüste gegen den Gewinn auf und stellte fest: „(D)as Leben kommt zu kurz dabei.“96 Selbst in ständiger Finanznot, konnte sie der Forderung nach selbständigem Gelderwerb kaum Positives abgewinnen und führte in eigener Person vor, daß sich die Emanzipation am gründlichsten in der Erotik verwirklichen lasse.

Mehrere Faktoren begünstigten den schnellen Aufstieg der Franziska zu Reventlow zur Gallionsfigur der Münchner Bohème. Was nicht auf das Konto ihrer außergewöhnlichen Erscheinung und Lebensweise ging, die weder für die Liebe noch für die Mutterschaft ein Legitimationspapier benötigte, bewirkte die auch in Bohèmekreisen gewinnbringende adelige Herkunft. Ludwig Klages sorgte schließlich für philosophisches Kolorit: Er krönte – selbst im Gefolge Bachofens stehend – seine gräfliche Geliebte zur „heidnischen Heiligen“. Andere, hier dominierte zweifellos das männliche Geschlecht, taten es ihm nach und schufen Superlative, die das Image der „großen Liebenden“, der „Inkarnation der erotischen Rebellion“, der „genialsten Frau Schwabings“ bis heute aufrechterhielten – zum Verdruß der um eine differenzierte Betrachtungsweise bemühten Wissenschaftlerinnen.

Zu ihnen gehört Katharina von Hammerstein. Sie zeichnet ein ganz anderes Bild dieser Persönlichkeit, das nicht ohne weiteres mit dem der „schleswig-holsteinischen Venus“ übereinstimmt. Von Hammerstein zeigt eine Reventlow, die „ihrer selbst zum Trotz“ mit ihrer kompromißlosen Propagierung eines selbstbestimmten Lebens und Liebens als politisches Medium ihrer Zeit zu verstehen ist, indem sie das scheinbar Individuell-Private in die kollektiv geführte Diskussion einfließen läßt: „Indem sie ihr Selbsterlebtes ‘nach außen hin’ künstlerisch gestaltete“, so Katharina von Hammerstein über Reventlow, „schreibt sie sich ein in die um 1900 von der Frauenbewegung vehement und kontrovers geführte Debatte um Ehe, doppelte Moral und Mutterschaft sowie Mädchenerziehung und Frauenerwerbstätigkeit und nimmt damit – freilich eher unbeabsichtigt – am öffentlichen Diskurs um diese politischen Fragen teil“ (S. 295).

Hatte Franziska zu Reventlow die Umsetzung ihres persönlichen Freiheitsbedürfnisses in die eigene Lebenspraxis einerseits auch mit Einsamkeit und Demütigung zu bezahlen, so ist doch andererseits offensichtlich, daß der Cocktail von adeliger Herkunft, attraktiver Persönlichkeit und schillernder Kultfigur sie zur „Königin der Bohème“ beförderte – statt sie als uneheliche, mittellose Mutter der Gosse zu überantworten. Genau diese Alternative unehelicher Mutterschaft nahmen ihre zeitgenössischen Kolleginnen thematisch auf, Reuter am Beispiel der Figur der Wiesing in Aus guter Familie und im Tränenhaus, Helene Böhlau in Halbtier!. Was sie zeigten, und wie sie es zeigten, spiegelte ihr Dilemma als Schriftstellerinnen: Einerseits bot die naturalistische Erzählkunst das mediale Forum ihrer gesellschaftskritischen Themen, weswegen sie von zeitgenössischen Kritikern auch zu weiblichen Zolas gekürt wurden, andererseits galten diese bevorzugten Formen des Erzählens längst als obsolet und schlossen sie von einer als innovativ gerühmten Kunstszene aus.

Sonderbare Abgründe zwischen Lesepublikum und Schriftstellerin taten sich zeitweise auf. Gabriele Reuter beispielsweise, von Frauenverbänden als Vorkämpferin begrüßt, bemühte sich verzweifelt, ihre Romane vor der Ausbeutung als „Propagandamagd“ zu schützen. Das sollte weder ihr noch anderen Damen der Feder immer gelingen. Denn thematisch waren sich Schriftstellerinnen und Frauenrechtlerinnen nur allzu nah. Auch unter den Frauenrechtlerinnen forderten nur wenige die (gelebte) sexuelle Gleichberechtigung, von der sie die Degradierung der Frauen zum Freiwild befürchteten. Wenn sie sich bereitfanden, die Forderung nach einem „allgemeinen Beglückungsprogramm“ zu unterstützen, wie Helene Stöcker, dann nur unter der Voraussetzung vollkommener ökonomischer Selbständigkeit.

Die entgegengesetzte Position war verbreiteter: Mit Definition der männlichen Sexualität als Effekt einer inhumanen Geschlechterideologie dominierte in der Diskussion die Frage, wie die Männermoral zu verbessern sei. Als Beispiel der persönlichen, sozialen und politischen Rechtlosigkeit des weiblichen Menschen rückte nun zunehmend das Schicksal der Prostituierten ins Zentrum der Sittlichkeitsbewegung. An ihrem Leid wurde die Durchsetzung männlicher Sexualansprüche, die sich von hier aus leicht auf Dienstabhängige, Ehefrauen und Töchter übertragen ließ, demonstriert. Mit katastrophalen Folgen, wie Marie Raschke bereits 1893 geurteilt hatte: „Darum wirkt jeder Angriff auf das Geschlecht vernichtend auf die persönliche Ehre.“97

Für die breite Öffentlichkeit stellte in augenfälliger Weise jedoch erst vier Jahre später die sogenannte Marie-Koeppen-Affäre den Zusammenhang her.98 Im Vorgehen der Sittenpolizei, so rügten die Frauenrechtlerinnen, habe sich „die Wertung der Persönlichkeit der deutschen Frau“ eben darin gezeigt, daß man ihr keine zugestehe. Daran änderte sich so schnell nichts. Noch 1911 beklagte Käthe Schirmacher sich bitter: „Die Frau hat keine ‘Ehre’ wie der Mann. Sie ist ja keine ‘Persönlichkeit’. Die Frau hat nur eine ‘Geschlechtsehre’. Von dieser Bürde befreien sie die eigenen Väter und Brüder.“ Die Ursache war für Schirmacher klar: Während der Erwerbsstatus Männern Unabhängigkeit, Einfluß und Ansehen gewähre, wurzele der Status der Frau „hauptsächlich im Geschlecht“.99

Während der hitzigsten Debatten meldeten sich zwei Schriftstellerinnen zu Wort, die durch ihre als skandalös empfundenen „Prostituiertenromane“ die Diskussion nachhaltig beeinflussen sollten. Ihr mutiger doppelter Tabubruch, als kunstschaffende Frauen einem weiblichen Publikum ein Thema zu präsentieren, über das in bürgerlichen Kreisen nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde, zahlte sich aus: Margarete Böhmes Tagebuch einer Verlorenen und Else Jerusalems Der heilige Skarabäus wurden zu Bestsellern. Bemerkenswert war aber nicht nur ihr materieller Erfolg: „Beide Autorinnen haben sich zwar auf jeweils sehr unterschiedliche Weise der Thematik zugewandt“, so schreibt Eva Borst in diesem Band, „(b)eiden gemeinsam aber ist ein sozialkritischer Impetus, der weit über das bloß Deskriptive hinausgeht und selbstbestimmte Sexualität sowie weibliches Begehren ebenso fokussiert wie Fragen nach sozialer und personaler Identität“ (S. 115).

Was tatsächlich hinter jenen lauten und zum Teil erbitterten Versuchen, die weibliche Sexualität zu konditionieren, stand, war das argwöhnische Mißtrauen vieler Männer, die bislang unangefochtene Herrschaftsposition zu verlieren.100 Daß solche Ängste lebendig blieben, dafür sorgten die Forderungen der Frauenrechtlerinnen, die – im Sinne der Analyse Simmels101 – die Objektivierung des Männlichen zum Allgemein-Menschlichen und den damit verbundenen Herrschaftgestus anprangerten. Besonders aufmerksam verfolgten die engagierten Schriftstellerinnen deshalb den zeitgenössischen Diskurs, der assoziativ den Zusammenhang von Weiblichkeit und Krankheit herstellte.

Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle

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