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Der neue Gott

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Für die um 1860 geborenen Schriftstellerinnen war das traditionelle Frauenbild, nach dem sie erzogen worden waren, durch den Einfluß des skandinavischen Naturalismus ins Wanken geraten. Nun boten jene in den achtziger Jahren von Nietzsche bereitgestellten Ich-Entwürfe die Legitimationsbasis für den „culte de moi“ (Maurice Barrès). Für die weibliche Literaturproduktion der Jahrhundertwende ist der Einfluß Nietzsches immens – auch wenn für die Schriftstellerinnen gilt, was Rasch bereits für ihre männlichen Kollegen feststellte:

Dabei ist es nicht eigentlich der philosophische Gehalt seiner Schriften, der rezipiert wird. Dieser bleibt weitgehend unentdeckt. Was wirkt, sind die Grundpositionen, in dreißig oder vierzig Sätzen erkennbar: Die radikale Verdiesseitigung, die Destruktion der Transzendenz, die neue Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Leben, so daß das Leben das Erkennen, den Geist als ihm selbst zugehörig umgreift.42

Alyth Grant entwickelt am Beispiel von Helene Böhlau eine typische Nietzsche- (und Schopenhauer-)Rezeption, die sogar den kühnen Gedanken zuließ, der Übermensch (oder ein Genie Schopenhauerscher Art) könne eine Frau sein. Zeigt Böhlaus Verständnis Nietzsches, wie resp. warum der Philosoph die Aufbruchsstimmung der Frauenrechtlerinnen des Fin de siècle vorangetrieben hatte, so wirkt sich die beharrliche Bewunderung der Schriftstellerin auf die Entwicklung des eigenen Werkes, so Alyth Grant, durchaus problematisch aus. Was die Leserinnen am Anfang der Karriere als innovativ feiern, läßt sie nach der Jahrhundertwende müde abwinken und Böhlaus Werke den Buchhandlungen überlassen. Was bleibt, ist überzeitlich Gültiges: Noch 1907 im Haus zur Flamm’ ist der Humor, für den die Autorin von Anfang an bewundert wurde, ungebrochen. Jetzt gilt er wem? Der Nietzsche-Mode!

Immerhin: Die hatte fast drei Jahrzehnte künstlerischen Schaffens überdauert. Als Rebell gegen die Konvention war Nietzsche gegen die „Bildungsphilister“ angetreten, hatte mit „Gott ist tot! Gott bleibt tot!“ die Fröhliche Wissenschaft ausgerufen und aller lebensfeindlichen Religion und Moral eine Absage erteilt. In den Unzeitgemäβen Betrachtungen hatte er die Bewußtseinslage und geistige Situation seiner Zeit einer kritischen Diagnose von unvergleichlicher Prägnanz und Schärfe unterzogen und zur „Umwertung aller Werte“ aufgerufen. Leidenschaftlich hatte Zarathustra den Abbau der Transzendenz verfolgt und unerbittlich die Orientierung des Menschen in der Diesseitigkeit, in der totalen Bejahung des Lebens gefordert. In der Tat waren das Perspektiven der Selbstbetrachtung, die allen Individuen zugute kamen. Jubelnd empfangen wurde seine Botschaft aber gerade von jenen, die er mit wenig schmeichelhaften Äußerungen bedacht hatte, von den Frauen. Stellvertretend für viele schilderte Gabriele Reuter in ihrer Autobiographie 1921 rückblickend Nietzsches Schriften als Offenbarung:

Unsern Stirner hatten wir alle gelesen. Er hatte uns die Fundamente gelegt mit seiner theoretischen Logik, seiner erzenen, unerbittlich klaren Sprache und der nüchternen Kälte seiner Gedankenwege, die am Ende doch nur – ins aschgraue Nichts führten.

Nun war Friedrich Nietzsche unser Gott geworden, um den sich, wie Planeten um die Sonne, unsre Geister drehten.43

Was verkündete aber der Philosoph, daß er zum „Gott“ gerade für die werden konnte, die emanzipatorisches Engagement auf ihre Fahnen geschrieben hatten? Die Antwort hätte sich Nietzsche wohl kaum träumen lassen:

Die Rezeption der Philosophie Nietzsches geschieht als Umwertung der männlichen Weltordnung, die ihrerseits der Anfang einer praktischen Veränderung der Aufhebung des Herrschaftsverhältnisses zwischen den Geschlechtern ist.44

Konsequent erweiterten die Frauen die Philosophie Nietzsches um eine weibliche Auslegung. So formulierte Helene Stöcker für viele Frauen ihrer Generation: „[E]r hat uns überlassen, selbst die Lücke auszufüllen, die er ließ. Mag das Glück der Frau, insofern sie Weib ist, auch heißen: ‘Er will!’, insofern sie Persönlichkeit ist, heißt es auch für sie: ‘Ich will!’“ In dem Bewußtsein, frei entscheiden zu können, leisteten die Frauen das, was Nietzsche ganz offensichtlich in bezug auf den weiblichen Menschen „vergessen“ hatte: die konsequente Übertragung der Begriffe vom selbstbewußten Individuum, von Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit, von der Schöpferkraft des menschlichen Willens und Bewußtseins auf die Frau. Um dieses Ziel zu erreichen, bedurfte es aber eines Gedankens, der einen zentralen Wert der Gesellschaft umwertete – und der Nietzsche wohl kaum gekommen war:

Alle Werturteile sind bisher im Verlauf der Weltgeschichte so ausschließlich vom Manne geprägt worden, alles Geschehen ist so durchaus von seinem Gesichtspunkt aus geregelt gewesen, daß er jede „Umwertung“, die die Frau von ihrem Standpunkt aus vornimmt, zunächst als einen unerhörten Eingriff in seine Rechte empfindet. … Damit daß „Gott“ die „absolute Wahrheit“, das „Absolute“ überhaupt fiel: damit fiel auch die absolute Überlegenheit des Mannes … Unser Gewissen spricht jetzt: „Werde, die Du bist!“45

Bereits 1894 veröffentlichte Lou Andreas-Salomé eine Hommage unter dem Titel Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Hier konstituierte die Muse sich als Autorin, wie uns der Beitrag von Elke Maria Clauss deutlich macht, indem sie den Freund und Meister in seinen Briefen an sie zu Wort kommen ließ, gleichzeitig aber – wiederum auf der Basis persönlicher Gespräche und Briefe – als Interpretin seiner Werke das Wort ergriff. Lou Andreas-Salomé, die eine Vorstellung vom künstlerischen Menschen favorisierte, in der die Frau als die genuin schöpferische Natur von der Pflicht, künstlerisch tätig zu sein, befreit war, erschrieb sich, so Elke-Maria Clauss, gerade in ihren Werken über Nietzsche, Rilke und Freud den eigenen Autorenstatus.

Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle

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