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Der weibliche Blick auf das Fin de siècle. Schriftstellerinnen zwischen Naturalismus und Expressionismus: Zur Einleitung
ОглавлениеSo man sich an historische Fakten hält, läßt sich der Zeitraum, um den es hier gehen soll, erfreulich gut eingrenzen. Seinen Beginn markiert in etwa die Ablösung Bismarcks durch den jungen Kaiser im Jahre 1888, sein Ende der Erste Weltkrieg. Mit diesen Determinanten sind allerdings die eindeutig bestimmbaren Faktoren bereits erschöpft, denn das häufig in der Retrospektive als „gute alte Zeit“ und „Belle Époque“ illusionierte Fin de siècle ergibt ein überaus zwiespältiges, zerrissenes und komplexes Bild, das allenfalls noch atmosphärisch zu benennen ist: als „Wilhelminisches Zeitalter“.
Aus literaturgeschichtlicher Perspektive wird die Komplexität der Ereignisse besonders deutlich. Seit 1885 hatten die naturalistischen Schriftsteller in zahlreichen Manifesten verkündet, daß es fortan mit der Herrschaft der tradierten Literatur vorbei sein sollte. 1910 begründete die Zeitschrift Der Sturm die Ära des Expressionismus, der sich sämtlichen Stilrichtungen der Jahrhundertwende verweigerte und etwas ganz Neues versprach. Doch genausowenig wie die „Alten“ in den letzten Jahrzehnten des alten Jahrhunderts ihren angestammten Platz in der Literatur räumten (Fontanes Effi Briest erschien erst 1895), beeilten sich die „Neuen“ mit der Produktion: Gerhart Hauptmanns Die Weber, Musterbeispiel naturalistischer Kunst, wurde erst uraufgeführt, als Hermann Bahr, sensibles Orakel jeder neuen Kunstströmung,1 längst deren Ende verkündet hatte. Und niemand, den im neuen Jahrhundert der Expressionismus unbeeindruckt gelassen hatte, warf die Feder hin, als das Manifest der neuen Kunst verkündet war.2
Und gleich hier werden wir in die nächste „Benennungsohnmacht“ (Koopmann) befördert, weil die Vielfalt der literarischen Strömungen und Tendenzen in ihrer gesamten experimentierfreudigen Spannbreite auf keinen, noch so vagen Begriff zu bekommen ist.3 Zwischen 1880 und 1914 entsteht eine literarische Szene, die an Innovation und Widersprüchlichkeit ihresgleichen suchen sollte:
Es wurde der Übermensch geliebt, es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid … Dies waren freilich Widersprüche und höchst unterschiedliche Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemeinsamen Atem; würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein, wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen. Diese Illusion, die ihre Verkörperung in dem magischen Datum der Jahrhundertwende fand, war so stark, daß sich die einen begeistert auf das neue, noch unbenützte Jahrhundert stürzten, indes die anderen sich noch schnell im alten wie in einem Hause gehen ließen, aus dem man ohnehin auszieht, ohne daß sich diese beiden Verhaltensweisen als sehr unterschiedlich gefühlt hätten.4
Sollten wir also, um diesen Widersprüchen und Gleichzeitigkeiten des herrschenden Stilpluralismus zu entgehen, den Gegenstand vielleicht als „Literatur der Moderne“ bezeichnen? Oder als Literatur der „Jahrhundertwende“? Oder sollten wir doch besser die eher nebulöse Variante „um 1900“ bevorzugen? Wir entscheiden uns für „Fin de siècle“, wohl wissend, daß damit längst mehr assoziiert als bezeichnet wird. Mit diesem Begriff verbindet sich die Vorstellung einer gleichermaßen von Zukunftseuphorie und diffuser Zukunftsangst geprägten Gesellschaft im Aufbruch. „Fin de siècle“ wird bereits für Zeitgenossen zu einem „Merkwort der Epoche“ (Hofmannsthal), das sowohl „das Gefühl des Fertigseins, des Zu-Ende-Gehens“5 beschreiben als auch eine begeisterte Aufbruchstimmung wiedergeben konnte.6 Auf die Seelenlage ihrer Zeit reagierten die Künstler naturgemäß bereits, bevor die eigentümliche Stimmung in das Bewußtsein der Gesellschaft eingedrungen war.
Trotz der augenfälligen Gegensätzlichkeiten kristallisierten sich Gemeinsamkeiten aller Stilrichtungen, Formen und Tendenzen der Literatur um die Jahrhundertwende heraus. Sie betrafen zunächst das Realitätsbewußtsein.7 Weniger das politische System als wirtschaftliche Entwicklungen, die binnen weniger Jahrzehnte das Reich vom Agrarstaat zur Industriegesellschaft führten, bestimmten die kollektive Sinneswahrnehmung, das „Zeitgefühl“ der „Moderne“. Denn Konkurrenzdruck und die „Philosophie des Geldes“ (Georg Simmel) diktierten nicht nur den Lebenszweck, sondern vor allem auch das Lebenstempo. Zeit wurde sichtbar durch das Aufstellen öffentlicher Uhren, die in ihrer sonderbaren Eigendynamik die Zeit nicht nur zu messen, sondern anzutreiben schienen. Hier zeigte sich nun die neue Zeit nicht nur als tatsächliche Betriebsamkeit der Menschen, sondern als negatives Zeitgefühl, das sich in einem inneren Getriebensein, in einer inneren Unruhe äußerte.
Ohne Frage wurde das Leben de facto beschleunigt, z.B. durch neue Verkehrsmittel wie Fahrrad, Auto und Straßenbahn und dem Telefon als neuem Kommunikationsmedium.8 Auch die gesellschaftlichen Strukturen veränderten sich im rasanten Tempo. Industrieunternehmen begannen massenhaft technische Güter zu produzieren,9 Chemiekonzerne florierten, riesige Fabriken für Konfektionskleidung entstanden, und unablässig wuchsen Dienstleistungsunternehmen, die in Banken, Versicherungsanstalten und Warenhäusern unzählige Angestellte beschäftigten. Bessere Löhne und vielfältige Erwerbsmöglichkeiten ließen die Menschen vom Land in die Städte strömen und riefen eine Wanderungsbewegung der Bevölkerung, die sich infolge hygienischer Neuerungen in den Jahrzehnten zwischen 1850 und 1900 fast verdoppelte,10 in nie gekanntem Ausmaß hervor. Um den enormen Bedarf an Wohnraum zu befriedigen, wurden eilig Mietskasernen in die Höhe gezogen, die sich schnell zu modernen Ghettos für Fabrikarbeiter entwickelten. Auf der einen Seite breitete sich eine Schicht von Kaufleuten und Industriemagnaten aus, deren Wohlstand sich in einem ungeheuren Prunk präsentierte.11 Auf der anderen Seite entstand ein Industrieproletariat, das zunehmend verelendete. Verarmung des Proletariats und Prunksucht des reichen Bürgertums schufen unübersehbare soziale Reibungsflächen, die die um 1860 geborenen Söhne und Töchter der Reichsgründergeneration aufstörte. Politisch erzogen im Glauben an Kaiser, Reich und Vaterland und gewöhnt an selbstverständlichen Wohlstand, mochte die junge Generation nicht mehr an den Folgen des Fortschritts vorbeisehen.