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Die Muse als Autorin: Zur Karriere von Lou Andreas-Salomé
ОглавлениеDie kulturellen Vorgaben der Zeit waren günstig für die Schriftstellerin Lou von Salomé, später verheiratete Andreas-Salomé, und das Skandalon einer weiblichen Karriere auf männlichem Terrain. Die alten Verhältnisse waren in Bewegung geraten. Überall gärte es, auch in den Künsten und Wissenschaften. Man war auf dem Sprung in etwas Neues hinein, was sich dann als Moderne definierte. Das Wissen, sich in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation zu befinden, führte zur Dekuvrierung, mindestens aber zur Infragestellung gesellschaftlicher Normen. Eine Umwertung vieler Werte fand statt, nicht zuletzt in Fragen der bürgerlichen Moral. Die Geschlechterklischees gerieten in Bewegung, die Thematisierung der Frauenfrage galt zugleich als Thematisierung der Zivilisationsfrage. Im Verbund mit einer geradezu obsessiven Verwendung der Zuschreibungen von ‘männlich’ und ‘weiblich’ wurde das ‘Weib’ zum Sinnbild für die beginnende Moderne schlechthin. So erklärt Eugen Wolff 1888 die Moderne allegorisch als „Weib, ein modernes, d.h. vom modernen Geiste erfülltes Weib, zugleich Typus, d.h. ein arbeitendes Weib, und doch zugleich ein schönheitsdurchtränktes, idealerfülltes Weib“1. Entsprechend verunsichert war das männliche Selbstverständnis, das nur mit erneuten Zuschreibungen, was Weiblichkeit zu sein habe, kompensieren konnte. Wieder entflammte das Engagement für die alte Konzeption der Geschlechterdualität, je nach Standort betonte man die biologische und intellektuelle Minderwertigkeit der Frau (Otto Weininger) oder akzentuierte ihre vermeintliche Bestimmung als Natur- und Triebwesen (Karl Kraus). Nach Ortrud Gutjahr führte das literarisch zu zwei sich widersprechenden Tendenzen, „nämlich einerseits die Frau im Bild über kategorische Festschreibungen eindeutig zu typisieren und andererseits die Frau im Bild zu verrätseln, indem gerade ihre Festlegung in einer vieldeutigen Schwebe gehalten wird“2.
In diesen Zeitdiskurs der Typisierungen und Verrätselungen trat die junge Lou von Salomé. Das Verwirrende und Uneindeutige, das von ihrer Person auszugehen schien, wird in den Urteilen deutlich, die über das junge Mädchen gefällt wurden, das Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts das gesellschaftlich-intellektuelle Parkett betrat:
Sie ist wirklich ein ganz außerordentliches Wesen; soviel Klugheit in einem 21jährigen Mädchenkopf würde beinahe Schauer erwecken, wenn nicht damit eine echte Zartheit des Gemütes und die vollkommenste Sittsamkeit verbunden wäre. Es ist eine Erscheinung, die man nicht für möglich hält, so lange man sie nicht in ihrer reinen Wirkung sieht. Sie ist ein genialer Mensch.3
Wie beunruhigend wohl die Koalition von Klugheit und Weiblichkeit wirkte, zeigt die geradezu beschwörende Hervorhebung ‘echt’ weiblicher Eigenschaften. Auch der folgende Kommentar zu ihrer Person spricht davon:
Sie war mir eine sehr sonderbare Erscheinung, die ich erst begreifen mußte; denn sie ist zu eigenartig als Mädchen, als daß sie leicht zu erkennen wäre. Eine so ganz andere Art trat mir in ihr entgegen, als ich sie bis jetzt in irgend einer Frau gesehen.
… Wenn man eine doppelte Art, die Welt zu begreifen, feststellen wollte, eine männliche und eine weibliche, so würde ich sagen: Frl. Salomé begreift sie wie ein Mann, und das war mir gerade das Auffällige und doch so Interessante an ihr … Nun tritt mir ein liebenswürdiges, gewinnendes, ächt weibliches Wesen entgegen, das auf alle Mittel verzichtet, die die Frau anzuwenden hat, dagegen die Waffen, mit denen der Mann den Kampf des Lebens aufnimmt, in einer gewissen herben Ausschließlichkeit führt. Über Alles scharfes Urtheilen und, wie es so geht, scharfes Aburtheilen; von Verzeihen, was das Weib so gern thut, keine Spur; eine klare Bestimmtheit characterisiert jedes Wort … Es ist wahr, ihr scharfer Verstand und dessen Äußerungen sind fast beunruhigend, aber bedenken Sie: sie ist doch zu liebenswürdig, herzlich, freundlich, als daß die Verstandeskälte den Menschen in ihr unterdrücken könnte; ich glaube fast, sie ist auf einem guten Wege, aber ich glaube auch, gegen die Einseitigkeit, mit der sie ihn verfolgt, muß über kurz oder lang eine Reaction eintreten, die das erwachende Weibliche in ihr zur Geltung bringt.4
Gerade die bei Salomé bestaunte und beargwöhnte „Einseitigkeit“ charakterisiert der Zeitgenosse Simmel als eine durch Arbeitsteilung erreichte Spezialisierung der modernen Gesellschaft, eine Zivilisationsleistung, die die potentielle Fähigkeit zur objektiven Kulturleistung in sich trage. Diese jedoch sei nicht geschlechtslos, sondern, so die Zeitdiagnose, trage „männlichen Charakter“ und verlange „zu ihrer immer wiederholten Ausführung spezifisch männliche Kräfte“.5 Dies drücke die
geschichtliche Tatsache aus, daß unsere Kultur, weil sie aus dem Geist und der Arbeit von Männern entstand, auch nur an männliche Leistungsfähigkeit eigentlich angepaßt ist… Die Art, nicht nur das Maß unserer Kulturarbeit wendet sich an spezifisch männliche Energien, männliche Gefühle, männliche Intellektualität.6
Entsprechend der Analyse Simmels und den Fähigkeiten, die eine männlich geprägte Gesellschaft an Kulturleistungen voraussetzt, ist Salomé damit potentiell prädestiniert, mit ihren von dritter Seite her attestierten Eigenschaften im Rahmen dieser Welt Karriere zu machen. Das war auch ihr dezidiertes Interesse. Doch statt sich mit der Musenfunktion zu bescheiden, die man traditionell klugen und schönen Frauen einräumte, begnügte sich Andreas-Salomé nicht mit diesem reinen Referenzstatus. Sie wollte nicht nur Schutzgöttin eines Schriftstellers werden, sie wollte selbst Schriftstellerin sein. Unter dieser Zielvorgabe besetzte sie zwar die alten Funktionen des Musenamtes, aber sie definierte sie neu. Inspiration, Erinnerung und Botschaft, wie sie seit der Antike dem Musendienst eingeschrieben waren,7 wurden bei Andreas-Salomé zu Formen einer Gesprächspräsenz, einer Arbeitsweise und eines Medienbewußtseins, die das Fundament für ihren Status als Autorin abgaben. Insofern kann man die besondere Art und Weise, in der sich Andreas-Salomé als Autorin durchzusetzen verstand, als eine Umkehrung der Musenfunktion ansehen. Denn statt traditionell als inspirierendes Gegenüber des Mannes zu fungieren, wußte sie die Situation für sich produktiv zu nutzen. Die Mündlichkeit des geselligen Gesprächs wurde für sie zur Inspirationsquelle, aus der sie als Autorin vielfältig zu schöpfen verstand. Eben diese inspirierenden Gespräche bestimmten auch ihre Arbeitsweise, die sich in einem fulminanten Gedächtnisarchiv niederschlug. Nicht mehr in der Tradition der Muse, die dem Dichter das Wissen der Welt bereitstellte, nutzte Andreas-Salomé ihr Erinnerungsreservoir, um sich als Autorin zu profilieren. Entsprechend glitt auch die alte Funktion der Botschaft, die die Muse früher dem Dichter ins Ohr zu flüstern verstand, vom oralen Medium der Sprache ins Medium der Schrift. Andreas-Salomés starke Medienpräsenz und ihre Publikationspraxis zu eigenen, nicht zu fremden Zwecken legen davon Zeugnis ab.
Für eine der bekanntesten Schriftstellerinnen ihrer Zeit, die zahlreiche Romane, Erzählungen, psychologische Studien, Essays und Zeitschriftenaufsätze publizierte, ist es allerdings erstaunlich, daß Inhalt und Form ihrer Texte bisher literaturwissenschaftlich kaum reflektiert wurden. Vielmehr galt der Person Andreas-Salomé das überwiegend biographische Interesse, das selbst die wenigen literaturwissenschaftlichen Einschätzungen zu überlagern drohte. In einer Literaturgeschichte heißt es über ihre Bücher, sie seien „heute weniger als Dichtungen denn als Zeugnisse einer großen Frau und des Jugendstils“8 zu betrachten. Ihre erzählende Dichtung wird als schriftlicher Selbstfindungsprozeß bewertet,9 der „nicht von vorneherein unter dem Aspekt der Kunst gesehen werden“ könne.10 Von begrenztem künstlerischem Wert durch den konventionell vorherrschenden Erzählstil und klischeehaft eingesetztes Vokabular präge nicht Formbewußtsein ihre Schriften, wohl aber Thematik und Geist der Zeit.11
Die vorliegenden Ausführungen, die den Weg der Autorin Andreas-Salomé zum Thema haben, verstehen sich insofern als Korrektur bisher praktizierter Aneignungsweisen.
Die biographischen Angaben sind rasch gemacht.12 Aus St. Petersburg stammend wurde die Generalstochter 1880 in Zürich bei dem Theologieprofessor Alois Biedermann vorstellig, um bei ihm Allgemeine Religionsgeschichte, Dogmatik, Logik und Metaphysik zu studieren. Als Autodidaktin mußte sie vorab eine Prüfung ablegen, die ihr die Aufnahme des Studiums ermöglichte. Aus Krankheitsgründen gezwungen, das Studium nach nur einem Jahr abzubrechen, traf Lou von Salomé mit ihrer Mutter im Februar 1882 als Rekonvaleszentin in Rom ein. Dort fand sie, aufgrund eines Empfehlungsschreibens von Gottfried Kinkel, einem Züricher Professor, bei dem sie Kunstgeschichte studierte, Zugang zum vielbesuchten Salon Malwida von Meysenbugs. Deren Programm und Überzeugung, „daß der freiere, edlere Verkehr der Geschlechter in der Jugend [,] eine nothwendige Bedingung edlerer Verhältnisse überhaupt“13 sei, fiel bei Salomé auf fruchtbaren Boden und bezeichnet zugleich ein Grundelement ihrer Laufbahn als Schriftstellerin. Denn wo immer sie sich in Zukunft aufhalten wird – in Berlin, Paris, Wien, München –, stets ist das Moment der Geselligkeit vorhanden im Sinne von Kontakt, Austausch und kommunikativer Selbstdarstellung. Damit bestätigte sich u.U., was Silvia Bovenschen über das Zusammentreffen von Geselligkeitsformen und Frauen in bezug auf die Romantik behauptete, nämlich
daß sich die ernst zu nehmenden Kulturtätigkeiten von Frauen fast immer der Grundlage von Kulturprogrammen und -bewegungen vollzogen, die sich kritisch – … auch im Sinne eines auf Kommunikationsweisen erweiterten Kunstbegriffs – zu dem herkömmlichen Kanon künstlerischer Produktivität verhielten.14
Doch ein Salon wie der Meysenbugsche war schon um die Jahrhundertwende als Geselligkeitsform ein eher auslaufendes Modell. Mit der absolutistischen Hofgesellschaft als „Mikrohof“ oder Gegenmodell entstanden, hatte er auch mit dem alten Gesellschaftssystem spätestens nach dem Ersten Weltkrieg ein Ende gefunden.15 Die Gründe dafür sind vielfältig. Das kulturelle und gesellschaftliche Überangebot der Moderne bei gleichzeitigem Hang zur Spezialisierung der Interessen mag ebenso zum Aussterben der Salons beigetragen haben wie die veränderte Stellung der Frau in der Gesellschaft. Denn die im Salon geforderte Integrationskraft der Frau als Vermittlerin des kommunikativen Geschehens, die den Konflikt der Ansprüche fruchtbar zu machen hatte, konnte dem zunehmenden Selbstbewußtsein der modernen Frau nicht mehr genügen. Die Karriere von Berta Zuckerkandl (1864–1945), die sich von der Salondame zur kritischen Journalistin entwickelte, bietet hierfür ein gutes Beispiel. Trotzdem existierte noch diese alte Form der Geselligkeit, und Salomé zog aus dem Salon Malwida von Meysenbugs wesentliche Anregungen für ihren weiteren Lebenslauf. Nicht zuletzt knüpfte sie auf diesem Wege den Kontakt zu Paul Rée und Friedrich Nietzsche.
Der Entschluß, mit diesen beiden Männern eine Wohn- und Arbeitsgemeinschaft zu gründen, die von ihnen so genannte „Dreieinigkeit“, basierte – nach eigenem Bekunden – auf einem Traum Salomés:
Da erblickte ich nämlich eine angenehme Arbeitsstube voller Bücher und Blumen, flankiert von zwei Schlafstuben und, zwischen uns hin und her gehend, Arbeitskameraden, zu heiterem und ernstem Kreis geschlossen.16
Der Plan mit seinem zunächst eher privat erscheinenden Charakter muß in die Reihe der Versuche der damaligen Intellektuellen und Künstler eingeordnet werden, Innovationen nicht nur in der öffentlichen Sphäre umzusetzen, sondern sie unmittelbar zu leben. „Neben oder an die Stelle der Kunst tritt die Lebenskunst, die Lebenspraxis und Lebensreform.“17 Daß der private Charakter gleichwohl Multiplikatorenfunktion aufwies und damit wiederum zur Halböffentlichkeit moderner Geselligkeitsformen tendierte, zeigt sich bei der dann schließlich in anderer Besetzung (ohne Nietzsche) realisierten Wohn- und Arbeitsgemeinschaft in Berlin. Dieser mehr oder weniger lockere Zusammenschluß von Wissenschaftlern mit der Mittelpunktsfigur Salomé weist jene Kreisstruktur auf, die Edward Timms als typische Kommunikationsart der Avantgarde Wiens beschreibt.18 Da ein Höchstmaß an Individualisierung und fortgeschrittener Urbanisierung soziologische Voraussetzung der Kreisstruktur ist, kann trotz aller Spezifika Wiens das Strukturmerkmal auch für Berlin Geltung beanspruchen. Dies um so mehr, als inzwischen die wechselseitige Bezogenheit und Abhängigkeit der Entwicklung von Wien und Berlin, den beiden größten Städten des deutschen Sprachraums, betont wird.19
Zu dem Salon und dem Wissenschaftlerkreis um die Wohn- und Arbeitsgruppe in Berlin als Formen einer Geselligkeit, die als Umschlagplatz für die gesprächsweise Aneignung und Hervorbringung von Ideen fungierten, treten seit der Heirat Salomés mit F. C. Andreas zwei weitere grundlegende Organisationsformen von Geselligkeit hinzu. Zum einen die neue gesellige Halböffentlichkeit der Berliner Bohème, der Kreis um Bruno Wille, Wilhelm Bölsche und die Brüder Hart, in der Literaturgeschichte unter dem Sammelbegriff ‘Friedrichshagener Kreis’ subsumiert. Diese Subkultur von Intellektuellen und Künstlern wählte ihren Wohnsitz außerhalb und doch nahe der Metropole Berlin, „die Tendenz zur Gruppenbildung, … Merkmal einer Stadtkultur, bleibt noch in der Abwendung von der Großstadt erhalten“20. Man traf sich in Friedrichshagen zu Gespräch und Diskussion oder im Berliner ‘Schwarzen Ferkel’, der Stammtischrunde des Kreises, die durch die zeitweilige Teilnahme von Munch und Strindberg Berühmtheit erlangte. Bisher eher wissenschaftlich als literarisch ambitioniert, tauchte Andreas-Salomé in die literarische Szene der naturalistischen Moderne ein und bekam dadurch Kontakte zu Schriftstellen, Verlegern, Redakteuren und Journalisten.
Mit einem Ortswechsel verbunden ist die andere grundlegende Geselligkeitsform, an der Andreas-Salomé teilnahm: das Kaffeehaus in Wien, das Polgar als eine „Organisation der Desorganisierten“ beschreibt.21 Mit seinem heterogenen Besucherkreis, der Unregelmäßigkeit und Unverbindlichkeit der Teilnahme und dem Verzicht auf formale Festlegungen bot das Kaffeehaus eine Öffentlichkeit von kommunikativen Strukturen, die dem einzelnen sowohl Teilnahme wie Rückzug ermöglichte. Im Gegensatz zur Zirkelstruktur, wie sie etwa Freuds berühmte Mittwochs-Gesellschaft hatte – an der Andreas-Salomé ab 1912 ebenfalls teilnahm – oder die auch die Wohn- und Arbeitsgemeinschaft Salomés in Berlin aufwies, zeichnete sich die Kaffeehaus-Atmosphäre durch das Prinzip des Zufälligen und Unvorhersehbaren aus. Das hatte eine charakteristische Wahrnehmungsweise zur Folge, die im Flüchtigen, Impressionistischen und Skizzenhaften22 eher dem Künstler und Journalisten als dem Wissenschaftler als Arbeitsweise verwertbar gewesen sein dürfte.
Durch Andreas-Salomés Präsenz in den öffentlichen und halböffentlichen Kommunikationsräumen der Künstler und Intellektuellen reihte sich, nach der Logik des Schneeballsystems, Kontakt an Kontakt. Innerhalb kürzester Zeit war sie selbst eine Mittelsperson, die Kreise schloß, vermittelte oder motivierte. Lou Albert-Lasard gibt in ihren Erinnerungen an Rilke ein vielleicht nicht ganz von Häme freies Bild dieser Kontaktfreudigkeit:
Lou hatte die Gewohnheit … eine Liste all der Persönlichkeiten aufzustellen, die kennenzulernen ihr wünschenswert schien. Wenn sie dann in die Großstadt kam, hatte sie oft deren mehrere bereits an die Bahn bestellt, um sie abzuholen. – Vom Moment ihrer Ankunft an waren unsere Tage ausgefüllt von ihren Programmen. Des Morgens eine spiritistische Sitzung, nachmittags Historiker oder Astronomen, abends schließlich Psychoanalytiker, Schriftsteller oder Ärzte.23
Vor allem in Berlin und Wien, mit Einschränkung auch in München und Paris, waren die von Andreas-Salomé bevorzugten Geselligkeiten angesiedelt. Nicht nur die erwähnten Kontaktmöglichkeiten motivierten zur Teilnahme, als nicht minder bedeutsam erwies sich die mit der öffentlichen und halböffentlichen Kommunikation verbundene Methode der Aneignung und Hervorbringung von Ideen. Die Kultur des Gesprächs – als Hören und Verstehen, Sprechen und Verstandenwerden – in dieser Form der liberal-durchlässigen Kreise und deren punktueller Geselligkeit ermöglichte eine radikale Form der Kommunikativität, die in der Haltung des Als-ob gleichsam erprobte, was an Möglichkeiten dem Thema oder der Sprechhaltung innewohnte.24
Über die Dialogizität des Gesprächs und den Part Andreas-Salomés erwähnend berichtet der Psychoanalytiker Poul Bjerre:
In Gesprächen mit Lou Andreas-Salomé sind mir Dinge klargeworden, die ich sonst wohl nicht gefunden hätte. Wie ein Katalysator aktivierte sie mein Denken. Ja, sie hat Ehen und Menschenleben zerstört, aber im Geistigen wirkte ihre Nähe befruchtend und schöpferisch. Nicht nur anregend – aufregend. Man fühlte den Funken der Genialität in ihr. Man wuchs in ihrer Nähe.25
Von Freud auch „Versteherin“ genannt, wird kolportiert, die Männer hätten neun Monate nach der Begegnung mit ihr ein Buch auf die Welt gebracht. Vielleicht könnte man die Worte, mit denen Andreas-Salomé Victor Tausk charakterisierte, auch auf sie selbst anwenden: „Es ist sicher, daß Tausk am besten spricht, wenn er antwortet: dies ist wieder diese starke Rückbeziehung auf den lebendigen Menschen selbst in den Abstraktionen des Denkens.“26 Nicht zufällig – und ganz im Sinne dieser Dialogsituation – sind es die Briefe Andreas-Salomés, die im Gesamtwerk stilistisch am meisten überzeugen. Sei es an Nietzsche, Rilke, Freud oder andere Bekannte und Freunde, hier vermittelt sich schriftlich, was sie als Mensch wohl besonders auszeichnete: ihre absolute Gesprächspräsenz, ihr Eingehen auf das Gegenüber, ihr Weiterführen fremder Gedanken und ihr innovatives Aufgreifen neuer Möglichkeiten der Verständigung. Auch Peter Gast hebt diese Dialogorientierung und inspirierende Präsenz hervor:
Was fragt sie [die Fama, E. C.] danach, daß Lou mit ihrem großen Verstand Nietzsche ungemein anregt und auf neue Combinationen bringt, daß sich Nietzsche nur an diese Seite ihres Wesens hält und die übrigen nicht sehen will? – der Fama liegt daran, daß Lou eine Abenteurerin ist, daß ihre Gedanken sich über die Gränzen des für Weiber Erlaubten wagen, daß sie sich Gedanken über Nietzsche machte, welche er gar nicht zu denken vermag.27
Mit den Geselligkeitsformen und der darin praktizierten Gesprächspräsenz gleichermaßen verbunden – wenn nicht sogar punktuell aus ihnen hervorgehend – ist die Arbeitsweise und Schreibintention Salomés. In ihrem Lebensrückblick behauptet sie, daß das,
was ich aufschrieb, nur oder fast nur um des Vorgangs selber, um des Prozesses willen wichtig war und irgendwie lebensnotwendig blieb. In einem Banksafe bewahrte ich meine Manuskript-Bibliothek auf und entnahm ihr lediglich aus dem ‘unedelsten’ Motiv, nämlich aus schmählichen Geldgründen – und oft wie ungern! – ein verkäufliches Stück.28
Solche Einschätzung ihres Schreibens darf nicht wörtlich genommen werden. Rückblicke auf das eigene Leben, solche Erinnerungen an sich selbst, begradigen bekanntlich noch die wirrsten Wege gelebten Lebens. Damit einhergehende Selbststilisierungen müssen vom kritisch-distanzierten Leser notwendig mitgelesen werden, was die biographische Forschung in aller Regel versäumte. Sie übersah, daß spätestens mit dem postumen Erscheinen des Lebensrückblicks (1951) jene Legendenbildung fortwirkte, die die Verfasserin bewußt ins Wort setzte und die durch den treuen Herausgeber-Freund Pfeiffer interpretierend weitergesponnen wurde. Dies konnte um so leichter geschehen, als Andreas-Salomés theoretische Haltung zu weiblichem Künstlertum dem entsprach, was sie dann im Alterswerk des Lebensrückblicks generalisierend auf sich selbst bezog.
In ihrem Aufsatz Ketzereien gegen die moderne Frau beispielsweise wird der Frau geraten, sich nicht am Mann und ihre literarischen Zeugnisse nicht an der Kunst zu messen, denn der Frau fehle „jenes eigenthümliche selbstlose, zum eigenen Selbst Distanz gewinnende Sich-Verbrauchen-Lassen vom künstlerischen Gebilde als unserem Herrn und Meister“29. Dieser deutlich an Rilke gewonnenen und auf ihn hinzielenden Definition des Künstlertums setzt Andreas-Salomé die physische und psychische „Fähigkeit zur organischen Einheitlichkeit“30 der Frau entgegen. Ohne hier auf die hinter einer solchen Haltung stehende Differenz- und Ergänzungstheorie der Geschlechterkonzeption näher eingehen zu können,31 bleibt festzuhalten, daß zwischen theoretischer Haltung und konkreter Schreibpraxis Andreas-Salomés unterschieden werden muß. Denn das Ziel von Lou von Salomé war von Beginn an die professionelle Schriftstellerei, die anfangs noch keineswegs zwischen künstlerischen, wissenschaftlichen und feuilletonistischen Arbeiten differenzierte. Erst seit ihrer Begegnung mit Rilke deutet sich eine Absage künstlerischer Intentionen an, wenn sie 1903 in einem Brief an ihn zwischen „Kunstleben und Lebenskunst“ trennt und fortfährt: „Ja ich selbst könnte von mir sagen, daß ich obwohl kein Künstler aus solcher Strenge und Bescheidenheit mir die Mutterschaft versagt habe.“32 Diese Selbsteinschätzung als Nicht-Künstlerin führte jedoch keineswegs zu einer Reduktion ihrer Erzählprosa. Erst 1911, mit ihrer aktiven Hinwendung zur Psychoanalyse, ist eine diesbezügliche Zäsur feststellbar, die Ursula Welsch und Michaela Wiesner zu der Annahme verleiten, die Psychoanalyse sei – analog zur theoretischen Haltung weiblichem Künstlertum gegenüber – die „‘frauengerechtere’ Lösung“33 für sie gewesen. Entsprechend schätzen sie Andreas-Salomés Schreiben als eine „Vorstufe zur Psychoanalyse“34 ein. So plausibel diese Annahme für die Zeit nach 1911 erscheinen mag, so zweifelhaft ist sie für die Zeit davor.
Ein erstes Zeugnis für die Schreib- und damit verbundene Publikationsintention findet sich in einem Antwortbrief Gottfried Kinkels. Salomé hatte ihn, so geht aus dem Schreiben hervor, sowohl um die Beurteilung ihrer Gedichte wie um ein Empfehlungsschreiben gebeten. Letzteres konnte er nicht für die von ihr anvisierte Gartenlaube, wohl aber für die Deutsche Dichterhalle leisten. Zur Qualität ihrer Gedichte schreibt er:
Ihre Gedichte sind stark und schön, voll edler und tiefer Empfindung. Ich halte ‘Wellenrauschen’, ‘Todesbitte’ und ‘An den Schmerz’, und das tiefsinnige ‘Es war ein Gott’ für die bedeutendsten. Technisch fehlt es noch: ich glaube, man darf Reime wie fallen – Qualen nicht mehr wagen. Doch ist Reinheit der Reime ein bestrittener Punkt, die meisten Leser achten wohl nicht darauf.35
Begütigend fügt er an den Schluß des Briefes: „Unsere Zeit (in Deutschland) liebt Roman und das ‘Plattentheater’, Lyrik will man nicht lesen.“36 Am 17.1.1882 vermerkt er nochmals nachdrücklich:
Wenn meine technischen Bemerkungen zu Ihren Gedichten Sie abhalten sollten, ferner Ihr Gefühl in Poesie auszuströmen, so wäre ihr Zweck verfehlt. Es ist in jenen Ergüssen vom Seestrande ebensoviel Kraft als Schönheit.37
Auch Malwida von Meysenbug bekam Gedichte vorgelegt. Ihr Urteil:
Ihre Gedichte haben mich tief gerührt und ich hoffe Sie lassen sie mir. Sie zeigen mir, was ich mit immer reinerer Freude sehe: Ihr inneres Leben … Sie haben eine große Aufgabe, wir sprechen noch viel darüber.38
Wieviel darüber gesprochen wurde und was vor allem Thema dieser Gespräche war, ist leider nicht überliefert. Ein Brief von Alois Biedermann jedoch macht plausibel, daß es sich bei der Verteilung der Gedichte im Bekanntenkreis nicht einfach nur um die Literaturproduktion einer anempfindenden jungen Seele handelte. Von der Mutter um eine Einschätzung ihrer Tochter Lou gebeten, heißt es zur Zukunft der Tochter ganz dezidiert:
All ihr wissenschaftliches Streben, ihre ungewöhnliche Begabung dazu und ihre Energie darin ganz anerkennend, habe ich ihr doch vorgehalten, daß für jeden Menschen ein praktischer Lebensberuf mit einem Kreis ganz nüchterner stetiger Pflichten und Aufgaben eine Nothwendigkeit und Wohlthat sei, die erst dem Leben seinen rechten Halt und den soliden Rahmen für inneres wie äußeres Glück gebe, und daß ich den reinen Schriftstellerberuf kaum für Jemanden, am wenigsten aber für ein weibliches Wesen, als den Lebensberuf ansehen könne, der das zu leisten und zu gewähren vermöge.39
Der „reine Schriftstellerberuf“ stand also für Salomé von Anfang an zur Diskussion. Unter diesem Aspekt zeigt sich auch ihre Begegnung mit Nietzsche in einem anderen Licht, nämlich dem einer exklusiven und intensiven Zusammenarbeit mit einem doch im engeren Kreis schon hinlänglich bekannten Philologen und Schriftsteller. Daß Nietzsche neben dem lange ersehnten intellektuellen Partner, der erwünschten „Schülerin“, „Erbin und Fortdenkerin“40 durchaus auch erotische Ambitionen verfolgte, ist als Hintergrund seines pädagogischen Engagements nicht unwichtig, auch wenn er Peter Gast gegenüber betont:
Sie erweisen uns Beiden [Salomé und Nietzsche, E. C.] sicherlich die Ehre, den Begriff einer Liebschaft von unserm Verhältniß fernzuhalten. Wir sind Freunde und ich werde dieses Mädchen und dieses Vertrauen zu mir heilig halten.41
Bei der Bekanntschaft Nietzsches mit Salomé zeigte sich der Salon Malwida von Meysenbugs in seiner bewährten Vermittlungsfunktion für informelle Kontakte.42 Noch in dem Glauben, später die „Dreieinigkeit“ der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft dauerhaft zu konstituieren, wurde vorab ein dreiwöchiger Arbeitsaufenthalt in Tautenburg zwischen Nietzsche und Salomé vereinbart. Diese führte darüber ein Tagebuch für den zurückgebliebenen Freund Rée, in dem sie immer wieder ihre mit Nietzsche „tiefverwandten Naturen“43 betont:
Wie sehr gleich denken und empfinden wir darüber und wie nehmen wir uns die Worte und Gedanken förmlich von den Lippen. Wir sprechen uns diese 3 Wochen förmlich todt und sonderbarer Weise hält er es jetzt plötzlich aus circa 10 Stunden täglich zu verplaudern.44
Konkretes Ergebnis der Arbeit ist Nietzsches Salomé gewidmete Lehre vom Stil, seine wohl für sie formulierten Aufzeichnungen über das schwache Geschlecht und Vom Weibe sowie seine Korrekturen in ihrem Sentenzenbuch.45 Offensichtlich fühlte sich Salomé von ihrem Lehrer gut betreut:
Er rieth mir, meine rasche, kleine Arbeit weiterzuführen und schrieb mir darauf diesbezügliche Bücher auf. Ich freute mich, als er sagte: es wäre ihm alles Produciren von Herzen zuwider, wenn es nicht ein vorzügliches wäre, – er würde also sonst nicht dazu rathen, wenn er es nicht mit dem besten Gewissen thun könnte. Schreiben lernen könnte ich in einem Tage, weil ich dazu vorbereitet wäre. Ich habe übergroßes Vertrauen zu seiner Lehrkraft.46
Wohl im Zusammenhang mit Salomés Abhandlung über die Frau, die sie ihm vorlegte und mit der er stilistisch nicht einverstanden war,47 entwickelte Nietzsche die bislang nur wenig beachtete Äußerung Zur Lehre vom Stil.48
Was Nietzsche für Salomé hier in der Form eines Dekalogs entwarf, ist eine schriftbezogene Rhetorik der Mündlichkeit, gewissermaßen eine Physiologisierung der Schrift. Lebendigkeit des Stils, Gerichtetsein auf ein Gegenüber, die Nachahmung des Mündlichen bis in die Gebärde hinein, Glaubhaftigkeit und Erzeugung von Überredung sind im Sinne Nietzsches die grundlegenden Elemente der darlegenden Schriftprosa. Es bleibt einer anderen Untersuchung vorbehalten, diese Stilkriterien gegebenenfalls in den Arbeiten Salomés aufzuspüren. Sicher ist, daß sie einen Aspekt der Stilansichten mindestens einzuschätzen verstand. An Rée schreibt sie dazu: „N. will den ganzen Menschen überzeugen, er will mit seinem Wort einen Griff in das Gemüth thun und das Innerste umwenden, er will nicht belehren sondern bekehren.“49
Das Resultat des Aufenthalts in Tautenburg läßt sich für Salomé gleich mehrfach bestimmen. Zum einen gab er ihr, eigenem Bekunden nach, ein Ziel:
Wie froh bin ich, eine erkannte und bestimmte Arbeit nun vor mir zu haben. Von dem Plane, mein Lehrer zu sein, ist er ganz abgekommen, er sagt, ich dürfe nie einen solchen Anhalt haben, sondern <müsse> gänzlich unabhängig vorwärtssuchen, – auch niemals mich blos lernend verhalten, sondern schaffend lernen & lernend schaffen.50
Auch Nietzsche bestätigt das: „Tautenburg hat Lou ein Ziel gegeben.“51 Bei dem Ziel dürfte es sich allgemein um die Bestärkung ihres Berufswunsches als Schriftstellerin gehandelt haben, zu dem dann konkret noch eine inhaltliche Orientierung auf religionsphilosophische Fragen hinzutrat. Denn Nietzsche betont später Overbeck gegenüber:
Von Frl. S. soll diesen Frühling etwas erscheinen ‘über religiöse Affecte’ – dies Thema habe ich in ihr entdeckt, es freut mich außerordentlich, daß meine Tautenburger Bemühungen doch noch Früchte tragen.52
Und nochmals Malwida von Meysenbug gegenüber, den religiösen Aspekt aufgreifend: „– das selbe Thema, für welches ich ihre außerordentliche Begabung und Erfahrung in Tautenburg entdeckte – es macht mich glücklich, nicht ganz umsonst mich damals bemüht zu haben.“53 Diese Zielorientierung wurde dezidiert mit einem potentiellen Nachruhm verknüpft. So Nietzsche im Zusammenhang mit einem Gedicht Salomés, das er vertont hatte: „Das wäre so ein kleines Weglein, auf dem wir Beide zusammen zur Nachwelt gelangten – andre Wege vorbehalten.“54 Ähnlich der Freund Rée: „Immer habe ich das Gefühl, als müßte ich Dich unsterblich machen helfen. An der Unsterblichkeit selbst liegt zwar schließlich nicht viel, aber daran liegt Etwas, Unsterbliches zu leisten.“55
Ein weiteres Ergebnis der Tautenburger Zusammenarbeit ist Salomés erstes Buch Im Kampf um Gott. Nach dem Bruch mit Nietzsche 1883/84 geschrieben und im folgenden Jahr erschienen, war es die lange erstrebte Realisierung des Berufswunsches und sollte wohl in diesem Sinn den Aufenthalt Salomés der Familie gegenüber legitimieren.56 Nicht nur die religionsphilosophischen Überlegungen, die recht mühsam in die klischeehaft konstruierte Handlung eingefügt sind, verweisen auf die Tautenburger Zielvorgabe. Zugleich wertete Salomé das Sentenzenbuch aus, das sie Nietzsche vorgelegt hatte und das er umfassend korrigierte, indem er strich, Wörter ersetzte, komprimierend zusammenfaßte oder umformulierte. Eine Reihe von Sentenzen sind wörtlich oder fast wörtlich in das Buch aufgenommen worden.57 Auch von daher dürfte Nietzsches Bemerkung von den „hundert Anklänge[n] an unsre Tautenburger Gespräche“58 verstanden werden.
Damit aber zeigt sich eine Arbeitsweise, die aus der Gesprächspräsenz der unterschiedlichen Geselligkeiten resultierte und die Salomé zeit ihres Lebens beibehalten wird: die peinlichst genaue Registratur und Sammlung aller schriftlichen Zeugnisse, seien es eigene oder fremde, und deren Verwertung für ihre schriftstellerische Produktion. Zu diesem Zweck, als eine Art Ideenmagazin, diente auch das Tagebuch, aus dem sie mitunter ganze Passagen teils wortgetreu, teils sinngemäß für ihre Arbeit verwendete. Zu welcher Fertigkeit sie es damit vor allem in ihren großen Monographien über ihre berühmten Freunde brachte, wird noch zu betrachten sein.
Die Reaktion auf ihren ersten Roman jedenfalls, diese Art „Mémoires und Halb-Roman“59, wie Nietzsche zunächst noch herablassend meinte, war überwältigend, „die beste Presse, die ich je gehabt“60. Selbst Nietzsche mußte, bei aller Kritik, zugestehen:
Alles Formale daran ist mädchenhaft, weichlich, und in Hinsicht auf die Prätension, daß ein alter Mann hier als erzählend gedacht werden soll, geradezu komisch. Aber die Sache selber hat ihren Ernst, auch ihre Höhe.61
Die frühe Sorge Malwida von Meysenbugs, Salomé könne in der Arbeit Nietzsches zu sehr aufgehen, obwohl doch zu beweisen wäre, „daß die Frau auch auf diesen höchsten Gebieten des Denkens allein stehen und selbständige Resultate erzielen kann“62, erwies sich als grundlos. Denn nicht nur Nietzsche profitierte von dem Zusammensein – „Erst seit diesem Verkehr war ich reif zu meinem Zarathustra“63 –, umgekehrt wußte auch Salomé daraus Gewinn zu ziehen. Neben der Bestärkung ihres Berufswunsches in Richtung Unsterblichkeit, dem konkreten Unterricht und der Auswertung der Gespräche und Unterlagen für ihren Roman wird spätestens ab dem Jahre 1890, in dem Nietzsche schlagartig Weltruhm erlangte,64 die Freundschaftsepisode mit ihm zu ihrem symbolischen Kapital. Die Bekanntschaft mit Nietzsche und ihre rege schriftstellerische Arbeit, dazu noch die von ihr gerne betonte Stilisierung als Russin, diese Kombination war auf lange Zeit die Eintrittskarte für die Zirkel der künstlerischen und intellektuellen Avantgarde, wie sie eingangs beschrieben wurden. Im Zusammenhang mit diesen Zirkeln und ihrem Ruf als Russin, Nietzsche-Freundin und Schriftstellerin steht auch der Bereich des Feuilletons, denn, so konstatiert Dagmar Lorenz, feuilletonistisches Schreiben und der kommunikative Diskurs in der Gegenöffentlichkeit der Zirkel gehörten zusammen.65
Die Jahre zwischen 1880 und 1918 gelten als Zeitraum besonderer publizistischer Vielfalt. Ein Ansteigen der Titelzahlen und eine Spezialisierung des Angebots sind Zeichen einer Urbanisierung der Literatur und bringen zugleich eine Kommerzialisierung des Schreibens selbst hervor. Ein Schriftsteller im Dienst der Presse mußte schnell, viel und marktorientiert arbeiten. Das führte zu einem Wandel in der Literaturkritik. Galt vordem noch die ernste Systematik einer Abhandlung als opportun, so wurde jetzt zunehmend einem subjektiven Impressionismus der Vorzug gegeben. Diese Art Feuilletonismus sei, so Theodor Fontane, „kein Gericht, das nährt, aber eine Sauce, die schmeckt“66.
Nun weist sich die Textgattung des Feuilletons von jeher durch eine gewisse subjektive Schreibhaltung in der Annäherung an einen beliebigen Gegenstand aus.67 Nachrichten aus dem Geistes- und Kulturleben, populärwissenschaftliche Darstellungen, allgemeine Betrachtungen über die Welt und ihre gesellschaftlichen Formationen sowie Reiseberichte und belletristische Beiträge bestimmen das Spektrum des Feuilletons. Bei aller Ambivalenz zwischen sachbezogenem, aufklärerischem Räsonnement auf der einen Seite – wie es etwa die Berliner Naturalisten verfolgten – und dem subjektiven Impressionismus auf der anderen Seite – wie er besonders in Wien gepflegt wurde – bilde das Feuilleton insgesamt, so Carl Schorske, das Bindeglied zwischen der Wertschätzung der Kunst und der Beschäftigung mit der eigenen Seele.68
Genau hier ist die publizistische Arbeit Andreas-Salomés zu verorten. Die Verarbeitung von Selbsterlebtem ist Fundament aller ihrer Texte: der Romane und Erzählungen, der populärwissenschaftlichen Essays und psychologischen Betrachtungen ebenso wie ihrer Literaturrezensionen und Theaterkritiken. Dabei ging es Andreas-Salomé immer um ihre Aussage, eine persönliche Stellungnahme zu den Phänomenen der Zeit. Als Kommentar über die Welt, wie sie von ihr wahrgenommen wird, bezieht sie sich auf Wissen, Erfahrung und Werte der Zeit. Das Publikum begriff ihre Texte als gut aufbereitetes Material, durch das man mit interessanten menschlichen Dingen, mit Schicksalen, Entscheidungssituationen, Leid und Freude in Berührung kommen konnte. Von großer Sachkenntnis und ihrem subjektiven Filter gleichermaßen geprägt, sind ihre Texte Aussagen über Tatsächliches, auch wenn sie diesen Auszügen aus dem Leben mitunter einen fiktionalen Rahmen verleiht. Insofern unterscheidet sich ihre Arbeit für die Presse stilistisch nicht von ihren anderen Texten. Für Andreas-Salomé gilt die Verbindung von sachbezogenem Engagement und der Subjektivität ihrer Aussage, eine eher feuilletonistische Herangehensweise. Neben der auf aktuelle Anlässe bezogenen Literatur- und Theaterkritik äußert sie sich zu Stellung und Verhalten der Frau, zur Liebesproblematik, zur Religion und Philosophie und zu Rußland.
Betrachtet man das Werkverzeichnis Andreas-Salomés,69 so ist sowohl die Anzahl der Artikel wie die Vielfalt der Publikationsorgane beachtlich. Neben 17 zu Lebzeiten erschienenen Büchern ist ab 1890 eine kontinuierliche Pressearbeit zu verzeichnen, Pausen sind lediglich von 1902 bis 1904, 1923 bis einschließlich 1926 und, wohl schon aus Altersgründen, ab 1929 festzustellen.70
Nach der von Alfred Estermann aufgestellten Typologie der literarischen Zeitschriftenlandschaft zwischen 1880 und 1918 sind es sieben Zeitschriftentypen, die die deutschsprachige Presselandschaft der Zeit beherrschten, und in allen von ihm untersuchten Typen ist Andreas-Salomé vertreten.71 Ohne die Fachperiodika, Feuilletons und Literaturbeilagen der Tages- und Wochenzeitungen zu berücksichtigen, in denen sie ebenfalls publizierte, vermittelt allein die Aufzählung ihrer Publikationsorgane ein eindrucksvolles Spektrum ihrer Medienpräsenz.72
Daß diese Medienpräsenz auch ein Effekt der Gesprächspräsenz ist, zeigt sich besonders deutlich am Beginn von Andreas-Salomés publizistischer Tätigkeit. Denn ihre erste Arbeit erschien 1890 in der Freien Bühne, deren Gründer Otto Brahm, Wilhelm Bölsche und Otto Julius Bierbaum jenem ‘Friedrichshagener Kreis’ angehörten, mit dem Andreas-Salomé schon vor 1890 locker assoziiert war.
Wie stark die Medienpräsenz mindestens potentiell auf ein modernes Medienbewußtsein hinweist, macht auch Andreas-Salomés Traumspiel Der Teufel und seine Groβmutter deutlich, das als Filmdrehbuch konzipiert war. Auch wenn die filmische Realisierung letztlich nicht glückte, reiht sich Andreas-Salomé mit diesem Konzept ein in die lange Reihe ihrer Schriftstellerkollegen wie Gerhart Hauptmann oder Bert Brecht, die alle Kontakt zu dem neuen Medium suchten, was auf die in den Anfangsjahren vorhandene enge Verflechtung von Literatur und Film hinweist. Zusätzlich plädiert Andreas-Salomé auch aus psychologischer Perspektive für die bewegten Bilder, da „allein die Filmtechnik eine Raschheit der Bildfolge ermöglicht, die annähernd unserm eignen Vorstellungsvermögen entspricht und auch gewissermaßen dessen Sprunghaftigkeit imitiert“73.
Doch nicht nur Auftragsarbeiten für das Tagesgeschäft der Literatur- und Theaterkritiken und die Veröffentlichung ihrer nicht unmittelbar für die Presse geschriebenen Texte machten die große Präsenz in den Zeitschriften aus. Vielmehr liegt ein entscheidendes Moment für ihre Publikationsvielfalt in Andreas-Salomés geradezu strategischer Mehrfachverwertung. Eindrucksvoll läßt sich das am Beispiel ihres 1899 erschienenen Buches Menschenkinder demonstrieren. Von 1897 bis zum Erscheinen des Buches veröffentlichte sie nicht weniger als acht Novellen daraus – nach dem Erscheinen 1911/12 eine weitere –, die alle in dem Band enthalten sind. Auch bei dem 1894 erschienenen Buch über Nietzsche gibt es für die Jahre 1891 und 1892 Vorarbeiten bzw. den Teilabdruck eines Buchkapitels. Modifiziert gilt das auch für das 1892 erschienene Buch über Ibsens Frauen-Gestalten, für das 1898 erschienene Buch Fenitschka. Eine Ausschweifung, für den 1902 erschienenen Band Im Zwischenland, für Die Erotik (1910), die Drei Briefe an einen Knaben (1917), Die Stunde ohne Gott (1922) und für die 1928 und 1931 erschienenen Bücher über Rilke und Freud, von denen jeweils Teilabdrucke erfolgten.
Die drei Komponenten Gesprächspräsenz, Arbeitsweise und Publikationspraxis prägen in ihren jeweiligen Wechselbeziehungen das Profil der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé. Besonders deutlich wird dieses Ineinandergreifen der einzelnen Faktoren am Beispiel der drei großen Monographien über Nietzsche, Rilke und Freud. Grundlage aller drei Bücher ist die persönliche Bekanntschaft, das persönliche Gespräch und die sich daraus entwickelnde schriftliche Dialogsituation in Form eines Briefwechsels. Mein Dank an Freud, 1931 erschienen mit dem Untertitel Offener Brief an Professor Sigmund Freud zu seinem 75. Geburtstag, unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von den anderen beiden Monographien: 1. Der Adressat Freud lebte noch beim Erscheinen des Buches, was bei Rilke nicht mehr und bei Nietzsche noch faktisch, aber nicht mehr geistig der Fall war. Das hatte Konsequenzen für Aufbau und Form des Freud-BucheS. 2. Andreas-Salomé betont zwar mit der Anrede „Lieber Professor Freud“ und der Unterzeichnung „Lou“ die private Grundlage der Dialogsituation, sie verwendet aber keine – zumindest keine für den Leser ersichtliche – Privatkorrespondenz. Statt dessen als offener Brief konzipiert, stellen die neun (!) Kapitel die für Andreas-Salomé maßgeblichen Grundpfeiler der Psychoanalyse dar. Das Manuskript der Arbeit schickte sie Freud, der begeistert zustimmte und nochmals indirekt die Wertschätzung betonte, die sie als Nietzsche- und inzwischen auch Rilke-Freundin genoß:
Es ist das Schönste, was ich von Ihnen gelesen habe, ein unfreiwilliger Beweis Ihrer Überlegenheit über uns alle, entsprechend den Höhen, von denen herab Sie zu uns gekommen sind.74
Weder Rilke noch Nietzsche konnten der Autorin und ihrem Buchprojekt vorab Referenzen erweisen. Was lag näher, als diese Würdigungen ihrer Person und ihrer Arbeit aus den privaten Briefwechseln heraus dem Publikum darzubieten?
Seit dem 18. Jahrhundert ist das archetypische Modell des Briefes definiert als eine private und schriftliche Kommunikation zwischen zwei räumlich entfernten Partnern.75 Jeder Brief stellt insofern die Frage nach der Urheberschaft, als er – als Antwort auf einen anderen – von mehreren zugleich geschrieben ist. Durch den kommunikativen Bezug auf den Adressaten hin ist auch der Einzelbrief in sich selber mindestens potentiell dialogisch. Diese „Echostruktur“76, das Spiel zwischen Eigenem und Anderem, bleibt auch dann bestehen, wenn private Schreiben ohne Wissen des Absenders publiziert und einer öffentlich diffusen Empfängerschaft offeriert werden. Entgegen der ursprünglichen Intention ihrer Verfasser von dritter Seite her einsehbar, ist „der veröffentlichte Brief … immer ein Paradoxon“77, da er durch die Publikation in seiner Gültigkeit festgeschrieben wird.
Die Briefform gilt, im Gegensatz zur geschlossenen Form des Werks mit Autorstatus, als ‘weiblich’ offene Kulturpraxis. Indem Andreas-Salomé als Autorin der Bücher über Rilke und Nietzsche letztere als Briefschreiber zu Wort kommen läßt und dort, wo das Werk der beiden Erwähnung findet, als Interpretatorin auftritt, die sich wiederum über persönliche Gespräche und Briefe zu legitimieren weiß, wird ihr Status als Autorin immer erneut festgeschrieben. Dieses Referenzsystem verstärkt sich durch die oben genannte „Echostruktur“. Denn die zitierten Briefe sind mit wenigen Ausnahmen Briefe an sie, d.h., auch wenn Nietzsche und Rilke brieflich zu Wort kommen, spricht Andreas-Salomé, aufgrund der potentiellen Dialogstruktur, indirekt mit.
Auswahl, Zusammenstellung und Präsentation der Briefe und Briefzitate unterstützen diese Struktur. Das Nietzsche-Buch, 1894 unter dem Titel Friedrich Nietzsche in seinen Werken erschienen, bietet dem Lesepublikum, neben vielen gedruckt wiedergegebenen Briefauszügen, drei faksimilierte Briefe Nietzsches an die Autorin. Das Dokumentarische der Schreibweise dient als Authentizitätsnachweis der Briefe – trotz teilweiser Texteingriffe durch Andreas- Salomé – und damit als Autoritätsnachweis der Autorin und Beleg für das Publikum.
Dieser ins Werk und ins Bild gesetzten Autorisierung folgt die Auswahl. Der erste faksimilierte Brief Nietzsches dient nach dem Willen der Autorin als Vorwort. Somit gleichsam den Status einer Investitur einnehmend, soll der Wortlaut des Briefes die nachfolgende Herangehensweise der Autorin legitimieren. Wenn es etwa im Brief Nietzsches heißt: „Ihr Gedanke einer Reduktion der philosophischen Systeme auf Personal-Acten ihrer Urheber ist recht ein Gedanke aus dem ‘Geschwistergehirn’“78, dann wird damit die psychologisierende Deutung Nietzsches und seines Werks aus dem Individuum heraus nachträglich sanktioniert. Wenn Nietzsche weiter über das Gedeihen ihres gemeinsamen Projektes – seiner Vertonung ihres Lebens-Gebetes – schreibt, dann ist das der Hinweis auf eine bereits praktizierte Geistesnähe. Und wenn Nietzsche schließlich die „Charakteristik meiner selbst“ positiv erwähnt, die ja erklärtermaßen die Grundlage des Nietzsche-Buches darstellt, dann suggeriert der 1882 geschriebene Brief im Bucherscheinungsjahr 1894 das Plazet des Autors Nietzsche für die Autorin Andreas-Salomé, zu diesem Zeitpunkt letztlich Statthalterin seiner selbst.
Die beiden weiteren Faksimiles des Nietzsche-Buches – die Briefe von Mitte Juli und vom 3.7.188279 – haben nicht diesen kategorialen Investiturstatus, deshalb wurden sie, obwohl früher geschrieben als der erste Brief des Buches, nachgestellt. Hier wird deutlich, wie die Autorin durch Auswahl und Textedition die Lektüre für das Lesepublikum aufzubereiten und zu dirigieren verstand. Denn die Briefe untermalen den Auftakt des ersten Faksimiles, indem sie von dem gemeinsamen regen Kontakt sprechen und vor allem Nietzsches Zuversicht Ausdruck geben, mit der Autorin eine gemeinsame Zukunft zu haben. So heißt es im Brief vom 3. 7.: „Aber von jetzt ab, wo Sie mich berathen werden, werde ich gut berathen sein und brauche mich nicht zu fürchten. –“80
Das Kriterium für die weiter im Text erscheinenden Briefzitate und Gesprächserinnerungen ist die ‘menschliche’ Rezeption Nietzsches. Dafür strich die Autorin einzelne Wörter oder ganze Passagen, veränderte mitunter die Zeitabfolge, griff einzelne Sätze heraus, formulierte in Anlehnung an Nietzsche oder legte umgekehrt Nietzsche ihre ihn interpretierenden Tagebuchaufzeichnungen in den Mund. In dem 1983 verfaßten Nachwort der Neuauflage heißt es dazu wohlwollend: „Ihre tiefe Kenntnis seiner Person und seines Denkens sprengte den Rahmen des Wort-Wörtlichen und führte mitunter zu einem recht freien Umgang mit seinen Zitaten, die manchmal reine Gedächtniszitate sind.“81
Auffallend ist, wie die Autorin enthistorisierte. Statt zeitlich zu fixieren und Daten zu nennen, taucht immer wieder das ‘Es war einmal’, das unbestimmte ‘Damals’ des Märchens auf. So erwähnt sie z.B. die Lehre vom Stil, „die Nietzsche mir einmal aufschrieb“82. An ihr erstes Treffen mit ihm erinnert sie sich: „– es war an einem Frühlingstage in der Peterskirche zu Rom“.83 Die Einleitung eines Briefpassus erfolgt mit den Worten: „Nietzsche schreibt einmal an Rée“84, und eine Zettelnotiz Nietzsches wird mit den Worten kommentiert: „So lautete einer der Zettel, die er mir zuschickte, wenn er an sein Lager gefesselt war.“85 Daß die Freundschaft mit Nietzsche keine lebenslange war, sondern inklusive des Briefwechsels allenfalls ein halbes Jahr dauerte, wird durch solche ins Allgemeine und Überzeitliche zielenden Formulierungen nicht ersichtlich.
Doch das widerspräche auch der Intention des Buches. Denn gewidmet „dem, der Nietzsches Schriften zu lesen weiß“86, geht es der Autorin um die bislang unbekannten Grundzüge seiner „geistigen Individualität“87: „All sein Erleben war ein so tief innerliches, daß es sich nur im Gespräch, von Mund zu Mund, und in den Gedanken seiner Werke kundthat.“88 Und dies zu erläutern, auf der Grundlage des persönlich erfahrenen Gesprächs mit Nietzsche, war Andreas-Salomé angetreten. In ihrem Lebensrückblick heißt es zum richtigen Umgang mit Nietzsche:
Mein Buch … schrieb ich noch voller Unbefangenheit, nur dadurch veranlaßt, daß mit seinem eigentlichen Berühmtsein gar zu viele Literatenjünglinge sich seiner mißverständlich bemächtigten; mir selbst war ja erst nach unserm persönlichen Verkehr das geistige Bild Nietzsches recht aufgegangen an seinen Werken; mir war an nichts gelegen als am Verstehen der Nietzschegestalt aus diesen sachlichen Eindrücken heraus. Und so, wie mir sein Bild – in der reinen Nachfeier des Persönlichen – aufging, sollte es vor mir stehenbleiben.89
Noch heute gilt Andreas-Salomé als „Nietzsches früheste und bedeutendste Interpretin“90. Ihre Einteilung der Schaffensperioden Nietzsches in drei Phasen – die Wagner-Schopenhauer-Phase, die positivistische und die mystische Phase – prägte lange Zeit die wissenschaftliche Diskussion. Auch die Zeitgenossen spendeten Beifall, wenn auch mitunter der zu starke Akzent der Freundschaft, wie die Autorin sie darstellte, kritisch vermerkt wurde.91 Grundsätzlich zu bezweifeln ist die mündlich überlieferte Bemerkung Andreas-Salomés gegenüber dem späteren Herausgeber ihrer Schriften, „sie könne sich Nietzsche aus ihrem Leben fortdenken“92. Das symbolische Kapital, das Nietzsche für sie als Autorin darstellte, dürfte von ihr ernsthaft wohl kaum unterschätzt worden sein.
Die Gepflogenheit, private Briefe bekannter Personen zu drucken, ist seit Mitte des 18. Jahrhunderts paradoxes Zeichen der zunehmenden Bedeutung des Privaten, das als Privates öffentlich demonstriert werden mußte. Die Herausgeber verstanden sich als Bewahrer von Authentischem, die durch Auswahl und Textedition, durch Einleitungen und Kommentierungen ihr Publikum auf das einstimmten, was als Zweck hinter den Darstellungen stand. Von Verehrung für die Persönlichkeit geprägt, wurde in aller Regel ein Denkmal angestrebt, sei es literarischer, geistiger oder biographischer Art. Damit gewann das Kriterium lebensmäßiger Echtheit an Bedeutung, was sich exemplarisch an der 1830 erschienenen Schillerbiographie von Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen zeigt.93 Ihre Form der Biographie als Lebens- und Charakterbild vor dem Hintergrund der persönlichen Kenntnis von Schillers Person prägte auch noch um 1900 die Gattung, wenngleich nun stärker der Weg der psychologischen Deutung aus dem Individuum heraus beschritten wurde.
Sosehr auch Andreas-Salomé dieser Tradition verpflichtet war – gerade was Texteingriffe und -aufbereitung betraf –, als Biographin oder Herausgeberin verstand sie sich nicht. Der bereits erläuterte Aufbau und die Struktur des Nietzsche-Buches verweisen vielmehr auf ihren Status als Autorin. Auch sie setzte ein Denkmal, aber es ist das Denkmal ihrer Selbstaussage zu Mensch und Werk Nietzsches. Der Aufbau und die Struktur des Rilke-Buches entsprechen dem Textverfahren des Nietzsche-Buches. Galt allerdings letzteres noch Person und Werk, aus welchem dann wiederum die Person herausdestilliert wurde, so verrät schon der Titel des 1928 erschienenen Buches Rainer Maria Rilke die generalisierende Eindeutigkeit von Andreas-Salomés Konfession. Es ist die erklärte Absicht der Autorin, in diesem nur gut ein Jahr nach Rilkes Tod publizierten Werk dem Leser „die bedeutsame Bezogenheit seines Lebens zu seinem Sterben“94 darzulegen. In Abgrenzung sowohl von kritisch-ästhetischer Würdigung, biographischem Gesamtaufriß wie umfassend psychologischer Deutung geht es Andreas-Salomé um ein „Zwiegespräch“: „Hat es [das Buch, E. C.] sich doch aus einem einzigen Briefwechsel die Gegenrede entnommen, ist es doch beinahe nur ein Akt nochmaliger Inbesitznahme des Entschwundenen, letztes Beisammensein – Zwiegespräch.“95
Grundlage dieser tatsächlichen „Inbesitznahme“ ist auch hier wieder – wie im Nietzsche-Buch – neben dem persönlichen Gesprächskontakt der Briefwechsel zwischen Andreas-Salomé und Rilke, der von 1897 bis zum Tode Rilkes im Dezember 1926 geführt wurde und in dem die ehemalige Geliebte lebenslang als Ratgeberin, Zuhörerin, Mentorin und Anschreibpol fungierte. Entsprechend dieser ‘Ohr’-Funktion Andreas-Salomés beherrscht den Briefwechsel vor allem das Thema von Rilkes Schreibvorgang und seine Verfassung in und nach den Schreibphasen, was sich in zahllosen Bekenntnissen, Beichten, Rechenschaftsberichten in eigener Sache und periodischen Krisenbriefen Bahn bricht. Dazu kommt – und das wird von der Autorin des Rilke-Buches außer acht gelassen – der poetische Entwurfscharakter, der Rilkes Briefen insgesamt eignet.
Denn der Brief ist nie nur Dokument und Zeugnis der Psyche des Schreibers, seiner Lebensumstände und des Zeitgeschehens. Die Grenzen zwischen pragmatischem Zweck der brieflichen Mitteilung und fiktionalem Gehalt sind fließend, „der Grad der Fingierung dem Grad der Literarizität proportional“96. Gerade bei Rilke gilt der Brief als Form dichterischer Produktion, so daß seine an reale Personen gerichteten Briefe nur vordergründig als Privatbriefe angesehen werden können. Vielmehr beherrscht die Briefe ein textimmanentes Alsob. Der nur scheinbar privat sich Mitteilende ersetzt den ‘authentischen’ Lebensbericht durch das subtil stilisierte oder fiktionalisierte Erleben. Sei es als ritualisierte schriftliche Ersatzhandlung, sei es als Lebenskorrektur oder als Schreibübung, grundsätzlich bestimmend ist das Changieren zwischen Realität und Fiktion. Zudem sind sowohl Schreiber wie Adressat doppelt vorhanden, indem dem Schreiber ein erschriebenes Ich und dem Adressaten ein erschriebenes Du gegenübersteht.
Diese Wechselwirkung von Erlebtem und Erschriebenem wird von der Autorin des Rilke-Buches nicht reflektiert. Wohl registriert sie konkret, daß beispielsweise wesentliche Passagen eines Briefes an sie vom 18.7.1903 in die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Rilkes erstem und einzigem Roman, eingegangen sind. Doch sie folgert daraus: „Wenn ich die brieflichen Schilderungen davon nicht hier ausführe, so ist es deshalb, weil sie wörtlich in das Pariser Tagebuch des ‘Malte Laurids Brigge’ übernommen worden sind.“97 Nicht die potentielle Literarizität interessiert, sondern das vorgeblich Authentische der Briefäußerungen.
Wiederum geht es also um die Person, um ein Abbild des ‘wirklichen’ Lebens, wie es sich ihr im persönlichen und brieflichen Kontakt darstellte. Die Gedichte aus dem Stundenbuch gelten ihr als „gewissermaßen des Dichters damaliges jugendliches Selbst“98, wie überhaupt sowohl Briefzitate wie Gedichte Rilkes und erinnerte Gespräche grundsätzlich zweierlei bezeugen sollen: die Autorin als Mentorin des Künstlers und den Künstler als Künstler.
Die Bedeutung von Andreas-Salomé für Rilkes Entwicklung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wenn auch nicht mehr wie am Beginn der Beziehung, wo Rilke Gott und die Geliebte geradezu äquivalent setzte, so tragen einzelne Briefpassagen, die Andreas-Salomé ansprechen, auch später noch nahezu hymnischen Charakter. Daran läßt die Autorin den Leser teilhaben:
Dir muß ich es sagen, weil in Deinen Händen meine ersten Gebete ruhen, an die ich so oft gedacht und an denen ich mich so oft aus der Ferne gehalten habe. Weil sie so großen Klanges sind und weil sie so ruhig sind bei Dir (und weil niemand außer Dir und mir von ihnen weiß), darum konnte ich mich halten an ihnen – – – – Denn sieh, ich bin ein Fremder und ein Armer. Und ich werde vorübergehen; aber in Deinen Händen soll alles sein, was einmal hätte meine Heimat werden können, wenn ich stärker gewesen wäre.99
Solchen ausgewählten Zitatstellen folgt der eigene Text als Textergänzung. Ziel der Darstellung ist die Tragik eines Künstlers, der keine harmonische Einheit von Leben und Werk findet, sondern sich der Kunst ganz hingibt. Es ist „das tödliche Verhängnis desjenigen, der als Künstler dermaßen bis ans letzte vordrang, daß er sich erst über die Grenze der Kunst ans Ziel finden konnte – – wo er sich selbst nicht mehr aufgenommen fand“100. Indem hier dem Leser die Tragik eines männlichen Künstlers vor Augen geführt wird, dessen schuldlose ‘Verfehlung’ in der nie erzielten Harmonie bestand, konturiert sich die Autorin als Frau und Nichtkünstlerin. Weit entfernt, an diesem Widerspruch zu scheitern oder ihn notgedrungen als Manko für sich zu verbuchen, unterstützt er vielmehr ihre seit langem vertretene theoretische Position, die Frau verbrauche „ihre Kraft und ihren Saft innerhalb des eigenen Wesensmarkes“101 und habe es letztlich nicht nötig, schöpferisch tätig zu sein: Autorin, das zeigt Andreas- Salomé, wird man auf andere Weise.
Indem Andreas-Salomé durch ihre Selektionsarbeit von Briefen und Erinnerungen Rilke nach ihrem Bilde formt, entindividualisiert sie ihn zum Denkmal, so daß er durch ihre Federführung unter die Gattung ‘einsamer Dichter’ subsumiert werden kann. Nicht nur als Freundin und Mentorin des Dichters übte sie schon zu seinen Lebzeiten großen Einfluß aus. Endgültig als Autorin, die in ihrem Buch Rilke neu erfindet, macht sie sich über Formen idealisierender Vereindeutigung zur Schöpferin Rilkes, der in dieser Gestalt ihr Werk ist.102
Mithin sind inspirierende Mündlichkeit im Gespräch, die Archivierung solcher Erinnerungen in Tagebüchern und Briefwechseln und schließlich deren Aufbereitung zu Publikationszwecken Bausteine einer Karriereplanung, die, aus dem Musenamt heraus entwickelt, zum Status der Autorin führen. Letztlich Effekt einer Schriftkultur, in der die Muse schreiben lernte, ist Lou Andreas-Salomé das Paradigma einer Musenexistenz in der Moderne.103 Insofern ist ihr Ruf als Freundin großer Männer richtig und falsch zugleich: Lou Andreas-Salomé ist vor allem Autorin, die sich ihren Ruf als Freundin großer Männer zu erschreiben wußte.