Читать книгу Deutschsprachige Schriftstellerinnen des Fin de siècle - Группа авторов - Страница 9
„Naturalismus schlichtweg!“
ОглавлениеAuf diese Töchter und Söhne der Reichsgründungsväter konnte eine literarische Strömung zählen, die sich die „Revolution“ von Kunst und Literatur auf die Fahnen geschrieben hatte – und sich einer Kunsttheorie anschloß, die erstmals wieder europäische Züge trug: dem Naturalismus. Denjenigen, denen der eigene Blick noch nicht geschärft war, wurden die Augen durch einflußreiche Naturwissenschaftler und Philosophen geöffnet. Neue Weltbilder entstanden und ließen die alten, scheinbar unumstößlichen Einstellungen neu bedenken.12 Charles Darwin hatte aufgeräumt mit der Sonderrolle des Menschen in der Evolution und mit seinem Werk Über die Entstehung der Arten neue Diskurse eröffnet, die von Begriffen wie „Kampf ums Dasein“, „Selektion“ und „Vererbung“ geprägt waren. Karl Marx begründete zur gleichen Zeit die materialistische Geschichtsphilosophie, in der er die Abhängigkeit des Lebens von den ökonomischen Bedingungen beschrieb und die revolutionäre Selbstbefreiung des Proletariats einforderte. Schließlich wurde Hippolyte Taine, ein französischer Soziologe, der am entschiedensten die philosophischen und anthropologischen Erkenntnisse des Positivismus vertrat, zum Wegbereiter junger intellektueller Künstler, die sich zum Ziel setzten, die Welt – und das hieß auch das Wesen des Menschen und der ihn umgebenden Gesellschaft – als rein empirisches Faktum darzustellen:
Wie die Naturwissenschaften war der zwar jeder idealistischen Spekulation abholde, letzten Endes aber doch wieder philosophierende Positivismus darauf aus, im Verhalten des Einzelnen wie der Gesellschaft bestimmte, voraussagbare Gesetzmäßigkeiten, Ursachen und Wirkungen, Kausalitäten zu erkennen. Demnach war das Individuelle, der Einzelne von drei Faktoren, von „race“ (Herkunft), „milieu“ (sozialer Umgebung) und „temps“ (den Zeitumständen) bestimmt.13
Unerhörtes tat sich in deutscher Kunstszene auf. Michael Georg Conrad rief 1885 in seiner eigens zu diesem Zwecke herausgegebenen Zeitschrift Die Gesellschaft zum literarischen Umsturz gegen „spekulative Rücksichtsnehmerei“, „schöngeistigen Dusel“ und „gefühlvolle Lieblingsthorheiten“ auf. Keine Anstrengung solle die neue Kunst scheuen, „der herrschenden jammervollen Verflachung und Verwässerung des litterarischen, künstlerischen und sozialen Geistes“ mit „starke[n], mannhafte[n] Leistungen“ entgegenzutreten und „die entsittlichende Verlogenheit, die romantische Flunkerei und entnervende Phantasterei durch das positive Gegenteil wirksam zu bekämpfen“.14 Wem galt die Attacke? Sie galt jener „Epigonenliteratur“, für die Helmut Koopmann in dieser Anthologie die Werke Marie von Ebner-Eschenbachs beispielhaft anführt:
Überall Ehegeschichten und Liebesabenteuer, aber nirgendwo oder doch so gut wie nirgendwo Natürlichkeit. Oder: Wenn Natürliches auftaucht, ist es gleichsam literarisch parfümiert. Vieles ist heruntergekommenes Biedermeier, das Leben miniaturisiert, manchmal ins Märchenhafte umgebogen. Ein paar verschämte Glücksansprüche gibt es noch als Erbschaft des großen 18. Jahrhunderts, aber entweder scheitern sie, oder sie werden bagatellisiert. Eines freilich zieht sich überall hindurch: etwas Harmonisierendes, und wenn die Wirklichkeit sich dieser Neigung zur verharmlosenden Beleuchtung entzieht, dann wird sie kurzerhand ausgeblendet. (S. 163)15
In dieser „reichlich frauliche[n] Welt“, in der Helmut Koopmann Schriftstellerin, Werk und Leserin ansiedelt, fand sich das bürgerliche Lesepublikum, „allem heraufziehenden Unheil, das mit den Gründerjahren hochkam, zum Trotze“(S. 164), gleichermaßen in seinem Bedürfnis nach Distanz zu politischen Fragen und nach heiler Welt zurecht. Und genau im Widerspruch zur Beschaulichkeit jener Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierten sich die vielfältigen Programme, die der Naturalismus zusammentrug: im gemeinsamen Protest gegen das Tradierte, gegen die Lebens- und Lesegewohnheiten einer „fraulichen Welt“, in der sich weder die Frauen noch die Männer der jungen Schriftstellergeneration zu Hause fühlten.
Kunstgesetze sollten das literarische Terrain neu abstecken – basierend auf dem Glauben an eine grundsätzliche Korrespondenz zwischen Kunst und Leben. Die Seele, „also das Denken, Fühlen und Wollen des Menschen im Zusammenhang mit den natürlichen Mächten in ihm (Anlagen) und außer ihm (Verhältnissen)“, solle dargestellt werden, forderte Eugen Wolff 1888. Ging es ihm noch um einen „künstlerische[n] Naturalismus“16, so propagierte Arno Holz drei Jahre später, die Kunst solle sich um eine exakte Wiedergabe der Wirklichkeit bemühen, wobei jener Faktor x, der die künstlerische Subjektivität und die künstlerische Unvollkommenheit symbolisiere, dem Programm zufolge selbstverständlich so gering wie möglich gehalten werden solle. Prägend für den deutschen Naturalismus fand Arno Holz eine Formel, Kunst = Natur – X, die ästhetische Methode und Thema des Naturalismus veranschaulichte: „Die Kunst hat die Tendenz, wider die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer jedweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung.“17
Zutage beförderten die Naturalisten die weniger schönen Seiten des Kaiserreichs: Massenelend, Prostitution, Trunksucht, Familienzerrüttung, Mord. „Man gewöhne sich bitte daran, allenthalben als das Selbstverständlichste von der Welt nur Dreck, Moder, Schweiß, Staub, Kot, Schleim und andere Parfüms zu erwarten“, heißt es in Conradis Roman Adam Mensch.18 Da es ihm um die Darstellung der ungeschminkten Wahrheit ging, die zu übersehen sich viele Mitbürger entschlossen hatten, wohnte dem Naturalismus eine Gesellschaftskritik inne,19 von der diejenigen Kunstschaffenden profitierten, die vor allem vom skandinavischen Naturalismus beeinflußt wurden: die Frauen. Böse bezichtigte Laura Marholm – selbst als weiblicher Strindberg verschrieen – Ibsen, den „Emancipationsdamen“ das Programm formuliert zu haben, noch „ehe sie es selbst stammeln konnten“.20
Kaum aber eine Schriftstellerin favorisierte jenes formelhafte naturalistische Grundgesetz. Um die Wirklichkeit der bürgerlichen Frau wiederzugeben, bedurfte es einer künstlerischen Gestaltung, die sich nicht auf die getreue Schilderung des Sichtbaren beschränken durfte. Denn darum ging es ja gerade: Was an äußerer Lebenswirklichkeit hier zu beobachten war, entsprach nicht der Wahrheit. Stellvertretend für viele Kolleginnen und Kollegen erklärte Gabriele Reuter die Bedeutung der von ihr synonym verwendeten Begriffe Realismus und Naturalismus ausdrücklich als artifizielle, d.h. fiktive Präsentation der Wahrheit:
In der Zukunft wurde es mir immer klarer, daß nur die Menschen und die Verhältnisse, die man genau kennt und innerlich selbst durchlebt hat, in der dichterischen Wiedergabe von warmem Lebensblut durchpulst sein werden. Zugleich bilden sie aber doch nur den Ton, der unter den Händen und beseelt vom Geiste des Bildners eine völlig neue Form annimmt. Darum kann von einem sogenannten Photographieren, wie der Laie es gerne ausdrückt, niemals die Rede sein … Jene Forderung, die dem Künstler meist vom empörten Publikum gestellt wird: er soll, wenn er denn nach dem lebenden Modell arbeite, die Verhältnisse, das Äußere so verändern, daß man es nicht wiedererkenne, wird zum baren Unsinn, zur Unmöglichkeit gegenüber den Forderungen einer wahrhaftigen und ehrlichen Kunst.21
Wie alle Schriftstellerinnen, die sich vom Naturalismus inspirieren ließen, richteten sich ihre Schriften zunächst ausdrücklich gegen den Kult des Individuellen: Die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft galt es zu zeigen, mit allen Insignien eines geknechteten Menschen ausgestattet. Helmut Koopmann weist auf den Bündnischarakter der naturalistischen Programmatik hin, die teilweise als Schutzbündnis, teilweise als Versuch, Gleichgesinnte zu gewinnen, zu verstehen sei. Und gerade der kam den Schriftstellerinnen entgegen, die zwischen 1880 und 1890 zu schreiben begannen. Sie hatten verstanden, daß das persönliche (weibliche) Leiden an der Gesellschaft eine kollektive Gemeinschaftserfahrung war, und sahen sich nun berufen, diese Erkenntnis an typisierten Frauenfiguren darzustellen, um den geplagten Mitschwestern die Augen zu öffnen.22 Hatte ein Jahr nach jenem theaterdonnernden Aufruf Conrads Julius Hillebrand für die neue Kunst poetologische Konsequenzen gezogen und gefordert, „individualisierte Typen“ in den „charakteristischen Momenten“23 ihres Daseins „in der Sprache des Lebens“ darzustellen, so griffen die Damen der Feder genau dieses Kunstprogramm auf. „Aude sapere“,24 rief Hillebrand den aufgeklärten Dichtern seiner Zeit zu – gehört wurde er vor allem von den Frauen.
Niemand konnte den Einfluß Ibsens auf die deutsche Literaturszene bestreiten – am wenigsten die Schriftstellerinnen, die dem berühmten Norweger gleichermaßen mit Bewunderung und Lerneifer entgegentraten. Hier zeigte das Fin de siècle das ihm innewohnende Moment der Bewegung, des Suchenden und Grenzüberschreitenden: Für die um 1860 geborenen Schriftstellerinnen boten Dramen wie Nora und Die Frau vom Meere neue Wege des Selbstverständnisses. In der allgemeinen Atmosphäre des Aufbruchs griffen die Frauen nun zum erstenmal kollektiv zur Feder, um die weibliche Sicht auf die Welt zu beschreiben. Ganz unbeabsichtigt gelten für sie die Worte Musils:
Aus dem öligen Geist der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle … Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten.25
Ohne ersichtliches Bemühen, ihre Kunst nach Manifesten auszurichten, entdeckten die jungen Autorinnen rasch die innovativen Möglichkeiten der neuen Kunstrichtung. Schon bald konnte Theodor Klaiber über „dichtende Frauen der Gegenwart“ berichten:
Die Frau fängt an, sich in der Literatur zu regen. Als von allen Seiten auf die geistige Verflachung und Verödung hingewiesen wurde, der die Gesellschaft durch die Pflege ihrer bürgerlichen Vorurteile und ihrer schwachherzigen Erfolgsanbetung immer mehr verfiel, als das Recht der Einzelpersönlichkeit gegenüber den Zumutungen des Übereinkommens überall lauter und lauter verkündet wurde, da gab auch die Frau ihre bisherige Zurückhaltung auf und mischte ihre Stimme in den allgemeinen Chor.26
Entstammte die schreibende weibliche Zunft in der Vergangenheit hauptsächlich den Reihen der Aristokratinnen, griffen nun verstärkt die bürgerlichen Frauen zur Feder. Durch die seit den siebziger Jahren aufblühende Frauenbewegung unterstützt, schuf die Generation junger Schriftstellerinnen in der Tat Weiblichkeitsbilder „disharmonischer als die Wirklichkeit“27 – und erntete folglich nicht nur Lob. Nicht nur der sich in herzlicher Achtung vor der neuen „Frauenliteratur“ verneigende Theodor Klaiber stellte fest, daß hier eine schreibende Generation sich entwickele, der das traurige Verhalten aufstrebender sozialer Schichten eigne: Übertreibung allenthalben. Hatte er noch unmittelbar zuvor von einer dringend gebotenen Bereicherung des deutschen Schrifttums durch den weiblichen Blick der schreibenden Damen gesprochen, so rief er denen zu, dem schriftstellerischen Treiben Einhalt zu gebieten, die es mit dem sozialen Engagement gar zu genau nahmen und „Bücher voll grimmigen Hohns und voll derber Tendenz, voll bitterer Klage und trotziger Auflehnung“28 verfaßten. Klaibers Attacke galt vor allem Helene Böhlau, die sich in ihrem Frühwerk – wie Alyth Grant in ihrem Beitrag zeigt – vom Naturalismus inspirieren ließ und in ihren Romanen, vor allem aber in Halbtier! und Der Rangierbahnhof, nicht vor Szenen schockierender Brutalität zurückschreckte. Hier kristallisiert sich bereits ein wesentliches Merkmal der Prosa aus weiblicher Hand heraus: Jene die Menschen determinierende temps, die der Naturalismus auf seine Fahnen geschrieben hatte, analysiert Alyth Grant anhand der Frauenschicksale in Böhlaus Romanen beispielhaft als kulturellen Diskurs von Weiblichkeit.
Auch andere dem Naturalismus zuzurechnende Schriftstellerinnen fanden kurzfristig Aufnahme in den literarischen Kanon. Als aufrüttelnde, wahrhaftige „Anklageliteratur“, die einen wirkungsvollen Beitrag zur Diskussion der „Frauenfrage“ lieferte, blieben sie die frauenrechtlerische Variante der zeitgenössischen Literatur. Bald erwies sich der ehemals förderliche Aktualitätsbonus ihrer Romane als janusköpfig: Mit zunehmender rechtlicher Gleichstellung der Frau galt die kaum zu übersehende „Tendenz“ ihrer Romane als antiquiert und verhinderte eine dauerhafte Aufnahme in das Reich der Kunstschaffenden.29
Trotzdem verschrieb sich der überwiegende Teil der Schriftstellerinnen bis zum Ersten Weltkrieg einer – wie auch immer verstandenen – Frauenemanzipation. Auch Bertha von Suttner, so zeigt der Essay von Edelgard Biedermann, ging es um mehr als um Die Waffen nieder!, obwohl der 1901 entstandene Aufruf zum Pazifismus den Ruhm der Autorin als mutige Vorkämpferin der Friedensbewegung etablierte. In ihrem umfangreichen Romanwerk, das in seinen antibürgerlichen Zügen konzeptionell dem Naturalismus nahestand, spiegelt sich Suttners Auffassung, „daß die Belletristik höhere Pflichten hat, als die, beschäftigungslosen Leuten eine langweilige Stunde zu vertreiben“ (S. 321). Das führte nicht nur zu didaktisch ausgerichteten Inhalten, wie der Demonstration der notwendigen geistig-intellektuellen Gleichberechtigung der Frau, sondern auch zu einem variierenden Erzählstil, je nachdem, ob die Autorin männliche oder weibliche Leser ankündigte. Kurios, so berichtet Edelgard Biedermann, waren die Folgen: „Als Dame“ wurde Bertha von Suttner abgeraten, ihr eigenes (anonym erschienenes) Buch zu lesen.
Bei Minna Kautsky verschlug es Theodor Klaiber, dem mutigen Vorstreiter der Frauendichtung, offensichtlich von vornherein die Sprache – er fand sie nicht erwähnenswert. Möglicherweise trug dazu bei, daß diese Autorin sich offensiv der unteren Schichten angenommen hatte und sozialistisches Engagement und Literatur zu verbinden versuchte. Als bekannteste deutsche Romanautorin der Arbeiterbewegung wurde ihr bald ein Markenzeichen verliehen, das Beliebtheit und Erzählstil gleichermaßen widerspiegelte: die „Rote Marlitt“. Von Bebel inspiriert und von ihrem Sohn Karl30 ermutigt, bekannte sie öffentlich, daß die Befreiung der Frau nur im Zusammenhang mit dem Kampf des Proletariats erfolgen könne. Allerdings konnte ihr Engagement für die unteren Schichten nicht über die mangelhafte künstlerische Fertigkeit mancher ihrer Produkte hinwegtäuschen, eine bedauerliche Tatsache, die auch der von ihren Themen begeisterte Friedrich Engels nicht übersehen konnte.31 So bleibt vom sozialgeschichtlichen Standpunkt aus betrachtet Minna Kautskys Verdienst hervorzuheben – hier setzt Heidy Margrit Müller ihren Schwerpunkt – und deutlich zu machen, welche Denkmuster den lesenden Arbeiterinnen nahegebracht wurden und in welcher Weise diese sich im Laufe der Jahre (das Sozialistengesetz galt zur Zeit ihres größten Erfolgs) änderten: „Minna Kautskys Romane und Erzählungen sind … in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich; auch in Zukunft dürften sie als mentalitätshistorische Dokumente aus einer Zeit des Übergangs von der Handarbeit zu industriellen Verarbeitungsprozessen, des sozialen Wandels und der Neukonzeption des Geschlechterverhältnisses von Interesse bleiben“ (S. 210).