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„Untätigkeit ist der Schlaftrunk …“
ОглавлениеWenn also nicht ungehemmter Liebesgenuß zu empfehlen war, dann half nur der Eintritt in das Berufsleben, um der zu erwartenden Identitätskrise zu begegnen. Das aber war ein Schritt, der nicht nur angesichts des herrschenden Frauenideals, sondern vor allem wegen institutioneller Unwägbarkeiten gerade bürgerlichen Frauen kaum offenstand. Bereits 1874 hatte Hedwig Dohm die „wissenschaftliche Emancipation der Frau“ in gewohnt bissiger Manier gefordert, indem sie einen ihrer Widersacher direkt angriff:
Sie, Herr von Bischof, sind sicher ein eminenter Anatom. Nun stellen Sie sich vor, Sie wären in einer Schule, dem Abbild einer gewöhnlichen Mädchenschule, erzogen worden. Mit kaum sechzehn Jahren hätte man Sie dieser Bildungsanstalt enthoben, an den Nähtisch gesetzt, hinter das Plättbrett gestellt und in die Küche geschoben.
Wie und wann, Herr von Bischof, glauben Sie nun wohl, wäre Ihr anatomischer Genius zum Durchbruch gekommen? Ob mit dem Bereiten eines Puddings der Verdauungsprozeß dieses Puddings in Ihrem Körper sich Ihrem ahnungsvollen Geiste physiologisch und anatomisch dargestellt hätte?
Ob bei dem Häuten eines Hasen plötzlich der Geist der Anatomie über Sie gekommen wäre – und aus heiler Haut hätten Sie angefangen, der staunenden Köchin die Unterschiede männlicher und weiblicher Hasenskelette zu erläutern? Ich möchte es bezweifeln; ich möchte eher glauben, daß Sie eine ebenso tüchtige Nähmamsell geworden wären, wie Sie jetzt ein hervorragender Anatom sind.116
Zwar hatte sich die Einstellung gegenüber arbeitenden Frauen gewandelt, doch während mit zunehmender Industrialisierung ein Heer von Arbeiterinnen entstand und die Entwicklung von Dienstleistungsunternehmen dazu beitrug, daß ein weiteres Heer von Verkäuferinnen, Telephonistinnen und Sekretärinnen mobilisiert wurde, tat sich das Bildungs- und Besitzbürgertum trotz eines eklatanten Frauenüberschusses nach wie vor schwer, seinen Töchtern die Berufstätigkeit zu gestatten.117
Nur vereinzelt gelang es vor der Mädchenschulreform jungen Frauen, den mühsamen Weg über private Vorbereitungskurse bis zum Abitur und Studium in der Schweiz zu gehen. Weniger kompliziert war der Besuch eines Lehrerinnenseminars, das im Anschluß an eine höhere Töchterschule als zweijähriger Kurs angeboten wurde und häufig an intellektueller Schlichtheit der übrigen Ausbildung für Frauen in nichts nachstand.118 Häufig genug folgte die Kandidatin keiner inneren Berufung, sondern wählte den Besuch des Seminars nur, um der häuslichen Beschäftigungslosigkeit zu entgehen und die Wartezeit vor der Ehe auszufüllen. Für viele Frauen erwies sich das Lehrerinnenseminar allerdings als Sprungbrett zur Selbständigkeit. Übten die Damen ihren Beruf aber tatsächlich aus, war es mit der Liebe vorbei, hier herrschte ein strenges Zölibat.119 Und fand Amor doch Gefallen an einer Lehrerin, so war sie die längste Zeit eine gewesen – Mutterschaft und Beruf waren um 1900 eine Verbindung, die nicht einmal kühne Geister zu denken wagten.
Zwar hatten bereits die Frühaufklärer in bildungspolitischen Kampagnen dazu aufgerufen, die intellektuellen Fähigkeiten der Frauen zu fördern, doch noch zweihundert Jahre später hatte sich in den oberen Schichten des Bürgertums nur unwesentliches geändert. Bereits seit 1887 stritt Helene Lange für die höhere Mädchenschule, und zwar nicht etwa, „damit der deutsche Mann nicht durch die Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau an dem häuslichen Herde gelangweilt und in der Hingabe an höhere Interessen gelähmt werde“. Sie forderte eine Ausbildung der Frau um ihrer selbst willen und organisierte privat, was der Staat nicht zulassen wollte, Kurse, in denen sich junge Frauen auf das Abitur in der Schweiz vorbereiten konnten. Parallel fochten sie und andere Frauenrechtlerinnen für die Zulassung der Frauen zum höheren Schulwesen und zum Universitätsstudium – 1908 sollten die Forderungen erfüllt werden.120
In der Frage nach dem eigentlichen Ziel solcher Ausbildungschancen schieden sich indessen nicht nur die Geschlechter, sondern auch die bewegten Frauen. Während die gemäßigten Befürworterinnen innerhalb des Rollengefüges argumentierten, versuchten „die Radikalen“ die freie Berufswahl des Weibes als „unerläßliche Bedingung für individuelles Glück“ durchzufechten. Allen voran führte Hedwig Dohm über persönlichen Erfolg und eigenständigen Broterwerb hinaus weitere gute Gründe für die Berufstätigkeit der Frauen ins Feld: die Bereicherung der Wissenschaft durch neue Erkenntnisse, die aufgrund der andersartigen „geistigen Organisation der Frauen“ zu erwarten seien, und – im Hinblick auf das Medizinstudium – die Wiederherstellung der verlorenen Gesundheit des weiblichen Geschlechts. Unerbittlich widerlegte Dohm in einer Streitschrift jedes Argument gegen weibliche Berufstätigkeit. Mit Witz und Ironie rückte die streitbare Feministin allen Vorurteilen zu Leibe und empörte sich gegen jene, die das angeborene weibliche Zartgefühl anführten, um per „Naturdekret“ Frauen vom Medizinstudium fernzuhalten:
Hand aufs Herz, Herr von Bischoff, was würden Sie mit Ihrer Köchin thun, die den Aal, den Sie so gern essen, abzuschlachten sich weigerte, und sich bei Ihnen mit Ihrem Zartgefühl entschuldigen wollte? Würden Sie nicht vielleicht gerade diese wegen ihres Zartgefühls entlassen, um sie durch eine andere, frisch darauf losschlachtende zu ersetzen?121
Was Dohm hier boshaft vorführte, war das ganz offensichtliche Verstummen der Rede von der wahren Natur des Weibes, wenn es um Frauen der kleinbürgerlichen und proletarischen Schichten ging – Frauen übrigens, die auch Dohm nur aus Argumentationszwecken bedachte. Denn strebte sie selbst, wie mit unterschiedlichen Schwerpunkten die gesamte bürgerliche Frauenbewegung, die freie Berufswahl für ihresgleichen an, so wußte sie sehr genau, daß es den proletarischen Mitstreiterinnen vor allem um bessere Arbeitsbedingungen, wie z.B. Mutterschutz zu tun war. Mit oft katastrophalen Folgen für Mütter und Kinder schien die Natur die Arbeiterinnen gleichermaßen mit Gebär- und Arbeitsfreudigkeit ausgestattet zu haben – eine Doppelbelastung, die für bürgerliche Frauen ausgeschlossen wurde.
So problematisch die Situation der berufswilligen Frau um 1900 war, so schwer taten sich die Schriftstellerinnen, anders als ihre Kolleginnen nach 1918, Bilder berufstätiger Frauen in ihren Romanen zu entwerfen. Die Freundinnen Christa Rulands, die – wie alle Romanfiguren Hedwig Dohms – selbst aussichtslos mit möglichen Selbstentwürfen ringt, führen vor, wie zweifelhaft der Erfolg weiblicher Selbstbehauptung in den wenigen Frauen zugestandenen Berufen um 1900 ist. Zwar weist Dohm den Nebenfiguren alternative Betätigungsfelder zu, unterläßt es aber, deren Schicksal positiv zu gestalten: Ob die Frauen ihr Berufsbegehren, wie die Journalistin Julia, mit sexueller Gegenleistung oder wie die Malerin Anselma mit Ächtung ihrer Arbeit, oder aber, wie die Chemikerin Maria, mit einer unterqualifizierten Anstellung zu bezahlen haben, die Figuren zeigen nicht nur potentielle Handlungsspielräume jenseits traditioneller Denkschemata, sondern vor allem deren Grenzen. Kaum eine Schriftstellerin hat jedoch darauf verzichtet, sich mit ihrer eigenen Profession literarisch auseinanderzusetzen. Doch auch hier ist Frustration vorprogrammiert: Nur wenige (fiktive) Künstlerinnen schaffen es, sich gegen den von Männern dominierten ästhetischen Kanon durchzusetzen. Auf Kollisionskurs befinden sich die kunstschaffenden Frauen aber in jedem Fall, wenn ihr Beruf von einem „naturgewollten“ Ereignis heimgesucht wird.