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Christoph Ulf

Die Diskussion über Ilias und Homer: alte Thesen – neue Zugänge

Die Diskussion über die homerischen Epen scheint beinahe so alt zu sein wie diese selbst. Das Spektrum der Positionen reicht sehr weit. Aristoteles attestierte den Epen in seiner Poetik die Qualität einer Tragödie. Auf der anderen Seite steht die ironische Distanz des Lukian von Samosata zu solchen Urteilen, wie er sie in seinen »Wahren Geschichten« formuliert.1 In deren zweiten Teil ließ der Rhetor Homer gemeinsam mit den wichtigen Figuren aus seinen Epen auf den elysischen Inseln leben; an diesem Ort lässt er ein Gespräch zwischen ihm selbst und Homer stattfinden, in dem sich Homer selbst in den zu Lukians Zeiten im zweiten Jahrhundert n. Chr. aktuellen Streit über die Herkunft des Dichters einschaltet: Homer wendet sich darin gegen alle Ansprüche griechischer Städte in Kleinasien und auf der Balkanhalbinsel, seine Geburtsstadt zu sein; diesen gegenüber bezeichnet er sich selbst als einen »Babylonier«, der nur als Geisel zu den Griechen gekommen sei. Mit dieser fiktionalen Selbstpositionierung zog Lukian nicht nur den in der Antike bis in seine Zeit geführten Streit um die Herkunft Homers ins Lächerliche, sondern entzog damit auch der Debatte über die Art der Produktion der Epen, nämlich durch Sänger und Rhapsoden, den Boden. Denn ein »Babylonier« kann kein Teil der Überlegungen sein, dass sich die von Griechen geschaffene Literatur aus einem solchen mündlichen Umfeld entwickelt habe; somit wird der Gedanke ins Spiel gebracht, dass diese Art des Anfangs griechischer Literatur eine artifizielle Konstruktion sein könnte.

Trotz des intellektuellen Witzes, mit dem Lukian seine Kritik vortrug, konnten seine Überlegungen nicht verhindern, dass die bis in die Gegenwart gehenden Debatten nach wie vor von zum Teil heftigen Emotionen beherrscht wurden und werden. Allerdings sind neue Themen zu den alten hinzugekommen. Der im Jahr 2001 ausgebrochene und in der Öffentlichkeit geführte Streit zwischen Manfred Korfmann und Frank Kolb als dessen Protagonisten drehte sich kaum um die homerischen Epen als literarische Texte, sondern vielmehr um eine ganz spezielle historische Dimension, die in der Antike so keine Rolle spielte, nämlich die Einschätzung des Ortes Troia als Stadt.2 Diese Perspektive konnte erst eingenommen werden, nachdem man der Archäologie in historischen Fragen Beweiskraft zugeordnet hatte. Das setzt eine Archäologie als wissenschaftliche Methode und Disziplin voraus, wie sie sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu etablieren begonnen hatte. Man hat deshalb auch diese Debatte mit vollem Recht in eine Linie mit der über die die Art der Ausgrabungen Heinrich Schliemanns und die Qualität ihrer Ergebnisse gestellt.3

Der ganz aktuelle Streitfall hingegen über die Versetzung Homers nach Kilikien und die frei zupackende Nachdichtung der Ilias durch Raoul Schrott hat schon in der Antike erörterte Themen wieder in der Vordergrund gerückt: es geht nun wieder um den Text selbst, um die Herkunft seiner verschiedenen Teile und die Art seiner Entstehung. Mit Recht meint allerdings der Althistoriker Kurt Raaflaub im Anschluss an den Archäologen Ian Morris, dass es neuer Ansätze bedürfe, um aus der Sackgasse der ewig gleichen Argumente als Antworten auf die alten, immer wieder gleichen Fragen herausfinden zu können. Neue Ansätze ergeben sich jedoch nicht einfach von selbst, es muss nach ihnen gezielt gesucht werden. Den Weg dorthin hat der erwähnte Lukian von Samosata schon vorgegeben. Seine Position als einer der Vertreter der so genannten zweiten Sophistik mit ihrer Distanzierung vom gängigen Bildungsbetrieb seiner Zeit erleichterte es ihm, die Pfade der traditionellen Diskurse zu verlassen und eigene, fremd oder gar provozierend klingende Perspektiven einzunehmen oder auszuprobieren. Dies zeigt, worum es gehen muss: nicht so sehr um die Fragen selbst als vielmehr darum herauszufinden, warum sich denn nicht nur die Fragen stets wiederholen, sondern auch die Muster der Antworten. Die Erklärung dafür ist einfach. Die Diskussion ist deswegen von den immer gleichen Fragen und Antworten bestimmt, weil es nur vordergründig um ›die Sache‹ geht. Das tatsächliche Ziel ist es, durch die Art der Analyse der homerischen Epen zu Antworten zu gelangen, die ein schon vor der Analyse fest stehendes historisches Bild nur bestätigen sollen. Es soll also, das ist Teil dieser These, mit den Analysen von Ilias und Odyssee das eigene von den Epen unabhängige Weltbild dadurch als ›richtig‹ erwiesen werden, dass es auf die für sich als wertvoll gehaltene Antike zurückgeführt wird. Da aber Gehalt und Bedeutung der Antike, für die die homerischen Epen als Zeugen stehen, keineswegs eindeutig sind, werden der eigenen Interpretation gegenläufige Meinungen mit hohem rhetorischen Aufwand und großer Emotion bekämpft.4

Dieser Zusammenhang von Vorerwartung und wissenschaftlicher Analyse ist in der Wissenschaftstheorie gut bekannt, und er begleitet bis zu einem gewissen Grad jede wissenschaftliche Untersuchung. Doch es ist auch bekannt, dass man sich aus diesem Zirkel – zu einem guten Teil jedenfalls – dadurch lösen kann, dass man sich die Prämissen bewusst macht, auf denen die eigenen Fragen und Antworten beruhen.5 Die aktuellen Debatten über Homer beziehungsweise die homerischen Epen tragen eine Geschichte in sich, die bis zur Entstehung der wissenschaftlichen Disziplinen im ausgehenden 18. Jahrhundert zurückreicht. Diese Geschichte wirft ein helles Licht auf die Kontexte der aktuellen Streitfragen und damit auch die Prämissen für die jeweiligen Antworten. Daher ist es nötig, sich auch mit ihr zu beschäftigen, um so den Spielraum für die Erarbeitung der erwarteten und geforderten neuen Ansätze zu gewinnen. Perspektiven dafür sollen im Folgenden kurz skizziert werden.6

Die Hypothese der Mündlichkeit – das Alter des Mythos

Seit dem am Ende des 17. Jahrhunderts begonnenen und im 18. Jahrhundert fortgeführten Streit darüber, ob die Antike insgesamt und ihre Literatur im Besonderen als ein Vorbild für die Gegenwart zu gelten habe, also seit den so genannten querelles des anciens et des modernes, ist die Art der Entstehung der homerischen Epen zu einem zentralen Streitpunkt geworden. Die genannten Auseinandersetzungen hingen mit den sich im 18. Jahrhundert ändernden sozialen und politischen Gegebenheiten zusammen, besonders aber mit der neuen Vorstellung, dass ›Völker‹ als soziale und politische Einheiten seit jeher existieren würden und dass diese über Charakteristika, genauer: über ein Wesen verfügen würden, das jeweils unvergleichbar und unableitbar sei. In der Frühphase der so verstandenen Völker habe der ihnen jeweils zukommende spezifische Geist seinen Ausdruck in Mythen gefunden. Diese seien von Sängern von Generation zu Generation mündlich weitergegeben worden. In den Mythen sei daher ein bis in die im Dunkel der (Vor)Geschichte liegende Anfangszeit eines Volkes zurückführendes Wissen enthalten.

Auch wenn es immer wieder geleugnet, oder vielleicht auch nur verdrängt wird, dieses in verschiedenen Variationen erscheinende Konglomerat von Gedanken über Völker ist nicht auf die Zeit und Welt der Romantik begrenzt. Solche Vorstellungen schwingen auch in der Diskussion um die Entstehung der homerischen Epen bis in die Gegenwart mit, auch wenn da und dort der Begriff des Volkes durch den der Kultur ersetzt wurde – was allerdings meist nicht mehr als den Austausch einer Etikette bedeutet. So ist es auch nicht als ein Zufall anzusehen, dass die Hypothese von der mündlichen Entstehung der homerischen Epen gerade in den 1930er Jahren durch die Publikationen von Milman Parry einen ungeheuren Aufschwung erfuhr. Dies ist die Zeit, in der, wie es einmal der Althistoriker und Analytiker wissenschaftsgeschichtlicher Abläufe Beat Näf festgehalten hat, »geistesgeschichtliche Verallgemeinerungen« Konjunktur hatten.7 Damit ist die als wissenschaftliche, aber spezifisch geisteswissenschaftlich ausgegebene Methode gemeint, durch »Einfühlen« in einen beziehungsweise durch das »Verstehen« von einem Wesenszusammenhang vergangene Realitäten rekonstruieren zu können. Es war zu diesem Zeitpunkt eine wie selbstverständlich akzeptierte Annahme, dass ein solcher wesenhafter Zusammenhang der Grundlage des jeweiligen Volkes oder zumindest einer ›volkshaften‹ Nähe bedürfe.8

Ebenso wenig wie die Konjunktur der Mündlichkeitsthese ab den 1930er Jahren ist es ein Zufall, dass der in der Zwischenkriegszeit wissenschaftlich sozialisierte Altphilologe Albin Lesky dieses Konstrukt nach dem zweiten Weltkrieg aufgriff und in Deutschland populär machte.9 Den jüngeren Vertretern der Mündlichkeitshypothese ist keine Nähe zu einem solchen Volksgeistglauben zu unterstellen – dennoch: die Logik der Hypothese der Mündlichkeit beruht auf der Annahme einer – nicht weiter begründeten, sondern vorausgesetzten – über Jahrhunderte innerhalb eines vorgegebenen Rahmens sich bewegenden »Tradition« von Wissen über traditionelle Modelle des Erzählens und über traditionelle Inhalte. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann der Argumentation Stringenz zugesprochen werden, dass Sänger – bis zu den homerischen Epen und zum Teil darüber hinaus – kontinuierlich neue mündliche Texte geschaffen hätten.10 Dies trifft auch für die jüngeren breit angelegten Untersuchungen über die Produktion von Epen auf der ganzen Welt zu – zumindest dort, wo sie ausschließlich mit Mündlichkeit in Verbindung gesetzt werden.11 Denn diese Vergleiche werden erst durch die hypothetischen Prämissen ermöglicht, welche für die Entstehung der homerischen Epen vorausgesetzt werden.

Im Bewusstsein der Bindung der Hypothese der (ausschließlich) mündlichen Entstehung der homerischen Epen an den Rahmen eines Volkes beziehungsweise einer diesem gleichzusetzenden langlebigen »Tradition« ist diese Erklärung für die Entstehung der homerischen Epen völlig neu zu überdenken.

Die Vorstellung einer Nationalliteratur: die homerischen Epen als der Anfang der griechischen Literatur

Ilias und Odyssee werden wie selbstverständlich als ein Teil, genauer: als der Anfang der »griechischen Literatur« und damit meist gleich auch ›der‹ europäischen Literatur betrachtet. Über diese Kategorisierung findet keine richtige Diskussion statt – wohl weil man das Kriterium der Sprache für ein eindeutiges Indiz hält. Was so eindeutig wirkt, ist es jedoch nicht. Denn die vorausgesetzte Selbstverständlichkeit des Rahmens ›Griechische Literatur‹ leitet sich nicht in erster Linie vom Kriterium der Sprache ab, sondern eine andere Prämisse ist dafür ausschlaggebend. Es wird angenommen, dass sich infolge eines über die Zeiten reichenden (Auswahl-)Prozesses nationale Literatur, das heißt die für ein Volk charakteristische Literatur gleichsam von selbst erzeugt. Es steht also an erster Stelle das Volk der Griechen, das sich eine nationale Literatur schafft – die homerischen Epen sind ein Teil davon, weil sie von Griechen geschaffen wurden. Die Sprache ist das vorrangige Merkmal des Volkes, das über Literatur weit hinausreicht.12

Dieser Gedanke von individuellen Völkern mit ihren Nationalliteraturen, die nur ein Teil der jeweiligen Nationalgeschichten sind, ist mit der Vorstellung eines linearen Geschichtsverlaufs und damit mit einer von der Antike bis in die Gegenwart reichenden geradlinigen geschichtlichen Tradition nicht vereinbar. Diesen Widerspruch glaubte man dadurch aus der Welt schaffen zu können, dass man die Völker in das schon in der Antike konstruierte Kontinuum einer vom Alten Orient bis in die Spätantike reichenden »großen Erzählung« einbettete. Die antike Geschichte wird dabei als Vorgeschichte des gegenwärtigen Europa interpretiert – auch um die behauptete kulturelle Superiorität Europas in der Welt zu begründen.13 Selbst wenn man grundsätzlich eine solche Einbettung von individuellen Völkern in einen übergeordneten historischen Rahmen akzeptieren wollte, so bleibt immer noch zu prüfen, ob das konkrete antike Narrativ (beziehungsweise die verschiedenen »großen Erzählungen«) den historischen Verlauf ›richtig‹ wiedergibt. Im Wissen um die Konstruktivität von Vergangenheit und ihre vielfachen Instrumentalisierungen ist gerade das jedoch zu bezweifeln. Wenn aber sowohl die Hypothese von unvergleichbaren Völkern, ihren je spezifischen Wesen und Literaturen problematisch sein sollte als auch das bis in die Gegenwart weitergeführte antike Narrativ, dann ist allein aus diesen Gründen schon zu fragen, ob es richtig sein kann, dass die homerischen Epen den Anfang einer ›griechischen‹ Literatur bilden. Zieht man daraus die Konsequenz und löst sich davon, dass es eine an ein Volk und seine Tradition gebundene Literatur gebe, dann ist ein völlig neuer Standpunkt gewonnen, der es erlaubt, mit verschiedenen Möglichkeiten der Entstehung von literarischen Werken und eben auch der homerischen Epen zu rechnen.14

Die problematische Qualität linguistischer ›Beweise‹ für Herkunft und Alter der homerischen Epen

In der Diskussion um Alter und Herkunft der homerischen Epen wird damit argumentiert, dass das in ihnen verwendete Versmaß des Hexameters ein klares Indiz für ihre Mündlichkeit und damit für ihr hohes Alter sei. Unabhängig von diesem oder auch parallel zu diesem Argument wird auch davon ausgegangen, dass die Etymologie von Namen ein weitgehend zuverlässiger Führer in die Geschichte der mit diesen Namen verbundenen Stoffe und Motive sei. Die sprachliche Geschichte von Wörtern leite zu ihrer Grundbedeutung beziehungsweise zu ihrem geschichtlichen ›Anfang‹ hin. Natürlich können die zur Rekonstruktion der Geschichte von solchen Namen benützten Methoden linguistisch gesehen methodisch ›korrekter‹ oder weniger ›korrekt‹ sein. Doch in der Beurteilung der diesen sprachlichen Herleitungen zugrunde liegenden Auffassung geht es nicht so sehr darum, ob bessere oder schlechtere linguistische Methodiken angewandt werden. Es ist die Auffassung selbst, dass die Sprache über die Vergangenheit Aufschluss geben könne, die derselben in die Zeit der Romantik gehörenden Gedankenwelt entstammt, welche auch die Hypothese einer anfänglichen Mündlichkeit bestimmt.

Der dahinter stehende Glaube, man könne so zu einem ›ursprünglichen‹ und natürlichen Anfang zurückgelangen, benötigt das schon angedeutete romantisch-biologistische Denken. Im Begriff ›Etymologie‹ steckt nicht aus Zufall der Anspruch, zum Anfang, also zur Wurzel (griechisch: etymon) zurückzufinden, aus dem sich die ›wesenhafte‹ Bedeutung eines Wortes erschließe. Es ist für unsere Fragestellung nicht von Belang, dass sich dieses organizistische Denken in das des Strukturalismus verwandelt hat. Denn das Muster der Argumentation wurde dadurch nicht verändert, sondern gewann sogar ein noch ›wissenschaftlicheres‹ Aussehen, weil die Rede von den jetzt postulierten sprachlichen ›Strukturen‹ deren Herkunft aus dem organizistischen Denken nicht mehr direkt verrät. An der nach wie vor verwendeten Theorie von sprachlichen Stammbäumen (oder: von Wellen, Entfaltung, Strahlung) lässt sich das in den Strukturalismus transferierte Gedankengebäude dennoch erkennen. Und es ist auffällig, dass gegenüber diesem im 19. Jahrhundert ›nach dem Bild der Natur‹ entwickelten Denkschema Konkurrenzkonzepte innerhalb der Sprachwissenschaft nach wie vor unterentwickelt geblieben sind.15

Dass dafür jedoch eine Notwendigkeit bestünde, zeigt die alte Diskussion darüber, in welchem Maß Vertrauen in ein Überdauern einer ›alten‹ Bedeutung zu setzen ist. Denn auf der einen Seite wird zwar für das hohe Alter der homerischen Epen auch wegen des linguistisch postulierten Alters einiger Wörter mit einem indogermanischen ›Urgrund‹ gerechnet, aus dem sein Kernstoff entstammen soll.16 Auf der anderen Seite wird dann, wenn es um den Nachweis konkreter historischer Zustände auf sprachlicher Grundlage geht, dennoch leicht und rasch die sprachliche Welt verlassen und auf die Archäologie als ›Beweisträger‹ verwiesen.17 Aus diesem Grund dürfte es nicht ausreichen, eine strenge sprachwissenschaftliche Methodik einzufordern; es ist ebenso nötig, die Vermengung von sprachlicher Argumentation mit außersprachlichen Denkmustern bewusst zu machen,18 Wege aufzuweisen, wie diese zu vermeiden sind – und in Konsequenz aus all dem auch abzuleiten, dass jede Etymologie einer historischen Kontextualisierung bedarf, welche die Sprachwissenschaft (allein) nicht zu leisten imstande ist.19

Die Archäologie – kein verlässliches Mittel zur Kontextualisierung der homerischen Epen

In den verschiedenen Debatten über die historische Einordnung der homerischen Epen wurde vielfach auf die Archäologie als eine Instanz zurückgegriffen, mit deren Hilfe man den historischen Zeitraum und Ort sowohl für die Entstehung der Epen als auch der in ihnen dargestellten Geschehnisse bestimmen könne. So wurde im Kontext des aktuellen Homer-Streits behauptet, dass die Übereinstimmung des iliadischen Troia und der in der Ilias skizzierten Landschaft(en) mit konkreten historischen Orten die entscheidende Antwort auf die Frage nach dem Anlass für die Entstehung des Epos, aber auch nach seinem allgemeinen historischen Umfeld liefern könne. Dass die Archäologie diese Aufgabe erfüllen könne, wurde wohl ebenso oft mit guten Gründen zurückgewiesen.

In der griffigsten Formulierung lautet die Gegenposition: »Die Ilias ist kein Geschichtsbuch«!20 Der wichtigste Grund für die Richtigkeit dieser Feststellung liegt in dem Sachverhalt, dass die homerischen Epen weder Teil einer anonymen Volkstradition noch historische Berichte sind – sie sind Dichtungen mit all den Merkmalen, die solche Texte auszeichnen. Das in unserem Zusammenhang entscheidende Kennzeichen ist, dass sie als Dichtung auch fiktionale Texte sind. Das lässt sich etwa daran ersehen, dass ohne jeden Zweifel Stoffe und Motive aus verschiedensten Quellen bezogen sind und aus sehr unterschiedlichen Herkunftsorten stammen, aus denen die komplexen und ohne Vorbild umfangreichen Erzählungen zusammengesetzt sind. Hier kann und soll nur ein Beispiel herausgegriffen werden. Im Laufe des Geschehens in der Ilias wird von den Achäern in der Absicht, ihre Schiffe vor den Angriffen der Troer zu schützen, eine Mauer um ihr Lager gebaut. In der Dichtung spiegelt diese Mauer die gewaltige bis über die Zeiten der Abfassung der homerischen Epen hinaus sichtbar gebliebene Mauer im historischen Ilion. Die Troer können sie zwar kurzfristig überwinden, scheitern dann aber – das Umkehrbild zu dem Schicksal der Mauer Troias, das heißt zur tatsächlichen Eroberung Troias durch die Achäer, die jedem in der Antike und in der Gegenwart geläufig war beziehungsweise ist. Es wäre nun völlig unsinnig, mit archäologischen Mitteln nach dieser Mauer um das Schiffslager zu suchen. Denn der Dichter hält selbst in seiner Erzählung fest, dass diese Mauer von einer an eine gewaltige Flut erinnernden Überschwemmung weggewaschen wurde. Das ist dichterisches Spiel, das seinen bestimmten Platz in dem Plan der Dichtung beziehungsweise in der Intention des Dichters besitzt.21

Es hat aber nicht nur diese Mauer als fiktional zu gelten; die gesamte Erzählung ist von einem fiktionalen Firnis nicht bloß überzogen, sondern gleichsam von Fiktionalität getränkt. Unter dem Eindruck der so sicher scheinenden Hypothese von der Mündlichkeit der Epen hat man diesen Sachverhalt auf ein »Archaisieren« oder auf ein Phänomen der Erzeugung einer lange zurückliegenden ›heroischen‹ Zeit, eines »distant past« reduziert, oder in ihm nur die Folge der Amalgamierung der Stoffe aus verschiedenen Zeiten gesehen.22 Wenn man jedoch sieht, dass die bisher als beinahe unumstößlich geltenden Prämissen für die Interpretation der homerischen Epen nur das Produkt einer unglaublichen Beharrung auf Spekulationen sind, die im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert ihre Wurzel haben, dann wird nicht nur der Blick für das Ausmaß der Fiktionalität in den Epen geschärft, sondern auch der Weg dafür frei, in den Dichtungen Ilias und Odyssee nicht bloß mehr oder weniger anonyme ›Repräsentationen‹ einer spezifischen Adelsgesellschaft, sondern in ihnen dichterische Werke mit eigenen und bewussten Intentionen zu sehen.

Wenn man sieht, dass die homerischen Epen fiktionale Texte sind, dann können natürlich weder die Personen der Handlung(en) noch die mit ihnen verbundenen Geschehnisse mit den Mitteln der Archäologie in dem Sinn an einem oder mehreren historischen Orten verankert werden, dass sie nur den Zweck hatten, die sich hier abspielenden Ereignisse für kommende Generationen zu bewahren. Denn in diesem Fall kann alles, was sich archäologisch fassen lässt, in irgendeiner Form als Anregung zur Gestaltung der Dichtung gedient haben – gleichgültig, woher es und aus welchem Zeitraum es stammt, solange es nur dem Dichter zugänglich gewesen war und für ihn interessant genug, um es in seiner Geschichte zu verwenden. Daher muss jede mit archäologischen Argumenten versuchte zeitliche Fixierung des Geschehens jenseits der Lebenszeit des Dichters willkürlich bleiben. Das gilt auch für jeden Versuch einer eindeutigen geographischen Lokalisierung des Geschehens. Selbst die in der Dichtung ›verwendete‹ Landschaft braucht keineswegs ›real‹ und schon gar nicht ›vollständig‹ zu sein.23 Gerade für die Landschaft um Troia, die Troas, wurde das erst jüngst wieder eindrucksvoll nachgewiesen.24 Die Konsequenz daraus heißt, dass deswegen, weil einzelne Orte, Gegenstände oder Materialien in den homerischen Epen archäologisch nachgewiesen werden können, nicht auch das in ihnen dargestellte Geschehen auf eine konkrete historische Zeit festgelegt und an einen konkreten historischen Ort gesetzt wird. Ilias und Odyssee sind Dichtungen, die ihre Aussagen nur dann preisgeben, wenn man ihnen mit den solchen Texten zukommenden Methoden gegenüber tritt.25

Von der Neoanalyse und Narratologie zur sekundären Mündlichkeit

Wer bereit ist, sich aus dem schon am Beginn des 19. Jahrhunderts in seinen Grundzügen konstruierten ›Gedankenkäfig‹ einer mündlich produzierten und tradierten Volksdichtung oder Dichtung im Volk herauszubegeben, der kann erst das volle Potential der schon seit längerem erarbeiteten alternativen Modelle zur Erklärung der Entstehung der homerischen Epen ausschöpfen. Es war zuerst die so genannte Neoanalyse, die darauf hinwies, dass die Epen eine Vielzahl verschiedener, auch schriftlicher Quellen voraussetzen.26 Die Auswahl und Vernetzung der so bezogenen verschiedenen Stoffe und Motive zu einer sinnvollen neuen Geschichte setzen einen bewussten Vorgang der Gestaltung voraus, der von einer oder auch mehreren Intentionen geleitet gewesen sein muss.

Die erst in jüngerer Zeit in den Vordergrund getretene Narratologie hat durch die Anwendung des für literarische Texte insgesamt gebräuchlichen Instrumentariums auf die homerischen Epen deren Komplexität viel klarer durchschaubar machen können, als das bis dahin der Fall war.27 Um nur ein Beispiel zu nennen: Die verschiedenen in der Ilias in den Hauptstrang der Erzählung eingebauten Erzählungen, wie etwa die Meleager-Geschichte oder die des Phoinix, erhalten ihren vollen Sinn erst, wenn man in ihnen so genannte mirror-stories sieht, mit deren Hilfe das Geschehen in der Haupthandlung reflektiert, kommentiert und schließlich auch weiter gebracht werden soll. Diese beiden so aufschlussreichen Zugänge zu den homerischen Epen, Neoanalyse und Narratologie, lassen sich durch die Überlegungen des Mediävisten Alois Wolf noch erweitern, um mit ihnen gemeinsam zu einem tatsächlich neuen Ansatz zum Verständnis und der Interpretation von Ilias und Odyssee zu gelangen.28

Alois Wolf konnte unter anderem an den großen Heldenepen wie dem Beowulf und dem Nibelungenlied herausarbeiten, dass das Heldenepos nicht einfach eine Erweiterung einfacher Heldenlieder ist, sondern im Gegensatz zum Heldenlied verschiedene Textsorten und Stoffe benützt, die in ihrer Verarbeitung zu einem Heldenepos einem Prozess unterzogen wird, den er Episierung nennt. Dabei werden die verschiedenen Textteile durch einen Spannungsbogen miteinander in Beziehung gesetzt, der über das gesamte Epos reicht. Damit beschreibt Wolf das, worin Aristoteles die oben schon zitierte dramatische Qualität der homerischen Epen sieht. Durch diese spannungsgeladene Konzeption erhalten die im Epos zusammengeführten alten Stoffe und Figuren eine neue Bedeutung; zudem werden ihnen solche aus der Gegenwart und auch neu erfundene an die Seite gestellt. Die auf diese Weise kreierte Geschichte wird in einen Vergangenheitsraum gesetzt, um der Erzählung mehr Autorität zu verleihen. Denn ihre Intention besteht darin, dass man aus der Erzählung über die Vergangenheit für die Gegenwart Schlussfolgerungen für das eigene Verhalten, Handeln und Denken ableitet.

Um diese Autorität durch die Verlagerung des Geschehens in eine ferne, das heißt im Fall des Epos: eine ›heroische‹ Vergangenheit abzusichern, wird der Text mit einer Art von Patina überzogen. Sie besteht darin, dass die den einfachen Heldenliedern nur abgeschaute Mündlichkeit auf das Heldenepos übertragen wird. Dadurch wird der Eindruck erweckt, als seien diese großen und komplexen Texte gleich wie die einfachen Heldenlieder ebenfalls mündlich produziert worden. Aus diesem Grund sprach Alois Wolf von einer sekundären Mündlichkeit oder auch von einer rhapsodenhaften Schriftlichkeit.29

Es ist wichtig festzuhalten, dass die Begriffe Heldenlied und Heldenepos, wie sie hier verwendet werden, nicht als ontologische Kategorien im Sinn von seit jeher bestehenden literarischen Gattungen aufgefasst werden; sie stellen einfach analytische Kategorien dar, also Mittel zur Analyse und Beschreibung, das heißt zur Ordnung von Texten, wie sie in der Wissenschaft gang und gäbe sind.30 Versteht man die homerischen Epen in dieser Weise – so wie das auch von Vertretern der Neoanalyse oder ihr nahe stehenden Wissenschaftlerinnen getan wurde31 – dann muss gefragt zu werden, was denn der Anlass für die Gestaltung derartiger Texte ist. Wolf nennt folgende Faktoren, die zur Gestaltung eines Heldenepos führen: es braucht dafür eine besondere (kultur)politische Situation, in der ein Anstoß von außen dazu führen kann beziehungsweise bereitwillig aufgenommen wird, ein neues Werk zu schaffen, das die bisher geläufigen Bahnen künstlerischer Produktion bewusst verlässt. Der Zweck ist, dass auf diese Weise eine höhere Aufmerksamkeit beim Publikum erreicht werden soll, um die eigene auf die Gestaltung der Gegenwart bezogene Botschaft erfolgreich propagieren zu können. Bezogen auf die homerischen Epen ist also zu fragen, ob in ihrer Entstehungszeit eine solche (kultur-)politische Situation bestand, die die Motivation dafür lieferte, von der bisherigen Produktion so eindeutig abweichende Text wie die Ilias und die Odyssee zu schaffen. Eine solche Situation ist leicht auszumachen, wenn man sich die Forschungsergebnisse der letzten zwei bis drei Jahrzehnte zu Eigen macht.

Neue Paradigmen: Ethnogenese und imaginierte Vergangenheit statt Adelsgesellschaft und Rückerinnerung

Die Behauptung, dass sich in Mythos und ›Sage‹ ›altes‹ Wissen finde, steht und fällt mit dem Glauben an die schon mehrfach angeführte romantische Spekulation, dass diese Texten die von und in Völkern produzierte Tradition über die Zeiten hinweg transportieren würden. Dieser Glaube liegt auch der Auffassung zugrunde, dass in die Erzählung der Ilias nicht bloß vage Informationen, blasse Stoffe und Motive aus verschiedenen gegenwärtigen und vergangenen Zeiten verarbeitet wurden, sondern dass das Epos in seinem Kern ›historisches‹ Wissen aus dem zweiten Jahrtausend in sich berge. Nur unter dieser Voraussetzung kann man ernsthaft die wenigen aus dem Umfeld des hethitischen Großreiches und der mykenischen Welt stammenden Quellen für den ›Beweis‹ oder für Indizien für einen in dieser Welt geführten großen ›troianischen‹ Krieg halten.32

Dieser ungeachtet seiner grundsätzlichen Problematik weit verbreitete und in Teilen der Altertumswissenschaft und in populären Darstellungen sich hartnäckig haltende Glaube, dass zur Zeit der Abfassung der homerischen Epen eine Art von »Rückerinnerung« möglich gewesen sei, die eine Verbindung zu Ereignissen hergestellt habe, welche die angeblich schon im zweiten Jahrtausend ethnische Einheit ›der Griechen‹ betroffen hätten, enthält noch ein zweites nicht weniger problematisches Element. Aus der als Tatsache ausgegebenen spekulativen engen Verbindung der homerischen Epen mit der historisch-mykenischen Welt wird auf identische oder doch zumindest sich weithin überlappende politisch-soziale Verhältnisse in der Ilias, aber auch in der Odyssee und in der mykenischen Welt geschlossen. In beiden Fällen habe es sich um Staaten gehandelt, in denen an den Höfen von Monarchen oder wenigstens von Adligen die Epen bei Festmahlen mit dem Ziel vorgetragen worden seien, den diese Gesellschaften angeblich prägenden aristokratischen Ehrenkodex lebendig zu erhalten. An diesem völlig spekulativen Bild wurde seit langem schon fundamentale und fundierte Kritik geäußert, ohne dass das ›Gläubige‹ im obigen Sinn von ihrer Meinung hätte abbringen können.33

Da beides, die Spekulation über die Verbindung zwischen ›Homer‹ und Mykene und die Behauptung einer Adelswelt mykenischen Charakters als Hintergrund für die homerischen Epen, nicht länger haltbar ist, kann man sich bei der Überlegung, wie Ilias und auch Odyssee entstanden sind – also nicht bloß nach einer langen mündlichen Phase schriftlich fixiert wurden – mit gutem Recht auf den Zeitraum zwischen dem Ende des achten Jahrhunderts und der Mitte des siebten Jahrhunderts beschränken. Das ist deshalb von Bedeutung, weil sich exakt in diesem Abschnitt der Geschichte der südlichen Balkanhalbinsel und der Ägäis unter den hier lebenden griechisch sprechenden Bewohnern in vielfältigen ethnogenetischen Prozessen langsam das Bewusstsein einer Gemeinsamkeit entwickelte. Das ist die besondere kulturpolitische Situation, nach der wir auf der Suche sind, um in dem oben dargelegten Sinn die Entstehung der ›Heldenepen‹ Ilias und Odyssee erklären zu können. Zu ihr gehört zum Beispiel auch der Aufbau und Ausbau des Hellenenmythos zu einem die verschiedenen miteinander in dieser Zeit noch keineswegs fest miteinander in Bezug stehenden Teile der späteren Griechen verbindenden Rahmen.34 Wichtige Anstöße für die hier zu beobachtende Ausbildung eines gemeinsamen griechischen Bewusstseins gaben ohne Zweifel die immer wiederkehrenden, zum Teil länger dauernden Begegnungen mit fremden ›Kulturen‹, im Konkreten mit Phönikern und Assyrern.35 Das ist der historische Kontext, in dem neue Texte von der Art der homerischen Epen ihren Platz haben. Denn in ihnen stoßen wir auf die ersten Ansätze für eine ›hellenische‹ Identität, finden aber auch einen ganz konkreten Bezug zu den die Welt der vielen kleinen politischen Einheiten bewegenden internen und externen Auseinandersetzungen, welche die Themen für Ilias und Odyssee liefern.36

Diese Art der mit dieser Intention bewussten Gestaltung der homerischen Epen als neue und moderne Texte deckt sich noch mit einem anderen Forschungsergebnis jüngeren Datums. Es ist durch viele Untersuchungen bestätigt worden, dass zur Ethnogenese, der langsamen Ausbildung von ethnisch begründeter Gemeinsamkeit, auch die Imaginierung einer gemeinsamen, in eine heroische Zeit zurückreichenden Vergangenheit gehört.37 Die so erzeugte Vergangenheit sollte der Erzählung größere Autorität verleihen, um sie zu einem wirkkräftigen Vorbild zur Gestaltung der eigenen Gegenwart werden zu lassen. Um eine solche Vergangenheit aufzubauen, werden alle Register gezogen: es werden alte und neue Motive und Figuren miteinander verbunden, die Erzählung erhält gegenüber den traditionellen Erzählungen eine völlig neue Gestalt, die in ihr geschilderten Verhältnisse werden bis ins Utopische übersteigert. Da ist es ganz selbstverständlich, dass auch die zur Verfügung stehende Vielzahl an Informationen über und aus den gegenüber den Verhältnissen im Ägäisraum gewaltigen, attraktiven, aber auch Bedrohung ausstrahlenden ›Kulturen‹ des Vorderen Orients in dieses Konstrukt eingebaut werden.38

Das Beharrungsvermögen des Klassizismus

Wenn es so einleuchtend ist, dass die homerischen Epen aus einem solchen Umfeld auf die genannte Weise entstanden sind, warum hat sich dann diese Auffassung nicht rasch in der Wissenschaft durchgesetzt? Die Antwort darauf verbirgt sich in den schon gegebenen Skizzen über die Herkunft und die Bedeutung von Volksgeist und Nationalliteratur für die verbreitete Interpretation der griechischen ›Frühgeschichte‹ insgesamt. Diese Elemente romantischen Denkens sind nicht einfach Instrumente zur Analyse und Beschreibung von Vergangenheit, die aus der Anfangsphase der Entwicklung der Wissenschaften stammen. Sie sind eben nicht ›neutral‹, sondern sind die Äquivalente für weltanschauliche, aber auch politische Werte, die mit den Begriffen Volk und Nation ausgedrückt werden. Das war den Zeitgenossen völlig klar, wie das der der Romantik zuzurechnende englische Dichter William Blake (1757–1827) mit den folgenden Worten zustimmend zum Ausdruck brachte: »The Classics! It is the Classics, & not Goths nor Monks, that Desolate Europe with Wars.« Oder: »We do not want either Greek or Roman Models if we are but just & true to our own Imaginations.«39

Auch wenn die politische Konnotation der Auseinandersetzung zwischen Klassizismus (»classics«) und dem romantischen Denken in Volk und Nation aus diesen Worten mit ihrem impliziten Bezug auf die napoleonischen Kriege eindeutig hervorgeht – sie sind kein Beleg für den eben gezogenen Zusammenhang von Volk und Nation mit dem Festhalten an der Vorbildhaftigkeit der Antike. Doch gerade die Abwehr der Kritik von der Art, wie sie Blake am Klassizismus geäußert hat, ist das Ziel derjenigen, welche die homerischen Epen in dem Ambiente der »Jugendzeit« des Volks der Griechen situierten. Auf diese Weise kann die romantische Sicht von Volk und Nation mit den Griechen als Vorbild in Einklang gebracht werden, wenn man nur die Griechen mit der eigenen Gegenwart wiederum in Beziehung setzen kann. Aus deutscher Perspektive gelang das auch gut, bieten doch die Griechen insofern eine ausgezeichnete Parallele für die eigene Gegenwart, als sie so wie die Deutschen des 19. Jahrhunderts über keine politische Geschlossenheit verfügten, sich aber über ihre Kultur als Nation definieren ließen.

Meinte William Blake, dass die Wirkkraft der Antike an den napoleonischen Kriegen Schuld trage, so wird dem von den Verteidigern der Antike eine unbedingt positive und anhaltende Wirkkraft der Antike entgegengesetzt. Diese Behauptung verdankt sich ebenso sehr romantischem Denken wie die gegenteilige Positionierung, weil sie mit dem Gedanken der Wesensverwandtschaft von Völkern operieren muss. Dadurch, dass man zu diesem Zweck der Antike insgesamt, den Griechen im Besonderen unkritisch gegenübertreten muss, um deren Vorbildhaftigkeit zu retten, wird diese Haltung unausweichlich zum Klassizismus. Eben darin scheint der entscheidende Grund dafür zu liegen, dass die Diskussionen um die homerischen Epen als einem der höchsten Güter, welche die Antike hervorgebracht hat, nicht ohne tief gehende Emotionen zu führen sind. Die Lösung, die sich aus dem Bewusstsein der hier kurz skizzierten Zusammenhänge für die künftige Beschäftigung mit den homerischen Epen regelrecht anbietet, ist die, die durch das in der obigen Skizze nur andeutbare Wissen entstehenden Freiräume des Denkens dazu zu benützen, um unter Anwendung der aktuellen Forschungsergebnisse über Ethnogenese und die Konstruktion und Instrumentalisierung von Vergangenheit die (kultur-)politische Situation noch besser zu erforschen, in der Texte von solch literarischer Qualität wie die homerischen Epen entstehen konnten – die Beiträge in diesem Band bieten dafür eine gute Ausgangsbasis.

Anmerkungen

1 Aristoteles, Poetik 1459a 29-b 7; Lukian, Wahre Geschichten 2, 20-21.

2 Vgl. dazu die Beiträge in Ulf (Hg.) 2003; Cobet/Gehrke 2002; Heimlich 2002.

3 Zur Geschichte der Archäologie vgl. Davidovic 2009. Die Verbindung zu den Ausgrabungen Schliemanns hat Justus Cobet mehrfach, auch in seinem Beitrag zu diesem Band betont.

4 Aus diesem Zusammenhang wird es verständlich, dass man sich daran macht – so Dräger 2009, mit einer sechzig-seitigen (!) Rezension gegen die Hypothesen von Raoul Schrott vorzugehen; nicht weniger signifikant ist, dass diese einen monatelangen Streit in den öffentlichen Medien hervorrufen konnten.

5 Mit Blick auf die Auseinandersetzung über Korfmanns Ausgrabungen in Troia wurde das in unterschiedlichem Gewand z. B. von Ulf 2002, Cobet-Gehrke 2002, Weber 2006 betont und in verschiedenen Facetten nachgezeichnet.

6 Das Folgende beruht auf verschiedenen eigenen Vorarbeiten: Ulf 2002; Ulf 2003a; Ulf 2003b; Ulf 2008; Ulf 2010a; Ulf 2010b.

7 Näf 1995, 285.

8 Es scheint also mehr zu sein, als nur eine strukturalistischer Zugang, den mit Recht Haubold 2009 herausarbeitet.

9 Neben dem umfangreichen Lexikonartikel Lesky 1967 vgl. auch die alle grundlegenden Prämissen für die Konstruktion klar vorführenden Äußerungen in der Literaturgeschichte Lesky 1993, 29-34.

10 Vgl. Foley 1999; Danek 2002 und Georg Danek in diesem Band; dazu auch Haubold 2007, und besonders Patzek 1992.

11 Vgl. die unterschiedlich argumentierenden Beiträge in Foley 2005, und Georg Danek in diesem Band.

12 Zum Zusammenhang von Nationalgeschichte und Nationalliteratur vgl. z. B. Schumann 1991, Neuhaus 2002; Conter 2004.

13 In diese Richtung tendierte jüngst Meier 2009 ungeachtet all seiner Distanz zu einer simplen Volkstradition.

14 In diese Richtung geht Raaflaub 2005, 58-60.

15 Vgl. aber z.B. Timpe 2006, 6-7.

16 Zum Umfeld vgl. z. B. Katz 2005.

17 Das ist z. B. durchgängig die Tendenz bei Latacz 2003.

18 So Gerd Steiner in diesem Band.

19 So Hajnal 2003a; Hajnal 2003b; und Ivo Hajnal in diesem Band.

20 So Hampl 1975.

21 Scodel 1982; Patzek 2003b, 103-105; Ulf 2010b.

22 Vgl. dazu die Beiträge von Wolfgang Kofler, Barbara Patzek, Kurt Raaflaub in diesem Band.

23 Mit dieser Frage beschäftigen sich Dieter Hertel, Marion Meyer, Wolfgang Röllig und Andreas Mehl in diesem Band.

24 Trachsel 2007; siehe auch Erskine 2001.

25 Vgl. dazu Wolfgang Kofler und Johannes Haubold in diesem Band.

26 Vgl. Kullmann 1960; Kullmann 1981.

27 Vgl. z. B. de Jong 1997; de Jong 2008.

28 Wolf 1995.

29 Wolf 1995, 274.

30 In diesem Sinn will auch Martin 2005 vor dem Hintergrund eines breiten Überblicks über derartige Texte den Begriff Epos verstanden wissen.

31 Reichel 1992; Patzek 2003a.

32 Zu diesem historischen Umfeld vgl. Stefano de Martino, Gerd Steiner und ivo Hajnal in diesem Band.

33 Vgl. dazu Ulf 1990; van Wees 1992; Crielaard 1995; Raaflaub 1997; Donlan 1999.

34 Dazu jüngst Hall 2007, 255-261.

35 Dazu Giovanni B. Lanfranchi und Walter Burkert in diesem Band.

36 Das ist inzwischen vielfach festgestellt worden; vgl. z. B. Ulf 1990; van Wees 1992; van Wees 2007; Raaflaub 1997; Donlan 1999; Ulf 2009.

37 Vgl. dazu z. B. Gehrke 2003; zum weiteren Umfeld auch: Anderson 1991; Smith 2008.

38 Martin West versucht in diesem Band textimmanenten Zeugnisse zu benützen, um das mögliche geographische Umfeld des Dichters der Ilias zu bestimmen; dazu auch Johannes Haubold, zum externen Umfeld vgl. Giovanni B. Lanfranchi – beide in diesem Band.

39 Zitiert nach Webb 2004, 300-301. Für eine ähnliche Kritik in Deutschland vgl. das Kapitel »Die Gegner des Humanismus« bei Landfester 1988, 56-72.

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Lag Troja in Kilikien?

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