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Dieter Hertel

Übereinstimmungen und Widersprüche zwischen Text und Örtlichkeit (Hisarlık und Troia)1

Raoul Schrott hebt in seinem Buch Homers Heimat hervor, dass Homer »grundsätzlich über die allgemeine Topographie der Troas Bescheid gewußt hat«. Allerdings betont er auch, dass sich die Details der Beschreibungen des Dichters nur sehr oberflächlich mit der Landschaft und den Ergebnissen der Archäologie in Verbindung bringen lassen würden. Schrott glaubt, die von ihm angerissenen Probleme dadurch lösen zu können, dass die in der Ilias vorliegenden topographischen Hinweise von den angeblich viel genaueren Kenntnissen Homers über eine ganz andere Landschaft und Stadt, nämlich Kilikien und Karatepe, deutlich überlagert würden, ja wesentlich von diesen bestimmt seien.2

Es gibt – wie schon immer gesehen3 und auch von mir herausgestellt wurde4 – in der Ilias zahlreiche Angaben, die zeigen, dass Homer mit der Topographie der Troas und der Architektur von Troia (bzw. Ilios/Ilion) vertraut ist. Dennoch finden sich auch Hinweise, die ganz unwahrscheinlich wirken und die ich als fiktional bezeichnet habe.5 Das gilt zum Beispiel für manche im Epos gemachten Angaben zu den Distanzen und zu den Zahlen- bzw. Größenverhältnissen von Heeren und Örtlichkeiten.6 Fiktional ist auch der Hintergrund der Ilias, das heißt der Raub der Helena durch Paris und der daraus hervorgehende panhellenische Feldzug gegen Troia, dann anderes, so das Eingreifen der Götter in die Handlung und die Thematik der Ilias, also der Zorn des Achilleus und seine Folgen. Weiterhin liegen dem Stoff des Epos die so genannten grundlegenden Handlungsmotive bzw. die so genannten Bausteine der einfachen Geschichte zugrunde, und die Dichtung ist wohl kaum in geringfügig anzusehendem Maße von Einzelmotiven anderer (mündlicher) Fassungen der Troia-Sage und sonstiger (mündlicher) Dichtungen, griechischer wie orientalischer, geprägt.7 Der Umstand, dass es also in der Ilias um eine konstruierte und imaginierte Vergangenheit geht, zeigt sich auch in der Darstellung des Kampfgeschehens.8 Das Fiktionale im Epos kommt aber ebenso in Il. 12, 445-450 zum Ausdruck, demzufolge Hektor mühelos einen Stein hochhebt, wozu in der Zeit Homers nicht einmal zwei außerordentlich starke Männer, und das unter Aufbietung aller ihrer Kräfte, fähig gewesen seien.9 Ähnliches äußert sich in der Art und Weise, wie Glaukos und Sarpedon die Mauer des griechischen Schifflagers überwinden, die ohne Hilfsmittel erstiegen und deren Brustwehr ohne Weiteres herabgerissen wird (Il. 12, 370-377, 392-399). Und weitgehend Entsprechendes ergibt sich aus Il. 16, 698-711, wo Patroklos problemlos sogar mehrmals auf die Mauer Troias steigt (von der er allerdings durch Apollon wieder heruntergedrängt wird).10 Darüber hinaus ist der in der Regel als mykenisch angesehene Schild des ›großen‹ Aias nichts anderes als ein ins Gewaltige gesteigerter Rundschild, der daher nur von einem über außerordentliche Körperkraft verfügenden Helden gehandhabt werden kann.11

Voraussetzung für den hier charakterisierten Grundzug der Ilias ist die offenbar vom Dichter und seinem Publikum geteilte Vorstellung, dass die Zeit, in der die Kämpfe um Troia angeblich stattfanden, lange zurückliegt und das eine Epoche war, in der Götter und Menschen noch miteinander kommunizierten und agierten, die menschlichen Hauptpersonen sich zwar nicht durch Unsterblichkeit, aber gewaltige Kraft und andere überragende Fähigkeiten auszeichneten, und vieles ganz anders, dabei auch gewaltiger und glanzvoller war als in der kargen Gegenwart Homers und seiner Zuhörer. Das Epos ist also von ›Archaisierung‹ bestimmt oder, wie H. Strasburger es ausgedrückt hat, von einer »heroisch-altertümlichen Kolorierung der Vergangenheit«.12

Nun aber zur Frage, inwieweit Homer die Topographie der Troas und die Architektur von Troia aus eigener Anschaung kennt:

Als erstes sollte man sich klar machen, dass schon der größere geographische Raum, in den die Troas in den homerischen Epen gestellt wird, klar auf die Kenntnis von der Lage Troias in der Nordwestecke Kleinasiens hinweist:

1. Wie aus vielen Stellen der Ilias hervorgeht, liegen das Schiffslager der Griechen und die Grabhügel ihrer zu Tode gekommenen Helden am Hellespont. Das zeigen zum Beispiel die Worte, die Hektor Il. 7, 67-91 spricht, wo es darum geht, dass der möglicherweise von ihm im Zweikampf getötete Achaier einen Grabhügel am »breiten Hellespont« bekommen würde, oder der Rückblick des sich im Hades befindenden Agamemnon (Od. 24, 35-97), in dem Tod und Begräbnis des Achilleus beschrieben, der Grabhügel des Achilleus als auf dem Vorgebirge am »breiten Hellespont« aufgeworfen und weithin über das Meer sichtbar bezeichnet wird. Als Hellespont wurden zwar bis weit ins 5. Jahrhundert hinein sowohl die uns als Dardanellen bekannte Meerenge als auch die nördliche Ägäis zwischen der Troas, Thrakien und Mittel-/Nordgriechenland bezeichnet (Abb. 1),13 und dieser Name hat am ehesten ursprünglich das Meer, über das die (nord)anatolischen Griechen nach Hellas blickten,14 bedeutet, wie Uvo Hölscher es ansprechend übersetzt hat,15 dennoch können das Schiffslager und die Grabhügel der griechischen Helden nur im Bereich der Dardanellen, und zwar an der Nordküste der Troas, lokalisiert werden.16 Zahlreiche Angaben der Ilias deuten dorthin, besonders aber, dass sich nach Il. 12, 1-35 alle Flüsse dieser Landschaft – darunter die im Epos immer wieder vorkommenden Gewässer Skamander und Simoeis, die sowohl in der Nähe des Schiffslagers als auch in derjenigen von Troia fließen – sich in den Teil des Hellesponts, der die als Dardanellen bezeichnete Meerenge darstellt, ergießen. Und das wird noch dadurch unterstrichen, daß an dieser Stelle der Ilias der Hellespont »stark strömend« genannt wird,17 denn die Dardanellen, nicht aber das offene Meer westlich vor ihm, zeichnen sich durch diese Eigenschaft aus (schon bald vor der Einfahrt in die Meerenge vermindert sich die starke Strömung zunehmend). Wenn das Beiwort ein anderes Mal auf den nördlichen Meeresteil des Hellesponts bezogen wird (Il. 2, 844f. [Abb. 1]), so könnte das ein formelhaftes Versehen des Dichters sein, das ihm gar nicht mehr aufgefallen ist. Und wie die angesprochenen Odyssee-Verse und die nachhomerischen Autoren der Antike zeigen, liegen das Schiffslager und die Grabhügel der griechischen Helden im westlichen Teil der Nordküste der Troas18, was man sich gut anhand von Abb. 1 und der Karte von Spratt/Dörpfeld (Abb. 2) veranschaulichen kann. Zahlreichen Angaben der Ilias ist zu entnehmen, dass Troia nicht weit vom Schiffslager entfernt ist. Man denke zum Beispiel an den im Zweiten Gesang beschriebenen Anmarsch des griechischen Heeres auf die Siedlung oder die im 24. Gesang geschilderte Fahrt des Priamos ins Schiffslager, weil der König von Troia Achilleus um die Herausgabe von Hektors Leichnam bitten will.

2. Poseidon befindet sich Il. 13, 10-40 auf dem höchsten Gipfel von Samothrake, begibt sich dann in eine Grotte zwischen Tenedos und Imbros und von da aus ins Schiffslager (Abb. 1).

3. Hera schwebt gemäß Il. 14, 224-296 über Thrakien, den Athos, Lemnos und Imbros sowie Kap Lekton zum Ida, um dort Zeus zu betören. 19

4. Das Reich des Priamos erstreckt sich nach Il. 24, 543-546 zwischen Lesbos, dem Hellespont und Phrygien, wobei Phrygiens Westgrenze nach Il. 2, 862f. bei Askanie, das heißt in der Gegend des Sees von Nikaia/Iznik oder noch etwas weiter westlich zu verlaufen scheint (Nikaia/Iznik liegt etwas östlich von Prusa).

5. Il. 20, 216-218 zufolge liegt Dardanie, der angebliche Mutterort von Troia und Sitz des von Aineias regierten Dardanerreiches, am Fuße des »quellenrauschenden Ida«, Troia jedoch in der Ebene.

6. Die im so genannten Troerkatalog (Il. 2, 824-877) aufgeführten Verbündeten der Troianer kommen aus dem übrigen Westkleinasien, von der Südküste des Schwarzen Meeres, aus Thrakien und Makedonien.

7. Odysseus und seine Gefährten, die dem Priester des in Chrysa gelegenen Heiligtums des Apollon Smintheus,20 Chryses, nach dem Streit zwischen Agamemnon und Achilleus Chryseis, die Tochter dieses Priesters, auf dem Seeweg nach Chrysa zurückbringen, haben keine allzu große Entfernung für Hin- und Rückfahrt zu überwinden. Noch am Tag der Auseinandersetzung erreicht das Schiff den Hafen von Chrysa, man geht zum Altar, übergibt Chryseis ihrem Vater, und mit diesem zusammen vollziehen die Achaier für Apollon die notwendigen Opferrituale; dann wird es dunkel, und man legt sich zum Schlafen nieder. Am nächsten Morgen, und zwar bei Morgengrauen, brechen die Griechen auf und kommen noch am selben Tag wieder im Schiffslager an (Il. 1, 1-45; 309-313; 430-487). Apollon Smintheus wird in Chrysa, Killa und auf Tenedos verehrt (Il. 1, 37-42. 451-456), Homer zufolge war Chryseis von Achilleus bei der Eroberung des hypoplakischen Theben erbeutet worden, das nicht weit von dem am Südrand des Ida gelegenen Lyrnessos entfernt ist (Il. 1, 364-369; 2, 681-694; 6, 390-399; 20, 188-194; 24, 477-481). Das heißt, dass Chrysa am ehesten in der Nähe von Thebe21 und Lyrnessos22 liegt, was durch Strabo bestätigt wird. Zwar geht dieser auf das in der Troas zu seiner Zeit existierende Heiligtum des Apollon Smintheus bei Alexandreia Troas ein, aber er kennt auch ein damals verlassenes, viel älteres am Golf von Adramytteion, nicht weit von Thebe und Lyrnessos, in deren Nähe wohl auch Killa zu suchen ist (13, 1, 47, 48, 60-63).23 Und dass man in diese Gegend kommt,24 ergibt sich auch aus dem Sachverhalt, dass Euenos nach Il. 2, 681-694 der Name des Königs von Lyrnessos ist, dieser Name dürfte von dem sich in der Ebene von Adramytteion entlang schlängelnden Fluß (= Euenos [Pl. nat. 5, 122]) abgeleitet sein.25

Da Raoul Schrott von den Hinweisen der Ilias auf die Architektur von Troia ausgeht, setze ich mich im Folgenden ebenfalls damit auseinander. Schrotts Ausführungen liegen allerdings mehrere fragwürdige Prämissen zugrunde, nämlich eine vermutlich zu junge Datierung der Ilias (spätestens 660),26 dann ein veralteter Kenntnisstand zum frühgriechischen Troia, dem so genannten Troia VIII früh (1020-650/25)27, sowie die Meinung, Homer habe sich auf Troia VI spät/VII a (14./13. Jahrhundert) bezogen und seine diesbezüglichen Angaben älteren Quellen verdankt.

1. Die Datierung der Ilias ist keineswegs so sicher, wie Schrott meint, denn mancher Forscher glaubt das Datum 730/20 vorschlagen zu können, und ich selbst habe vor nicht allzu langer Zeit in einem Aufsatz den Standpunkt vertreten, dass dieses Epos etwa 700/690 verfaßt worden sei (die Odyssee 680/70).28

2. Schrott nimmt an, dass zur Zeit, als die Ilias entstand, Troia ein kleines Dorf mit einem im Bau befindlichen Tempel der Athena war und dass dieser Flecken von der in Ruinen liegenden spätbronzezeitlichen Burgmauer umgeben gewesen sei. Hingegen war Troia VIII früh, wie ich schon mehrfach dargelegt habe,29 weder um 660 noch um 700/690 ein kleines Dorf, sondern, wenn man vom 550 m langen Umfang der Mauer ausgeht (Abb. 35), ein Ort, der nur um einiges kleiner war als das von der etwa 650 m langen Mauer umgebene, gleichzeitige Alt-Smyrna.30

3. Schrott meint, dass sich Homer bei seinen Angaben zum Aussehen von Troia auf Troia VI spät/VII a bezieht, also auf eine Zeit, die nach seiner Datierung Homers etwa 650 bis 550 Jahre zurückliegen müsste.31 Homer habe diese Hinweise aus der historischen Überlieferung des alten Stoffes oder einem alten Periplos gewonnen.32 Jedoch macht unser Wissen um die Eigenart mündlicher Traditionen und das oben schon Gesagte deutlich,33 dass Ersteres sehr unwahrscheinlich ist, und echte Periploi hat es vor Homer schwerlich gegeben.34 Außerdem zeigt das Beispiel des Nibelungenliedes,35 dass Angaben zur Architektur eines Ortes der Zeit des Dichters entstammen. Das aber besagt, dass man das Homer zeitgenössische Troia mit den Angaben der Ilias vergleichen muß, nicht aber Troia VI spät/VII a.36 Wenn dabei auch manches auf Troia VI spät/VII a zutrifft, dann deshalb, weil sich bestimmte Bauten mehr oder minder weitgehend bis in homerische Zeit erhalten haben.

Obwohl in der Ilias nicht wenige Hinweise auf das Siedlungsbild von Troia gegeben werden, das heißt auf den Palast des Priamos, die Tempel der Athena und des Apollon und die Gliederung des Ortes in einen hoch und einen tiefer gelegenen Teil,37 bleibt die Gestalt der Wohnbereiche und Straßenzüge der ›Unterstadt‹ sehr schemenhaft. Anschaulicher sind jedoch diejenigen zur Mauer (bes. Il. 21, 288-296. 436-449 und 8, 517-519): Sie hat mehrere hohe Tore (Il. 2, 809f.; 16, 698f.; 21, 544-546) und mehrere Türme (Il. 22, 194-298), von denen der neben dem »Skaiischen Tor« als »groß« und »heilig« bezeichnet wird (zum Beispiel Il. 3, 141-152; 6, 381-389; 21, 526-538; 22, 96f.); dann gibt es einen »Ankon« = »Ellenbogen«, »Biegung«, »Vorsprung« (Il. 16, 698-709) und eine relativ leicht zu ersteigende Stelle (Il. 6, 433-439), außerdem werden ein »Dardanisches Tor« (Il. 5, 788-790; 22, 193-198, 412-415) und eine »Skopie« = »Ort zum Spähen«, »Anhöhe«, »Warte« (Il. 20, 136f.; 22, 143-147) erwähnt. Überdies ist Troia von einem für Wagen befahrbaren Weg umgeben (Il. 22, 145-148). Schließlich ist weder der hoch- noch der tiefer gelegene Teil jeweils von einer Mauer geschützt, sondern es muss davon ausgegangen werden, dass nur eine einzige Mauer existiert und sie die gesamte Siedlung umschließt,38 ein Tatbestand, den schon W. Dörpfeld mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet hat.39

Meines Erachtens passen die allgemeinen Hinweise gut sowohl zur Mauer von Troia VI spät/VIIa als auch von Troia VIII früh, denn ihre Gewaltigkeit und damit ihre Schwererstürmbarkeit (Abb. 7), ebenso wie ihre Schönheit – darunter ist am ehesten die für die genannten Epochen sorgfältige Steinfügung vieler ihrer Abschnitte zu verstehen (Abb. 6. 7) – lassen sich ohne weiteres mit den archäologisch nachweisbaren Überresten vereinbaren. Und auch die Detailangaben erwecken den Eindruck, als ob sie sich auf ehemals tatsächlich vorhandene Elemente der Mauer beziehen könnten, wie aus der Beiläufigkeit ihrer Erwähnung hervorgeht, wobei der Fahrweg sogar festlegbar zu sein scheint (Abb. 8).40 Versucht man aber – was immer wieder unternommen wurde und wird – die anderen in den Einzelhinweisen genannten Örtlichkeiten und ihre Besonderheiten genauer mit den Überresten in Einklang zu bringen, stieß und stößt man meist auf große Probleme: So ist allein schon unklar, ob hinter den Bezeichnungen »Skaiisches Tor« und »Dardanisches Tor« zwei Tore stehen oder ob es sich nur um die Namen ein und desselben Tores handelt, und was unter »Ankon« zu verstehen ist, ist keineswegs sicher zu entscheiden41. Und da die Mauer von Troia VI spät/VIIa bzw. von Troia VIII früh z. T. nur in ihrem groben Verlauf rekonstruiert werden kann und viel zu wenig von ihren spätbronzezeitlichen und frühgriechischen Phasen erhalten geblieben ist, bleibt ungewiss, wo ein eventuelles »Skaiisches Tor« und sein »großer Turm« zu suchen sind.42 Auch ist die Höhe der Tore nicht mehr zu ermitteln. Genausowenig lässt sich sagen, wo die Stelle zu suchen ist, an der die Mauer verhältnismäßig leicht ersteigbar gewesen sein soll, und wo die »Skopie« gelegen haben könnte.43 Immerhin sind aber sowohl für Troia VI spät/VIIa als auch für Troia VIII früh mehrere bzw. mindestens zwei Tore belegt (vgl. Abb. 4).44

Im Übrigen ist seit dem 9 Jahrhundert der Kult der Göttin Athena bezeugt, und vermutlich hat es seit dem 8 Jahrhundert oder seit 700 auch einen Tempel der Göttin im hoch gelegenen Teil der Siedlung gegeben.45 Der Widerspruch, dass Athena die Gottheit der griechischen Angreifer ist, aber zugleich in Ilion verehrt wird, ist ein nur scheinbarer: Athena als Schutzgottheit einer griechischen Polis ist ein gängiges Phänomen, und die griechischen Neusiedler dürften geglaubt haben, dass sie sich nur mit der Hilfe dieser Göttin Troias hatten bemächtigen können (vgl. Il. 15, 69-77; Od. 8, 486-495). Homer hätte somit in anachronistischer Weise das Heiligtum der Athena von Troia VIII früh in den Ort der Sage übertragen.46

Mit den hier zusammengestellten, als nachweisbar oder als real zumindest vorstellbar anzusehenden architektonischen Charakteristika von Troia (obwohl letztere meist nicht identifizierbar sind) verbindet Homer jedoch solche, die offenkundig fiktiv sind:

Nach Il. 6, 242-25047 soll der im hoch gelegenen Teil von Troia erbaute Palast des Priamos aus einem auch als Agora dienenden Hof, dem Haus des Königs und seiner Frau wohl an einer Schmalseite, fünfzig Häusern für die Söhne und ihre Frauen an der einen Längsseite und zwölf Häusern für die Töchter und ihre Männer an der anderen Längsseite bestanden haben; die Häuser der Kinder sind anscheinend jeweils dicht nebeneinander aufgereiht gedacht. Aber eine solche Anlage dürfte viel zu groß und viel zu zu untypisch sowohl für die Burg von Troia VI spät/VIIa als auch für die Siedlung Troia VIII früh gewesen sein. Auf welches mögliche Vorbild man diese Residenz auch immer zurückführen möchte – sei es auf einen altorientalischen Palast,48 sei es auf ein Grundschema, wie es der relativ kleine, zentrale ›Palast‹ von Zagora/ Andros aufweist49 – Homer hätte dann entweder eine ganz woanders zu findende Residenzform nach Troia versetzt oder eine solche wie in Zagora in Troia VIII früh vorgefunden, sie aber in phantasievoller Weise vergrößert und übersteigert.50 Warum Homer dem Priamos eine große und prachtvolle Residenz gibt, könnte man wie folgt beantworten: Schon in der dem Dichter vorliegenden Tradition hat der König wohl als mächtig gegolten und eine umfangreiche Familie gehabt, und Homer hätte es daher für angebracht gehalten, Priamos in einem Palast wohnen zu lassen wie in der Ilias beschrieben. Hier läge also wieder ein Anachronismus vor, in diesem Fall deshalb, um die bisherige Überlieferung architektonisch möglichst angemessen umzusetzen. Es sei hier noch kurz hinzugefügt, dass auch die berühmten beiden Quellen und die Brunnenanlage nicht weit vor der Mauer Troias fiktiv sind.51

Im Zusammenhang mit der Überlegung von Raoul Schrott, dass Homer fehlerhafte oder extrem übertriebene Angaben zur Topographie der Troas gemacht habe,52 muss man sich vor Augen halten, dass eine überzeugende Rekonstruktion der Landschaft in der späten Bronzezeit bzw. im achten und siebten Jahrhunderts trotz der angestellten naturwissenschaftlichen Untersuchungen nicht einfach ist. Die bisher vorgelegten Rekonstruktionen der ›Paläolandschaft Troas‹ differieren und solche Versuche werfen prinzipielle Probleme auf, was P. Krönneck wie folgt artikuliert hat:

Während dieser Teil der Landschaft [es ist die Gegend des Skamander-Deltas gemeint] nach sedimentologischen Vorgaben weitgehend rekonstruiert werden konnte, erwiesen sich die Angaben für das Flusstal des Kara Menderes als weniger detailliert, weshalb die Rekonstruktion hier noch freier ist. Nach Kayan kann von einer starken Sedimentschüttung im Bereich des Deltas ausgegangen werden, wobei die stärksten Wasserläufe mit ihren Sand- und Kiesbänken in der Talmitte und die Sumpfgebiete an den Talrändern anzunehmen sind. Im 19. Jahrhundert beobachteten Reisende ausgedehnte Sumpfgebiete am Rand der Flussniederungen. Andere Berichte nennen die starken winterlichen Hochwasser. In einer Schwemmebene mit derart starker Sedimentation können sich Wasserläufe während eines Hochwassers leicht ändern, weshalb sich die Lage zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt kaum genauer feststellen läßt. Aus diesem Grund folgt die Kartierung der Flußläufe weitgehend den vorhandenen historischen Landkarten.53

Ich möchte noch hinzufügen, dass man die Hinweise der antiken Schriftquellen, die in alle bisherigen Rekonstruktionen mehr oder minder eingeflossen sind, explizit hinzuziehen sollte. Ich gründe deshalb meine Überlegungen sowohl auf die genannten Karten als auch auf diese Schriftzeugnisse und ziehe nur solche naturwissenschaftlichen Ergebnisse heran, die mir haltbar erscheinen, wobei dies allerdings nicht immer mit Sicherheit zu bestimmen ist. Was sich aber relativ gut aufgrund naturwissenschaftlicher Untersuchungen ermitteln lässt, sind die Vegetations- und Anbauarten und ihre Areale, jedoch mit der Einschränkung, dass das nur für größere oder sehr große Zeiträume gilt.

Nach dem eben Gesagten ist Schrotts Überlegung mit Skepsis zu betrachten. Das betrifft auch die in seinem Buch abgebildete Rekonstruktion der Landschaft, die ihm zufolge die Situation um 1250 darstellen soll.54

Schrott verneint, dass Troia, wie in der Ilias immer wieder hervorgehoben wird, windig sei.55 Die aktuelle Erfahrung zeigt jedoch, dass von Juni bis Mitte September die Nord- und Nordostwinde von morgens um 10 Uhr bis in den Abend hinein stark wehen.

Schrott zufolge soll Troia nicht hoch und steil abfallend gelegen haben.56 Die bekannte, die Verhältnisse allerdings vereinfachende und rekonstruierende Schnittzeichnung Dörpfelds durch Hisarlik und das Felsplateau darunter (Abb. 9), kann das widerlegen. Man muss sich klar machen, dass die Burg von Troia VI spät/VII a bzw. die Siedlung Troia VIII früh zwar terrassenförmig angelegt war (Abb. 8), der Fundamentgraben der Nordmauer aber etwas nördlich vom Tempel verlief und erst in einer Höhe von ungefähr 34 m über dem Meeresspiegel ansetzte57 (Abb. 9: Die Stelle ist durch das x gekennzeichnet). Zudem endeten den Angaben und einer Schnittzeichnung Blegens (Abb. 10) und Plänen Korfmanns58 zufolge in den Planquadraten C–G die Straten VI–IX des Nordabhangs schon etwa 10 m unterhalb des Fundamentgrabens auf mehr oder minder horizontal verlaufenden, viel weiter nach Norden reichenden frühbronzezeitlichen Siedlungsspuren.59 Das würde bedeuten, dass auch das Felsplateau in diesem Bereich viel weiter nach Norden ausböge und erst dann der stärkere Abfall zur Simoeis-Ebene hin käme (vgl. Abb. 9). Das besagt, dass die nördliche Mauer von Troia VI spät/VII a bzw. von Troia VIII früh (Abb. 3. 5) erst in einer Höhe von 26, 50 m über der Simoeis-Ebene gegründet war, die 7, 50 m über dem Meeresspiegel liegt (Abb. 9). Die Lage von Troia wird man also durchaus als hoch und auch, wie die Schräge der Straten ergibt (Abb. 9, 10), als steil abfallend bezeichnen dürfen.

Ein instruktiver Eindruck davon, dass Troia VI spät/VII a bzw. Troia VIII früh einen hoch gelegenen Teil hatte, ergibt sich aus der Höhe der jeweils noch nachweisbaren bzw. erschließbaren obersten Terrasse im östlichen Teil von Hisarlik. Das zeigt die 1894 von Norden, von der Simoeis-Ebene, aus fotografierte Ansicht der Schuttmassen und der dahinter aufragenden Ruinen von Hisarlik (Abb. 11, 7). Das Niveau von Troia VIspät lag vermutlich noch etwas höher als die noch erhaltene Oberfläche des vor dem hellenistischen Athena-Tempels angelegten Platzes (Abb. 9).60 (Die Oberfläche der Kalksteinunterlage erhebt sich ca. 36 m über den Meeresspiegel; es handelt sich um die Stelle auf Abb. 11, wo die dritte Person von links steht; links unterhalb von ihr sieht man die Nordecke der zur Zeit von Troia VI spät errichteten Nordostbastion und einige ihrer späteren Anbauten). Die Höhe des dortigen Niveaus von Troia VII a müsste noch etwas und diejenige des Niveaus von Troia VIII früh müsste sogar einige Meter über demjenigen von Troia VI spät gelegen haben.61

Durch naturwissenschaftliche Untersuchungen sind für das 15./14 Jahrhundert Weiden und Anbauflächen für Gerste und Getreide in der Nähe Troias belegt.62 Und so etwas gilt prinzipiell auch zumindest für den Zeitraum von 500 v.Chr. bis 500 n.Chr.63

Bei Homer und anderen antiken Autoren werden zahlreiche Täler und Gipfel,64 darunter als höchster der Gargaron, der heutige Kaz Dag genannt, zudem viele Quellen.65 Darüber hinaus ist es Homer zufolge waldreich,66 und das gilt auch für spätere Phasen der Antike.67 Diesen Angaben entspricht das als Ida identifizierte Gebirge in jeder Hinsicht.68 Wie ein mächtiger Riegel mit hohen Bergen und tiefen Schluchten trennt es die südöstliche Troas von der Ebene am Golf von Adramytteion (Abb. 1).

Der heute etwa sechs bis acht Meter breite, so genannte Alte Skamander, der Kalifatli Azmak, weist zwar meist im Sommer nur Wasserlachen an einzelnen Stellen auf; im Winter und Frühjahr ist er jedoch normalerweise voller Wasser. Allerdings ist sein Nachfolger, der so genannte Neue Skamander, der Karamenderes, der, wie Dörpfeld einleuchtend dargelegt hat69, wohl derjenige Skamanderlauf ist, den der ältere Plinius (nat. 5, 33) »amnis navigabilis« = »schiffbarer Fluß« nennt, in seinem nördlichen Abschnitt schätzungsweise zehn bis zwanzig Meter breit und im Sommer voller Wasser; außerdem hat er heute in diesem Teil nur an einer Stelle eine Furt.70 Das heißt, dass der Alte Skamander ehemals, als es den Neuen Skamander noch nicht gab, ebenfalls im Sommer sehr viel Wasser geführt haben und auch viel breiter gewesen sein kann als von einigen antiken Autoren und Reisenden im 17., 18. und 19. Jahrhundert festgestellt. Die in der Ilias dem Skamander gegebenen Beiworte wie »groß«, »tiefströmend«, »wirbelnd« usw.71 können folglich durchaus authentisch sein. Sollte das aber nicht so sein, so läge eine Erklärung im Sinne des Fiktionalen nahe, wie das eingangs formuliert wurde: Homer hätte den zu seiner Zeit verhältnismäßig kleinen und ruhigen Fluss als einen in der heroischen Vergangenheit viel gewaltigeren charakterisiert.

Der im Epos nur wenig erwähnte Simoeis, von den Türken »Dümrek Su« = »Gewässer von Dümrek« genannt, mit dem es sich im Sommer so verhält wie mit dem Alten Skamander. Er ist zwar schmaler als dieser, aber im Winter und im Frühjahr oft voller Wasser.72. Homer redet gelegentlich von seinen Fluten,73 das aber im Zusammenhang mit dem Skamander. Dafür könnte man poetische Gründe verantwortlich machen. Gewaltigkeit entfaltet der Simoeis lediglich im 21. Gesang der Ilias (307-323), in einer eindeutig mythischen Szene.

Nach Il. 5, 770-776 fließt der Simoeis nicht allzuweit nördlich vor Hisarlik in den Skamander, und die so vereinten Flüsse ergießen sich nach Il. 21, 122-125 in die Meeresbucht im Norden. Genau dieses Zusammentreffen von Simoeis und Skamander wird auch von Strabo (13, 31. 34) und vom älteren Plinius (nat. 5, 33) überliefert. Das alles würde sich gut mit der heute noch gut erkennbaren Stelle auf der Karte von Spratt/Dörpfeld vereinbaren lassen, an der der Simoeis in den Alten Skamander mündet (Abb. 2). Neuere Forschungen haben zwar das Zusammentreffen der beiden Flüsse viel weiter südlich lokalisiert, diese Angabe hat jedoch nur für das 2. Jahrtausend bzw. das 15.–14. Jahrhundert Gültigkeit. Den Angaben der Ilias und der erwähnten späteren Schriftquellen würde daher die Stelle auf der Karte von Spratt/ Dörpfeld viel eher entsprechen.

Wenn Strabo die eine oder andere topographische Unklarheit aufweist, so liegt das sicherlich an ihm selbst, denn seine Quelle für die Örtlichkeiten der Troas, der im 2. Jahrhundert lebende Demetrios von Skepsis, war diesbezüglich offenbar zuverlässig. Nur Demetrios’ Bemühen, den Ort des homerischen Ilion zu verlegen, nämlich nach dem 6 Kilometer entfernten »Dorf der Ilier«, ist nicht zu trauen, leiten doch den Lokalpatrioten aus der troadischen Stadt Skepsis ganz tendenziöse Absichten.74

Nun zum Schiffslager: In der Tat sind die einschlägigen Stellen der Ilias, wie Schrott anmerkt,75 widersprüchlich.76 Die Forschung hatte früher lange Zeit über, allein den westlichen Teil der Nordküste der Troas favorisiert. Erst ein Mitarbeiter Dörpfelds, A. Brückner, hat 1912 und 1925 die Beschik(a)-Bucht, etwa zehn Kilometer Luftlinie südwestlich von Hisarlik, als Standort des Schiffslagers angesprochen und andere, darunter Dörpfeld, sind ihm gefolgt, schließlich auch J. M. Cook und Korfmann.77

Meinen Erklärungsversuch will ich im Folgenden kurz charakterisieren. Die Beschik(a)-Bucht hat im Süden, wie Schrott zu Recht betont, kein Vorgebirge bzw. kein Vorgebirge und ein flaches Kap unterhalb davon.78 Zudem gab es dort bzw. in dessen Umgebung auch niemals eine Erhebung, die man als Grabhügel interpretieren konnte (Abb. 2, 12).79 Im Norden der Bucht liegt zwar ein hohes Vorgebirge, der Beschik Yassi Tepe, aber dieser ist ein frühbronzezeitlicher, archaischer bis hellenistischer und byzantinischer Siedlungs- bzw. Festungshügel. Die große, vor allem von Brückner, Dörpfeld, Korfmann und B. Rose als Grabhügel des Achilleus gedeutete Erhebung, der Beschik(a) Tepe bzw. Beschik Sivri Tepe, liegt hingegen etwas nordöstlich vom Beschik Yassi Tepe, zudem ein ganzes Stück landeinwärts (Abb. 2, 13). Schon aufgrund dieser Konstellation kann die erwähnte Identifizierung nicht zutreffen, denn nach den Indizien der Ilias, noch mehr nach Od. 24, 80-84 und weiteren antiken Autoren, liegt der Grabhügel des Achilleus fast am Ende eines Vorgebirges, das mit dem antiken Kap Sigeion gleichzusetzen ist (Abb. 2, 14-16).80 Aber auch andere Gründe sprechen gegen den Beschik(a) Tepe bzw. Beschik Sivri Tepe als Grabhügel des Achilleus. Bei den intensiven Ausgrabungen von Dörpfeld, Korfmann und Rose wurde in ihm kein Grab entdeckt. Außerdem ergab sich, dass der Hügel erst im 3.Jahrhundert aufgeschüttet wurde. Vorher hatte an seiner Stelle allenfalls ein kleiner Schutthaufen gelegen. Überdies hat man die Erhebung nach der Aufschüttung vollständig mit einem Belag aus weißen Steinplatten abgedeckt. Jedoch ist dem kaiserzeitlichen Autor Philostratos (her. 53, 11 [209]) zu entnehmen, dass der Grabhügel des Achilleus keine Steinplattenschicht besaß, denn die Thessalier, die immer wieder Opfergesandtschaften dorthin schickten, gruben Löcher in die Kuppe des Hügels, in die das Blut der Opfertiere floß, das so zur Grablege des Heros gelangen sollte.81

Obwohl eine Reihe von Ilias-Stellen auf die Beschik(a)-Bucht als Ort des griechischen Schiffslagers hindeutet, existieren auch solche, die an den westlichen Teil der Nordküste der Troas denken lassen. So spricht zum Beispiel Il. 14, 30-36 von einer »großen Öffnung« bzw. einem »großen Schlund« an der Meeresküste, und zwar zwischen zwei »Höhen«, »Vorgebirgen«. Diese »große Öffnung» bzw. dieser «große Schlund« passt bestens nicht nur zu den naturwissenschaftlichen Untersuchungen, sondern auch zu den späteren antiken Textstellen, so spricht zum Beispiel Pseudo-Skylax von »krateres Achaion« bei Sigeion und Achilleion, wobei »krateres« nach Polybios (34, 11, 3 = Strab 5, 4, 3) als »(tiefe) Bucht zwischen zwei Vorgebirgen« übersetzt werden muss (Polybios meint die große Bucht zwischen den Vorgebirgen Kap Misenum – Punta della Campanella am Golf von Neapel).82 Wie man sich die Situation zur Zeit Homers vorstellen sollte, gibt eine Rekonstruktion wieder, die meines Erachtens von den Autoren nur chronologisch zu spät angesetzt wurde (Abb. 17).83

Folglich überschneiden sich in der Ilias zwei Lokalisierungen des griechischen Schiffslagers (Abb. 2). Da der Platz an der Nordküste an der angeführten Ilias-Stelle ziemlich detailliert und anschaulich beschrieben wird und auch einige andere Angaben des Epos dorthin weisen, weiterhin die Odyssee und die sonstige antike Überlieferung, habe ich diese Lokalisierung als die jüngere, die von Homer oder einem seiner unmittelbaren Vorgänger bzw. einem gleichzeitig mit ihm Dichtenden vorgenommene, betrachtet. Jedoch haben sich in der Ilias auch Spuren einer anderen erhalten, derjenigen in der Beschik(a)-Bucht, die dann die ältere Lokalisierung sein muss84. Derartige, vom Dichter nicht getilgte Widersprüche sind ja im Epos nicht selten. Die ältere erklärt sich dadurch, dass sich die Sage wohl schon in voriliadischer Zeit den Kriegszug der Griechen als ein Flottenunternehmen vorgestellt hat, und das bedurfte selbstverständlich eines Schiffslagers. Und der Umstand, dass der letzte, entscheidende Angriff auf Troia, derjenige im Rahmen der Erzählung vom Hölzernen Pferd, von Tenedos ausgeht, würde sich ebenfalls für die genannte These anführen lassen. Homer oder ein anderer Dichter hätte dann das Lager deshalb im westlichen Teil der Nordküste lokalisiert, weil auf Kap Sigeion bzw. Kap Aianteion/Rhoiteion, das heißt im ersten Fall auf einer »Höhe«, einem »Vorgebirge« bzw. im zweiten Fall auf einem flachen Kap unterhalb einer »Höhe«, eines »Vorgebirges«, jeweils eine große, grabhügelartige und altertümlich wirkende Erhebung gelegen hätte. Diese hätten sich angeboten als die Gräber der beiden gewaltigsten in der Troas zu Tode gekommenen Griechenhelden, des Achilleus (Kap Sigeion [Abb.14-16]) und des Großen Aias (Kap Aianteion/Rhoiteion [Abb. 18]), verstanden zu werden.85

Abschließend einige Überlegungen, denen zu entnehmen ist, dass Homer die Troas gut kennt, er Troia auf Hisarlik lokalisiert und jeder Grund entfällt, einen kilikischen Hintergrund im Sinne Schrotts zu postulieren: Homer schildert Troia, wie schon angesprochen wurde, beinahe oder ganz als griechische Siedlung.86 So hat es einen Tempel der Athena als der Haupt- und Schutzgottheit, dieser liegt an einer hoch gelegenen Stelle der Stadt, es gibt im Tempel ein offenbar kleines Sitzbild, vermutlich aus Holz, ein so genanntes Xoanon,87 und die Frauen Troias bringen der Göttin im Rahmen einer Fürbitte als Geschenk einen Peplos dar.88 Es existiert ein weiterer Tempel, derjenige des Apollon,89 dann im Palastbezirk des Priamos ein Altar, derjenige des Zeus Herkeios,90 und auch Hephaistos wird in Troia kultisch verehrt.91 schließlich hat Troia eine Agora92. Mit dieser Charakterisierung stimmt der archäologische Befund insofern überein, als sich seit 1020 auf Hisarlik in einem Infiltrationsprozess Griechen niedergelassen und sie spätestens um 900 oder im Laufe des 9. Jahrhunderts den Ort dominiert haben.93 Auch die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse in Troia sind der Ilias zufolge weitgehend (früh)griechisch,94 nur die Vielzahl der Söhne und Töchter des Priamos wirkt orientalisch.95 Überdies begegnen in der Ilias immer wieder in der Troas griechische Toponyme, zum Beispiel Granikos, Heptaporos, Selleeis, Gargaron usw.96 Und die nördliche Ägäis einschließlich der Dardanellen heißt – wie schon erwähnt – damals und bis weit ins 5.Jh. hinein Hellespont.

Aber nicht nur in Troia gibt es griechische Kulte, sondern auch außerhalb davon, so denjenigen des Zeus auf dem Gargaron und denjenigen des Apollon Smintheus in Chryse am Golf von Adramytteion, Killa und auf Tenedos. Diese Gottheit deutet mit ihrem Doppelnamen klar auf die Verschmelzung des vorgriechischen Smintheus mit dem griechischen Apollon hin.97

Und dass Homer nur ein griechisches Troia in der Troas, und dann die im Bereich von Hisarlik gelegene Siedlung, kennt, geht auch daraus hervor, dass der bald nach der Entstehung der Ilias einsetzende berühmtberüchtigte ›Lokrische Mädchentribut‹ der ilischen Athena galt,98 wobei das Schiff, das die Mädchen an die troische Küste brachte, bei Kap Aianteion/Rhoiteion landete.99

Aus dem hier Dargelegten geht hervor, dass Homer nicht von Kilikien und von Karatepe spricht. Es kann nicht ein tragfähiges Indiz dafür angeführt werden, dass Troia auch oder ganz besonders in Südostanatolien zu lokalisieren wäre.

Abbildungen


Abb. 1: Karte von Westkleinasien einschließlich der Halbinsel Chersonesos, der Dardanellen und der Propontis, der Ägäis und Teilen von Thrakien, Makedonien und Griechenland. Nach Th. von Scheffer, Die Kultur der Griechen (Wien 1935), hinten.


Abb. 2: Karte der nordwestlichen Troas, 1839 von T. A. Spratt erstellt, 1894 von W. Dörpfeld ergänzt. Nach Bildarchiv Foto Marburg 1.052.337.


Abb. 3: Plan der Burg von Troia VI spät um 1300 (das mehrräumige Rechteckhaus im nordwestlichen Teil von Planquadrat G 8 gehört in die Unterperiode Troia VI früh). Im Osten, Südosten und Süden hat der steinerne Sockel der Mauer eine Höhe von 4, 50 m und oben eine Dicke von 4 m. Darauf saß am äußeren Rand ein senkrecht stehender, 2 m breiter Aufbau aus Stein, dessen Höhe unklar ist. Auf ihm lief vorn ein Wehrgang mit zinnenbesetzter Brüstung aus an der Luft getrockneten Lehmziegeln entlang. In den Planquadraten FG 4 sieht man den Rest von Haus VI D. Rekonstruktion von D. F. Easton, Reconstructing Schliemann`s Troy, in: W. M. Calder III – J. Cobet (Hgg.), Heinrich Schliemann nach hundert Jahren. Symposion in der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg im Dezember 1989 (Frankfurt 1990), Fig. 8 (S. 436).

Lag Troja in Kilikien?

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