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2 Zur Karriere der Sprechakttheorie in der linguistischen Pragmatik
ОглавлениеAls eigentlicher Begründer der Sprechakttheorie kann bekanntlich John L. Austin mit seinen 1955 gehaltenen und 1962 unter dem Titel How to do things with words publizierten William James-Lectures gelten (vgl. Austin 1962). Zwar haben jüngere Forschungsarbeiten auf zahlreiche Vorläufertheorien etwa bei Adolf Reinach hingewiesen, die sprechakttheoretische Grundeinsichten vorwegnehmen (vgl. Smith 1990; Meier in diesem Band), doch erst mit den luziden und durch die gewählten Beispiele ausgesprochen lebensnahen Ausführungen Austins wurde eine allgemeine und auch ausdrücklich so genannte „Theorie der ‚Sprechhandlung‘“ (Austin 1968, S. 153) greifbar.
Austins Entfaltung der Sprechakttheorie ist ausgesprochen linguistisch perspektiviert und reflektiert beispielsweise ausführlich mögliche grammatische und lexikalische Unterscheidungsmerkmale performativer Äußerungen (vgl. Austin 1962, S. 55). Gleichwohl ist die Sprechakttheorie erst mit ihrer Systematisierung durch Searle auch seitens der Linguistik breit rezipiert worden. Hatte Austin seine Position noch mäandernd und die eigenen Erkenntnisse immer wieder prüfend und revidierend entwickelt, baut Searle seine Fassung der Sprechakttheorie auf ganz systematische Weise auf. Seine grundlegende Annahme lautet, mit Sprechakten die „basic or minimal units of linguistic communication“ (Searle 1969, S. 16) bestimmen zu können, die sich darüber hinaus als Funktion der Bedeutung von geäußerten Sätzen (vgl. Searle 1969, S. 18) beschreiben lassen. Somit erscheinen „linguistic characterizations“ (Searle 1969, S. 5) als Grundelemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie.
Dieser enge Anschluss von Linguistik und Kommunikationstheorie oder genauer: die Erhebung von Linguistik zu einer Kommunikationstheorie dürfte damals ausgesprochen attraktiv gewesen sein. Auch die weiteren theoretischen Festlegungen Searles wie etwa die Aufgliederung von Austins lokutionärem Akt in den Äußerungsakt und den propositionalen Akt (und diesen wiederum in Referenz und Prädikation) lassen sich gut an linguistische Fragenkomplexe anschließen. Vor allem aber die Engführung der Austin’schen Glückensbedingungen als „semantic rules for the use of any illocutionary force indicating device“ (Searle 1969, S. 62) – neben den zentralen Kommunikationsverben nennt Searle auch andere, linguistisch klar beschreibbare Phänomene wie Wortstellung, Betonung, Intonation, Interpunktion und Verbmodus – macht Searles Fassung der Sprechakttheorie für die Linguistik interessant. Sprachoberflächenbezogene Phänomene werden durch ihre Rollenzuweisung für den Vollzug von Sprechakten semantisch gedeutet und zugleich durch die Beschreibung von Gebrauchsregeln und den Einbezug von kontextuellen bzw. situationalen Faktoren wie Intentionen und Präferenzen der Beteiligten grundlegend pragmatisch konturiert.1 Für eine pragmatische Semantik mit deutlichen Schnittstellen zur Grammatik ist damit ein theoretisches Fundament gelegt.
So sind denn auch die frühen linguistischen Reflexe im deutschsprachigen Raum besonders auf Indikatoren der illokutionären Rolle fokussiert, die an bekannte grammatische Kategorien wie etwa die des Satztyps angeschlossen werden können (vgl. etwa Wunderlich 1976). Searles 1976 erstmals vorlegte Klassifikation von Sprechakten (vgl. Searle 1976), die sich ebenfalls mit Satztypen in Verbindung bringen lässt, dürfte das noch weiter vorangetrieben haben (vgl. Gärtner/Steinbach in diesem Band). Hinzu kommen zahlreiche Studien kleinerer und größerer Dimension, die ganz im Stile der Searle’schen Analysen einzelne Sprechakte wie Drohungen oder Bewertungen (vgl. etwa die Beiträge in Weber/Weydt 1976; Sprengel 1977) untersuchen oder auch die in einer Sprache verfügbaren Ausprägungen von Sprechakttypen und ihre sprachlichen Realisierungsformen inventarisieren (vgl. Hindelang 1978; Liedtke 1998). Die 1983 erstmals publizierte, spezifisch germanistisch linguistische Einführung in die Sprechakttheorie von Hindelang (2010) führt diese Studien synoptisch zusammen. Darüber hinaus wird schon in den frühen Einführungs- und Überblicksdarstellungen zur linguistischen Pragmatik der für diese Teildisziplin zentrale Status der Sprechakttheorie betont (vgl. etwa Schlieben-Lange 1975; Wunderlich 1975) und ganz entlang der eben beschriebenen Argumentationslinien begründet.
Schon früh ist der Sprechakttheorie dabei ein entscheidender Einwand entgegengebracht worden, der sich auf ihre Sprecherorientiertheit oder – schärfer noch – ihre Sprecherzentriertheit bezieht. Die Analysen der Gelingensbedingungen bzw. der Gebrauchsregeln für Indikatoren der illokutionären Rolle sind allein auf die Sprechenden konzentriert, und als Beispiele werden typischerweise isolierte und an der Größe des Satzes orientierte Äußerungen präsentiert. Schon bald hat man demgegenüber auf die sequentielle Einbettung von Sprechakten hingewiesen und „Sprechaktsequenzmuster als Grundlagen von Dialogmustern“ (Hindelang 1994, S. 106) bestimmt. Vor allem aber in der durch die amerikanische Conversation Analysis inspirierten Gesprächsanalyse hat man der Sprechakttheorie vorgeworfen, mit der Konzentration auf Sprechakte den grundlegend interaktionalen Charakter sprachlicher Kommunikation zu vernachlässigen. Nicht die Sprechenden alleine könnten über ihre Äußerungen und ihren Handlungswert verfügen (vgl. hierzu Liedtke in diesem Band), vielmehr seien die Gesprächsbeiträge in Form und Funktion kollaborativ erzeugt, und „[e]rst das Gespräch als Ausgangspunkt sprachpragmatischer Forschung garantiert die unverkürzte Darstellung sprachlicher Realität“ (Henne/Rehbock 2001, S. 11). Das Gespräch aber, und auch hierauf zielt der gesprächsanalytische Einwand gegenüber der Sprechakttheorie wie auch gegenüber der sprechakttheoretischen Dialoganalyse, könne prinzipiell nicht auf dem Wege der Introspektion, sondern nur anhand von ‚natürlichen‘ Gesprächsdaten angemessen untersucht werden.
Auch wenn sich die Gesprächsanalyse seit jeher und bis heute mit diesen Argumenten von der Sprechakttheorie distanziert, scheint das grundlegende Vorgehen, bei der Analyse von Transkripten Sprechhandlungen zu bestimmen und dies an oberflächensprachlichen Merkmalen festzumachen, auch hier – wenigstens für einen „ersten Zugriff“ (Deppermann 2008, S. 55) – unverzichtbar zu sein (vgl. Staffeldt 2014, S. 111f. und in diesem Band). In ihren Details mag die Sprechakttheorie Searles zwar ihre Strahlkraft eingebüßt haben. Die Zeiten, in denen ganze Kongressbände mit immer neuen Sprechaktanalysen gefüllt wurden, liegen lange zurück, und schon 1990 kann Armin Burkhardt für die Sprechakttheorie einen allgemeinen „decline of a paradigm“ (Burkhardt 1990a) konstatieren. Dass aber sprachliche Handlungen überhaupt zentrale linguistische Gegenstände sind, die sowohl theoretisch als auch empirisch erschlossen werden müssen, wurde und wird kaum je bezweifelt. Auch jenseits von ausdrücklich sprechakttheoretisch orientierten Forschungsrichtungen lassen sich deshalb deutliche Spuren der Sprechakttheorie nachweisen.
So bauen zahlreiche Anwendungsfelder der Pragmatik wie etwa die (Un-)Höflichkeitsforschung (vgl. Brown/Levinson 1987; Bousfield 2008; Bonacchi 2017) auf erkennbar sprechakttheoretisch konturierten Begriffen wie dem des face threatening act oder dem Konzept der indirekten Sprechakte (vgl. Searle 1975) auf. Der Searle’sche Entwurf wird dabei auch weiterentwickelt, indem etwa komplexe Illokutionen im Rahmen einer sprechakttheoretischen Multi-Akt-Semantik beschrieben werden (vgl. Tenchini/Frigerio 2016). Auch in der Textlinguistik wurden Texte nicht nur als transphrastische Strukturen, sondern auch als – typischerweise hierarchisch – verknüpfte sprachliche Handlungen (vgl. Dijk 1980, S. 90) und mithin Illokutionsstrukturen (vgl. Motsch/Viehweger 1991) beschrieben oder allgemeine Textfunktionen nach dem Vorbild der Searle’schen Sprechakttaxonomie definiert (vgl. Brinker 2010). Die Phraseologie hat sich die Sprechakttheorie mit dem Begriff der Routineformel als „konventionelle[n] Äußerungsformen für den Vollzug bestimmter Sprechakte“ (Stein 2004, S. 266) zu eigen gemacht. Auf die pragmalinguistische Forschung zu Sprache und Politik, in der die Bestimmungen von Sprechhandlungen und ihrer Funktionen zentral sind, wurde bereits hingewiesen. Über die Vermittlung durch die Funktionale Pragmatik liefert der Begriff der Sprechhandlung im Sinne Austins und Searles schließlich auch für das Vorhaben einer Funktionalen Grammatik das theoretische Fundament (vgl. Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997, S. 99–159). Die von gesprächsanalytischer Seite vorgebrachten Einwände, insbesondere die Forderung nach der Berücksichtigung sequentieller Einbettungen, werden dabei von vornherein integriert und statt isolierter Sprechhandlungen werden komplexere Handlungsmuster veranschlagt. All diese Beispiele zeigen, dass die Sprechakttheorie zum theoretischen Grundbestand, sozusagen zur Grundausrüstung jeder pragmatisch orientierten Linguistik gehört.
Eine andere Stoßrichtung der Kritik an der klassischen Sprechakttheorie zielt auf ihren universalistischen Charakter. In sprach- und kulturvergleichender Perspektive wurde auf ethnozentrische Tendenzen der Sprechakttheorie hingewiesen, welche kulturspezifische Ausprägungen von Sprechakten wie auch von Ethnotaxonomien außer Acht lasse (vgl. Gass/Neu 1996; Richland 2013). In diachroner Perspektive hat man die historische Wandelbarkeit von Sprechakten bzw. von Indikatoren der illokutionären Rolle aufgezeigt (vgl. Jucker/Taavitsainen 2008). Allerdings handelt es sich bei beiden Forschungsrichtungen mitnichten um Angriffe auf die Sprechakttheorie als solche (vgl. aber Rosaldo 1982). Im Gegenteil, ihre prinzipielle Tauglichkeit und auch die mit ihr verbundenen Heuristiken wie etwa die Inventarisierung von Indikatoren der illokutionären Rolle werden gerade nicht bestritten, sondern allenfalls empirisch ausdifferenziert und hierdurch letztlich doch bestätigt.
Die Sprechakttheorie, so könnte man diesen Abriss ihrer Karriere in der Linguistik resümieren, ist eine Normalwissenschaft im Sinne Thomas Kuhns geworden:
[…] eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft […] als Grundlagen für die weitere Arbeit anerkannt werden. Heute werden solche Leistungen in wissenschaftlichen Lehrbüchern, für Anfänger und für Fortgeschrittene, im einzelnen geschildert, wenn auch selten in ihrer ursprünglichen Form. Diese Lehrbücher interpretieren den Grundstock einer anerkannten Theorie, erläutern viele oder alle ihre erfolgreichen Anwendungen oder vergleichen diese Anwendungen mit exemplarischen Beobachtungen und Experimenten. (Kuhn 1967, S. 28)
Und so normal, wie die Sprechakttheorie geworden ist, so wenig scheint sie derzeit in der Linguistik noch Gegenstand ernsthafter theoretischer Auseinandersetzung zu sein – anders, als in der Philosophie, wo sie bis heute diskutiert wird (vgl. etwa Fogal/Harris/Moss 2018). Im 1990 erschienenen Band Speech Acts, Meaning and Intentions (Burkhardt 1990b), der den Stand der Sprechakttheorie 20 Jahre nach Erscheinen von Searles Buch bilanziert, sind vor allem theoretische Einwände vorgebracht worden. Nochmals 30 Jahre später, so könnte man überspitzt zumindest für die germanistische Linguistik sagen, wird die Sprechakttheorie vor allem angewendet.