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2 Der Begriff des ‚überregionalen literarischen Interaktionsraums‘
ОглавлениеEs ist evident, dass eine integrierte Darstellung der zweisprachigen literarischen Praxis der Kärntner Slowen_innen diese Diversität, Heterogenität und Überregionalität berücksichtigen muss. Um den Raum, der für die Beschreibung dieser Literatur relevant ist und der prospektiv weder sprachlich noch topographisch eingegrenzt werden kann, konzeptuell zu erfassen, wurde der Begriff des ‚überregionalen literarischen Interaktionsraums‘ eingeführt. Er sollte einen grundsätzlich abstrakten, offenen, transnationalen Raum bezeichnen, als dessen Teil die Literatur der Kärntner Slowen_innen erachtet werden kann, die nicht allein auf das regionale zweisprachige, das österreichische und das slowenische literarische Feld beschränkt ist, sondern produktiv wie rezeptiv weit über den regionalen Zusammenhang hinausreicht.
Als Ausgangspunkt dienten die Arbeiten und konzeptuellen Überlegungen von Johann StrutzStrutz, Johann zu einer literarischen Komparatistik der Alpen-Adria-Region, die auf die lebensweltliche und textuelle Interkulturalität im Regionalraum fokussieren (Strutz 2003: 351–352).Strutz, Johann1 Die von ihm beschriebene polyphone und transkulturelle „écriture der Region, die den exklusiven nationalen Nexus in Frage stellt, ohne dabei bestimmte Traditionen aufzugeben, indem sie den nationalen Rahmen zugleich unter- und überschreitet“ (Strutz 2010: 178), und die „spezifischen lnteraktionsformen der Alpen-Adria-Kulturen“ (ebd.: 191) bilden auch insofern eine wichtige Basis für das Konzept des Interaktionsraums, als sein Beschreibungsmodell die vielschichtigen lnterferenzen und Differenzen zwischen den sprachlichen, kulturellen und politischen Zusammenhängen berücksichtigt und die generelle Zwei- oder Mehrsprachigkeit der minoritären Kulturen nicht außer Acht lässt. Letztere „ermöglicht nämlich nicht nur die ‚luxurierende‘, ‚nomadische‘ Teilhabe an mehreren Kulturen, sondern bietet auch die Möglichkeit einer ‚ersatzweisen‘ literarischen Sozialisation durch partielle Übernahmen aus den jeweiligen größeren Nachbarliteraturen“ (Strutz 2010: 191).
Im Unterschied zu StrutzStrutz, Johann, der den Begriff „Regionalität“ nicht nur als thematische, semantische oder sprachlich-stilistische Kategorie auffasst, sondern ihm neben dem „Aspekt der (alltäglichen) sozialen und kulturellen Praxis“ auch ein „geographisches, raumkulturelles Bezugsmoment von Nähe und Nachbarschaft“ (Strutz 2003: 70) zugrunde legt, verfügt der hier diskutierte Interaktionsraum jedoch über kein ‚echtes‘ geographisches Korrelat. Der überregionale literarische Interaktionsraum darf also nicht mit dem Regionalraum verwechselt werden, in dem die Literatur der Kärntner Slowen_innen einen Teil des Systems der Literaturen im Alpen-Adria-Raum darstellt. Der räumliche Kontakt zwischen Sprachen und Kulturen in synchroner wie diachroner Perspektive ist auch hier von Bedeutung, sowohl auf der Ebene der praktischen Organisation des literarischen Lebens als auch auf der Textebene, doch hat die ‚Entregionalisierung‘ dieser Literatur aus überregionaler Perspektive eine Verschiebung von den intrasystemischen Relationen, Kontakten, Interferenzen und Transfers zwischen den Literaturen der Alpen-Adria-Region zu den intersystemischen Interaktionen insbesondere im deutsch- und slowenischsprachigen Raum zur Folge. Der räumlich-geographische Aspekt muss aber auch überschritten werden, um die Migration von Personen, das Zirkulieren von Texten und deren globale Verfügbarkeit sowie Phänomene wie Intertextualität, Intermedialität und die Verlagerung von Literatur in virtuelle Räume als Elemente literarischer Interaktion aufeinander beziehen und die systemische Position der rezenten zweisprachigen Literatur der Kärntner Slowen_innen bestimmen zu können.2
Im Übrigen sind die theoretisch-methodischen Grundlagen für die Beschreibung des überregionalen literarischen Interaktionsraums weitgehend dieselben, wie sie von StrutzStrutz, Johann für die literarische Komparatistik der Alpen-Adria-Region herangezogen wurden: das Konzept „kleiner Literaturen“ in der Nachfolge von GuattariGuattari, Félix und DeleuzeDeleuze, Gilles (1976), die Kultursemiotik LotmansLotman, Jurij (2010) unter Bezug auf BachtinsBachtin, Michail metalinguistischen Sprach- und Dialogizitätsbegriff und die Polysystemtheorie Itamar Even ZoharsEven-Zohar, Itamar (1990) (vgl. Strutz 2003: 23–67, 2010: 184–191). Als besonders anwendbar für die Konzeption und Beschreibung des Interaktionsraums erwiesen sich die Instrumentarien und Begriffe der Polysystemtheorie, die auf sozialen Relationen beruhende Feldtheorie BourdieusBourdieu, Pierre Félix (1999), die bei Strutz nur am Rande Erwähnung findet, und das LotmanLotman, Jurij’sche Modell der Semiosphäre. Letzteres erlaubt es, den Interaktionsraum auch als abstrakten, diskursiven semiotischen Raum zu begreifen, der mit gegebener kultureller Bedeutung operiert und neue kulturelle Bedeutungen hervorbringt, indem in ihn verschiedene, sich überlagernde, zwei- oder mehrsprachige Grenzen (sowohl gegenüber dem inner- als auch dem außer- und anderssemiotischen Raum) eingeschrieben sind, an denen es aufgrund ständiger Einflüsse von außen zu besonders intensiven semiotischen Prozessen kommt (Lotman 2010: 182, 184, 189). Einen weiteren Bezugspunkt bildete die österreichische regionalgeschichtliche Literaturraumforschung (vgl. Schmidt-Dengler/Sonnleitner/Zeyringer 1995), insofern sie Kulturraum als „eine Zone spezifischer, hoher Verdichtung von menschlicher Interaktion“ (Thum 1980: 81) begreift und die Institutionengeschichte sowie die Produktions- und Rezeptionsbedingungen untersucht (vgl. Amann 2007).
Die wichtigste Grundlage für die analytische Arbeit bildeten jedoch die zu erhebenden empirischen Daten zu den im überregionalen und sprachübergreifenden Zusammenhang relevanten Autor_innen und Akteur_innen, Texten und Translaten sowie den Produktions- und Rezeptionsprozessen (vgl. Köstler/Leben 2018: 148–151). Erstellt wurde eine umfassende Datenbank mit mehr als 18.500 Einträgen, beruhend auf den nach 1990 erschienen Buchpublikationen (Primärtexte, Übersetzungen, Anthologien, Werkausgaben usw.), der Auswertung von annähernd 60 österreichischen, slowenischen und italienischen Literatur- und Kulturzeitschriften sowie der Bestandsaufnahme der für den Untersuchungsbereich relevanten Kulturpublizistik und wissenschaftlichen Literatur, aber auch von Internetportalen, Webseiten und Blogs. Es wurden Interviews mit mehr als 40 Personen geführt, die im zweisprachigen literarischen Feld tätig sind (Autor_innen, Übersetzer_innen, Herausgeber_innen, Theatermacher_innen, Filmemacher_innen, Musiker_innen, Literaturwissenschaftler_innen, Kulturmanager_innen und Journalist_innen), und umfassende Bibliographien zu einzelnen Autor_innen angelegt, ebenso wurden Daten zu den slowenischen, zwei- oder mehrsprachigen literarischen Institutionen in und außerhalb Kärntens gesammelt (Verlage, Veranstalter, Veranstaltungsorte, Literaturvereinigungen, Literaturpreise, Kulturvereine usw.). Um dem Transfer von Repertoires und Modellen,3 einer der zentralen Fragen literarischer Interaktion, im Detail nachgehen zu können, wurden darüber hinaus mehr als 300 Textbeschreibungen angefertigt, die auch Auskunft über die Statik bzw. Dynamik von Kanonisierungsprozessen geben. Erst anhand dieser Daten, von denen anzunehmen ist, dass sie die Verhältnisse und Veränderungen im untersuchten Zeitraum abbilden, war es möglich, den überregionalen literarischen Interaktionsraum in Relation zu den Feldern der österreichischen und der slowenischen Literatur zu stellen sowie Aussagen über seine Beschaffenheit und Stabilität zu treffen. Folglich bildet er sich erst durch die belegbaren interlingualen und transkulturellen Relationen zwischen Akteur_innen und Texten heraus, die für einen bestimmten Zeitraum evidentiert werden können. Da Texte auch Teil oder Gegenstand von intermedialen Prozessen und Transformationen sein können, wurden außerdem Daten aus anderen künstlerischen Bereichen, insbesondere dem Theater, herangezogen.