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3 Der literarische Interaktionsraum aus raumtheoretischer Perspektive

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Seit dem Spacial turn in den Kultur- und Literaturwissenschaften wurden zahlreiche raumbasierte Theorien, Konzepte und Modelle entwickelt, die zum einen globale Ortlosigkeit und Probleme der Lokalisierung von Raum in den Vordergrund rücken, zum anderen aber auch Raum zu einer „zentralen Analysekategorie, zum Konstruktionsprinzip sozialen Verhaltens, zu einer Dimension von Materialität und Erfahrungsnähe sowie zu einer wirkungsvollen Repräsentationsstrategie“ (Bachmann-Medick 2015: 42) werden lassen. Die inter- und transkulturell orientierte Literaturwissenschaft, die schon immer Interesse für interliterarische Beziehungen gezeigt hat, nimmt hierbei zumeist physische, topographische Räume in den Blick. Dies können größere geographische Räume sein, wie etwa das östliche Zentraleuropa, die iberische Halbinsel oder Lateinamerika, kleinräumigere Zusammenhänge wie die Alpen-Adria-Region, die Benelux-Region oder Teile des südöstlichen Europa, oder auch urbane literarische Kulturen in Städten wie Wien, Prag oder Triest. In vielen Fällen kommt der Fokus auf ethnisch plurale, mehrsprachige, interkulturelle oder transnationale Aspekte zu liegen, wobei auch auf alternative Bezeichnungen wie ‚Sprachlandschaften‘ oder ‚Geopoetiken‘ oder Begriffe wie ‚Kultur als Kommunikationsraum‘ (Csáky 2011) zurückgegriffen wird. Ein weiterer Strang in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Raumforschung setzt sich stärker mit abstrakten, ästhetischen, relationalen, sozial produzierten oder symbolischen Raumkonzepten auseinander, die mit FoucaultsFoucault, Michel ‚Heterotopie‘ als Gegenort, Sojas realem und zugleich imaginärem ‚thirdspace‘ oder BhabhasBhabha, Homi K. handlungsorientiertem ‚dritten Raum‘ großen Einfluss auf den Raumdiskurs haben (vgl. Bachmann-Medick 2015: 285–329; Dünne/Günzel 2015: 289–368, 449–545). Der Interaktionsraum hat auch mit den hier exemplarisch genannten und oft wechselseitig miteinander verwobenen raumtheoretischen Ansätzen zahlreiche Überlappungen, weshalb es nicht verwundert, dass Marko JuvansJuvan, Marko Zusammenschau postmoderner raumtheoretischer Zugänge in den Geisteswissenschaften in höchstem Maß auf ihn zuzutreffen scheint, denn der postmoderne Raumbegriff ist:

offen, unvollendet, relational, heterarchisch, zeitlich mehrdimensional (an den gleichen Ort schreiben sich Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft ein), ontologisch vielfältig (physisch, konzipiert, aktuell, virtuell, real, möglich, diskursiv, erlebt, imaginiert, vorgestellt usw.), vor allem aber ist er in ständiger, zum Teil autopoetischer Entstehung und Umbildung, die feste und geometrisch bestimmbare räumliche Gegebenheiten mit der Beweglichkeit in verschiedene Richtungen weisender Strömungen und ihrer Schauplätze kreuzt; in einem solchen Raum treten die Geometrien physischer Gegebenheiten in Interaktion mit gesellschaftlichen Praxen, mentaler Kartierung und den mehrdimensionalen Strömungen von Informationen, Quellen, Gütern, Menschen und des Kapitals. (Juvan 2016: 21)

Aus raumtheoretischer Perspektive weist der Interaktionsraum eine besondere Nähe zum Drei-Ebenen-Modell Jörg DünnesDünne, Jörg (2004: 2) auf, der einem kultur- und medienwissenschaftlich Ansatz folgend zwischen kulturpragmatischen, semiotischen und technischen Räumen unterscheidet und die historische Bedingtheit von Raumerzeugung durch semiotische Ordnungen, die eine immanente Bedeutungsdimension aufbauen und sich in ein Verhältnis zu lebensweltlichen Räumen setzen können, hervorhebt. Kulturpragmatische Raumtheorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie Raumkonstitution weder in rein die Medien der Übertragung betreffenden technischen Bedingungszusammenhängen noch in semiotischen Raum-Repräsentationen aufgehen lassen:

Ein kulturpragmatischer Zugang zu Raum ist da gegeben, wo ein kultureller Raum nicht mehr in einer wie auch immer gearteten, semiotisch begründeten Lesbarkeit aufgeht, sondern semiotische Ordnungen selbst der Frage nach ihrer historischen Bedingtheit unterzogen werden. […] Von technischen Raumtheorien unterscheidet sich ein kulturpragmatischer Ansatz dadurch, dass Raumkonstitution in ihm nicht als medientechnisch determiniert erscheint, sondern zugunsten einer Interaktion oder Konkurrenz mit diskursiven, sozialen oder symbolischen Ordnungen aufgebrochen wird. (ebd.: 7)

Genauer spezifizieren lässt sich das Modell des Interaktionsraums jedoch anhand der 1974 veröffentlichten Raumtheorie Henri LefebvresLefebvre, Henri, auf welche etliche Raumkonzepte nach dem Spacial turn Bezug nehmen. Da nicht wenige von ihnen essentialistische, nationale, einsprachige, monokulturelle, ausgrenzende, rassistische, patriarchale oder kolonialistische Paradigmen zu überwinden versuchen, scheint es angebracht, daran zu erinnern, dass LefebvreLefebvre, Henri seine Auffassung von Raum als einer weder absoluten noch messbaren noch a priori gegebenen, sondern vielmehr von einer Gesellschaft praktisch und diskursiv hervorgebrachten Kategorie vor dem Hintergrund seiner Kritik an der mathematisch-geometrisch oder geographisch orientierten Raumwissenschaft formuliert hat. Diese repräsentiere den „politischen Gebrauch“ von (im Westen neokapitalistischem) Wissen, impliziere eine Ideologie, die den politischen Gebrauch zu kaschieren und für sich ein nicht von Interessen geleitetes Wissen zu reklamieren versuche, und verkörpere die im besten Fall eine technologische Utopie (Lefebvre 2008: 8–9). Von daher ist einzuräumen, dass auch der Interaktionsraum nicht frei von politischen und ideologischen Komponenten ist und dass er es LefebvresLefebvre, Henri Raumtheorie zufolge auch nicht sein kann, weil Raumrepräsentationen von einem stets relativen und sich verändernden Wissen, „einer Mischung aus Erkenntnis und Ideologie“ durchdrungen und als solche Teil der sozialen und politischen Praxis sind (ebd.: 41).1 Entsprechend besagt seine Definition von (sozialem) Raum als (sozialem) Produkt, der weder aus einer „Ansammlung von Dingen im Raum“ noch als Aggregat kognitiver Daten noch aus einer befüllten oder zu befüllenden Leere besteht (ebd.: 26–27), dass an das Wissen über diesen Raum die Erwartung gestellt werden müsse, den Prozess der Produktion dieses Raums zu reproduzieren und zu erklären, wobei die Theorie den generativen Prozess nicht von außen, sondern von innen reproduziere (ebd.: 36–37).

Dieser Ansatz bildet einen integralen Teil von LefebvresLefebvre, Henri Versuch einer einheitlichen Raumtheorie, die gemäß dem Prinzip „Analyse gefolgt von Exposition“ zur Findung von „Raumwahrheit“ führen soll (ebd.: 9). Seine Theorie basiert wesentlich auf der mehrdimensionalen dialektischen Beziehung zwischen den sich an und für sich nicht überlappenden Kategorien von physischem, mentalem und sozialem Raum und den drei relationalen Komponenten (wahrgenommener, produzierender und reproduzierender) Raumpraxis, (konzeptualisierter, ordnender) Raumrepräsentationen und (gelebter, passiv erfahrener, reale Objekte symbolisch benutzender) Repräsentationsräume (ebd.: 11–14, 33, 38–39). Angewandt auf den Interaktionsraum würde dies heißen, dass es sich um einen konzipierten Raum handelt, der auf datengestützter räumlicher Praxis basiert, und dass sich die „gelebten“ Repräsentationsräume in Form von symbolisch aufgeladenen literarischen Texten konkretisieren und über den physischen Raum legen. LefebvreLefebvre, Henri erachtet den konzipierten Raum jedoch als den dominanten Raum jeder Gesellschaft (ebd.: 38–39), was auf den Interaktionsraum kaum zutreffen dürfte, dennoch kann er für sich in Anspruch nehmen, raumrepräsentativ sein, indem er eine Alternative zu anderen dominanten literarischen Raumkonzeptionen bietet. Instruktiv sind in diesem Zusammenhang auch LefebvresLefebvre, Henri Überlegungen zur Semantik von Raumbegriffen, wenn er festhält, dass es in keiner Sprache einen allgemeinen Raumcode, eine Art super code gebe, dass aber die räumlich-sozialen Praxen in bestimmten historischen Perioden und Gesellschaften spezifische, decodierbare Raumcodes hervorbringen, die auch wieder kollabieren können (ebd.: 16–17, 25–26).2 Insofern kann der Interaktionsraum als Hervorbringung eines bestimmten gesellschaftlichen Bedarfs gedeutet werden.

Zu den empirischen, aus der Raumpraxis stammenden Daten ist anzumerken, dass die Raumpraxis nicht mit der Diversität sozialer Praxis gleichgesetzt werden kann, denn in „Wirklichkeit ‚enthält‘ der soziale Raum soziale Handlungen, Handlungen sowohl individueller als auch kollektiver Subjekte, die geboren werden und die sterben, die leiden und die tätig werden“ (ebd.: 33, Übers. A.L.); sozialer Raum ist demnach ein vitaler Prozess des Kommens und Gehens, fluider Veränderung, während sich die Raumpraxis erst durch seine Dechiffrierung offenbart (ebd.: 38). Lefebvres Raumtheorie legt auch nahe, den Interaktionsraum nicht nur als wissenschaftliches Konzept zu verstehen, sondern aus der sozialen Praxis heraus. Denn wenn es zutrifft, dass jede Gesellschaft ihren eigenen Raum produziert und jede soziale Existenz, die für sich den Anspruch erhebt, real zu sein, sich ihren eigenen Raum schaffen muss – wenn sie nicht als seltsame Entität erscheinen, ihre Identität verlieren, auf die Stufe von Folklore fallen und früher oder später verschwinden will (ebd.: 53) – leistet das Modell auch einen Beitrag zur Sichtbarmachung der handelnden Akteur_innen, die dominante Raumordnungen und Codes unterlaufen und symbolische Objekte neu verhandeln.

Da sich der Interaktionsraum explizit auf literarische Zwei- und Mehrsprachigkeit bezieht, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Lefebvres Raumtheorie, abseits von der Linguistik und Philosophie, Sprache keine Rolle spielt. Im Gegenteil, LefebvreLefebvre, Henri spricht sich gegen die These des Primats der Sprache aus (ebd.: 16–17, 28) und spöttelt über die gesprochene oder geschriebene Sprache, die er im Hinblick auf die Vermittlung sozialer Zeit und räumlicher Praxis als schwerfällig erachtet. Er weist auf ihren teils bäuerlichen teils theologisch-philosophischen Ursprung hin und sieht den Bedarf, die Sprachen zu verschrotten und zu rekonstruieren; eine Aufgabe, die er der sozialen Praxis zuweist (ebd.: 132). Seine Empfehlung mag als Provokation gedacht gewesen sein, bei genauerer Betrachtung der im Rahmen des Interaktionsraums erfassten literarischen Produktion findet sie aber in den sprachexperimentellen Texten durchaus Widerhall. Im Unterschied zu LefebvresLefebvre, Henri Raumtheorie müssen innerhalb des Modells des literarischen Interaktionsraums die zwei- und mehrsprachige Situation, die Formen literarischer Zwei- und Mehrsprachigkeit und Phänomene wie Sprachmischung und Sprachwechsel geradezu als zentrale Aspekte der sozialen Praxis und des sozialen Raums erachtet werden, was auch die Komplexität der dialektischen Beziehung zwischen Raumpraxis, Raumrepräsentation und Repräsentationsraum erhöht. Mehrsprachigkeit, die Inter- und Transkulturalität voraussetzt, ist ein Instrument der Dechiffrierung sozialer Praxis, sie ist aber auch den passiv erfahrenen Repräsentationsräumen inhärent, die sich wiederum auf den sozialen Raum auswirken und zu Veränderungen der dominanten Verhältnisse in den Raumrepräsentationen führen können.

Aus raumtheoretischer Perspektive ist schließlich festzuhalten, dass der Interaktionsraum, der ausgehend vom zweisprachigen literarischen Feld der Kärntner Slowen_innen über das österreichische und das slowenische literarische Feld hinausreicht, von der Idee ‚(trans-)kultureller Zwischenräume‘ abzugrenzen ist, sofern damit hybride Übergangsräume gemeint sind, die sich zwischen verschiedenen (nationalen) Kulturen und Literaturen entfalten.3 Hingegen lässt er sich sehr wohl als Zwischenraum im Sinne der von CerteauCerteau, Michel de beschriebenen ‚zwischenräumlichen Bewegungspraxis‘ begreifen, denn ihm zufolge ist der Raum „ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.“ Im Gegensatz zum Ort weist der Raum „weder eine Eindeutigkeit noch eine Stabilität von etwas ‚Eigenem‘“ auf; er ist „ein Ort, in dem man etwas macht“ (Certeau 2015: 345). Aus dieser Perspektive kann der Interaktionsraum des Weiteren als „dritter Raum“ gedacht werden, als Zwischenraum, in dem kulturelle Differenzen artikuliert und verhandelt werden, als Raum, „von dem aus Strategien – individueller oder gemeinschaftlicher – Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozeß, die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, […] zu innovativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen“, als „Raum der Intervention im Hier und Jetzt“ oder auch als Raum, der die „diskursiven Bedingungen der Äußerung“ konstituiert, „die dafür sorgen, daß die Bedeutung und die Symbole von Kultur nicht von allem Anfang an einheitlich und festgelegt sind und daß selbst ein und dieselben Zeichen neu belegt, übersetzt, rehistorisiert und gelesen werden können“ (Bhabha 2011: 2, 11, 57).

Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext

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