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Das napoleonische Narrativ heute

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Napoleon gehört zwar unzweifelhaft nach wie vor zum kollektiven Gedächtnis Europas, aber die Erinnerung an ihn tendiert dazu, im Lauf der Zeit zu verblassen. Die Feiern zum 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs, eines Kriegs, der wie die napoleonischen Kriege Millionen Tote in den europäischen Armeen verursacht hat, deren Opfer uns aber heute näher zu stehen scheinen, erinnern uns daran, dass die Schatten, die er wirft, auch heute noch, ein Jahrhundert später, das Leben der Menschen zutiefst in Mitleidenschaft ziehen. Die Lebenden von heute haben ihre Großeltern im Ersten Weltkrieg verloren und ihre Väter im Zweiten: Das waren Leute, die sie kannten, die sie liebten, deren Leben Spuren in Gestalt von Fotos oder Gedichten hinterlassen hatten, deren Opfer in Kriegsbildern, die sie in den Wochenschauen oder in den Filmen sahen, gefeiert wurde. Die Überlebenden der napoleonischen Kriege sind zwangsläufig unschärfere Figuren, die im Nebel der Zeit verschwimmen.

Im 19. Jahrhundert war die Situation eine ganz andere: In allen Krieg führenden Staaten kehrten Soldaten nach Hause zurück, sei es mit vollem oder halbem Sold, und waren gezwungen, in einer Zeit der zunehmenden Mechanisierung und der hohen Arbeitslosigkeit mit der Rauheit des zivilen Lebens zurechtzukommen. Diejenigen, die zurückgekehrt waren, lebten oft bis in ein hohes Alter und viele von ihnen dachten nostalgisch an die Jahre zurück, die sie unter den Fahnen verbracht hatten. Als Napoleon III. allen, die in der Armee seines Onkels gedient hatten, die Sankt-Helena-Medaille verlieh, entdeckte er, dass 42 Jahre nach Waterloo noch mehr als 400.000 Überlebende existierten. Der letzte der französischen Soldaten Napoleons starb erst 1894 und der letzte bekannte Soldat der „Großen Armee“, ein Pole, lebte bis 1901. Erst mit dem 20. Jahrhundert erlosch jedes direkte Gedächtnis und wichen die grognards, die Haudegen Napoleons, den tommies und den poilus des Großen Kriegs, dem Afrikakorps von Erwin Rommel und den Soldaten der Roten Armee, die Stalingrad verteidigten. Jede Generation hat ihre Helden und eine jede hat ihre Toten zu beweinen.

Halten wir jedoch auch die ebenso große Bedeutung des derzeitigen politischen Klimas in Europa fest. Frankreich und Deutschland arbeiten im Herzen Europas Seite an Seite, warum sollten diese Länder also ein Interesse daran haben, die Erinnerung an Austerlitz oder an Jena (eine entscheidende Schlacht, die Napoleon ermöglichte, Preußen im Rahmen des danach geschlossenen Friedensabkommens ein Drittel seines Territoriums abzunehmen) anzufachen? Warum sollte Großbritannien, Bündnispartner Frankreichs in allen bewaffneten Konflikten, die seit 1815 stattgefunden haben, die Niederlage Frankreichs (und gleichzeitig diejenige Napoleons) feiern wollen? Der für die Veranstaltungen des 200. Jahrestags gewählte Stil in einem großen Teil von Westeuropa, der Wunsch, eher zu gedenken als zu feiern, der pädagogische Wille hinter so vielen historischen Ausstellungen und vor allem der Verzicht der Franzosen selbst, auch nur die geringste öffentliche Feier der großen Siege Napoleons (Ulm, Austerlitz, Jena, Wagram) zu organisieren, deuten darauf hin, dass man davor zurückscheute, ein internationales Unbehagen auszulösen, werden doch die Beziehungen zwischen den europäischen Mächten heute durch die internationale Zusammenarbeit definiert. Die französische Regierung hat in ihrer Haltung zu öffentlichen Veranstaltungen eindeutig eine gewisse Diskretion an den Tag gelegt, die so weit ging, dass im Dezember 2005, als mehrere Tausend Begeisterte den 200. Jahrestag von Austerlitz in der Republik Tschechien feierten, weder der Präsident der Republik, Jacques Chirac, noch sein Premierminister es für ratsam gehalten haben, daran teilzunehmen. Viele haben diese Abwesenheit als eine politische Unterwerfung unter die politische Korrektheit interpretiert, zumal der damalige Premierminister Dominique de Villepin bekanntlich ein großer Bewunderer Napoleons ist.

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