Читать книгу Das Attentat in der Geschichte - Группа авторов - Страница 33
Mord im Dom Thomas Becket 1170
ОглавлениеNiemand bedauert die Notwendigkeit gewaltsamen Vorgehens aufrichtiger als wir. Aber leider gibt es Zeiten, in denen Gewalt der einzige Weg ist, auf dem soziale Gerechtigkeit sichergestellt zu werden vermag. Zu andrer Zeit würden wir einen Erzbischof durch Parlamentsbeschluß verurteilen und ihn in aller Form rechtens als Hochverräter bestrafen, und niemand würde es auf sich nehmen müssen, daß man ihn deshalb einen Mörder schelte. Und in noch späterer Zeit würde selbst ein so maßvolles Verfahren unnötig geworden sein. Aber wenn wir jetzt eine gerechte Unterordnung des kirchlichen Machtwillens unter die Wohlfahrt des Staates erreicht haben, so wollen Sie daran denken, daß wir es sind, die den ersten Schritt dazu getan« (Werke, 1, 78).
Mit diesen Worten wendet sich einer der vier Ritter, die gerade Thomas Becket, den Erzbischof von Canterbury, erschlagen haben, in T. S. Eliots »Mord im Dom« an das Theaterpublikum. Die Täter erhalten bei ihm ausführlich Gelegenheit zur Rechtfertigung ihrer Tat, für die sie Themen wie Verrat, Undankbarkeit und Eigensinn variieren. Eliot geht es vor diesem negativen Hintergrund aber um etwas völlig anderes: um eine Rückbesinnung auf christliche Werte, die er im Verhalten des Erzbischofs verwirklicht sieht.
Wie Eliot haben sich auch andere Dichter und Autoren vom Schicksal Beckets angezogen gefühlt, von Douglas Jerrold 1830 über Alfred Tennyson bis zu Christopher Fry und Jean Anouilh, und dies mit jeweils anderen Motiven in Dichtungen umgesetzt. So hat z.B. Conrad Ferdinand Meyer in seiner Novelle »Der Heilige« die Ereignisse vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen den Normannen und Angelsachsen geschildert – Thomas Becket ist bei ihm der Sohn eines Angelsachsen und einer vornehmen Sarazenin – und die Heiligkeit seiner Hauptperson infrage gestellt; Jean Anouilh behandelt in seinem Drama »Becket oder die Ehre Gottes« vor allem die enge Beziehung zwischen Becket und König Heinrich II. von England und die Ursachen für ihre Entfremdung. Fasziniert haben alle gleichermaßen wohl das Ungeheuerliche der Tat, des »Mords im Dom«, und ihre Voraussetzungen.
In der Geschichte der Attentate kommt dem Anschlag auf Thomas Becket insofern eine Sonderstellung zu, als ihm praktisch keinerlei Planung vorausging, und obwohl die Täter lange bekannt sind, lässt sich die Frage der Schuld nur bedingt abschließend beantworten. Es lohnt sich somit, diesen Kriminalfall noch einmal aufzurollen. Dazu soll zunächst der Tathergang geschildert werden, dann das Motiv und damit die Vorgeschichte, und abschließend wird kurz nach den Folgen der Tat zu fragen sein.
Der Tathergang lässt sich leicht rekonstruieren, haben doch fünf Augenzeugen und eine Reihe weiterer Biografen darüber berichtet. Am Vormittag des 29. Dezember 1170, an einem Dienstag, hatte Thomas Becket, der Erzbischof von Canterbury, zunächst wie gewöhnlich an den verschiedenen Altären der Kathedrale gebetet. Wohl gegen zwei Uhr nachmittags nahm er mit seinem Haushalt in der Halle des erzbischöflichen Palastes die einzige Hauptmahlzeit des Tages ein. Danach zog er sich mit seinen Beratern in seine Kammern zurück. Kurze Zeit darauf erschienen vier Ritter des Königs mit wenigen Begleitern vor dem Torhaus, William de Tracy, Reginald Fitzurse, Hugh de Morville und Richard le Breton. Sie ließen ihre Begleitung vor dem Tor und wurden in den Hof vor den Palast geführt, wo sie ihre Waffen ablegten. Als sie in die große Halle kamen, saß dort gerade das Personal beim Essen, das den Erzbischof bedient hatte. Es war gegen drei Uhr nachmittags, als Thomas schließlich über die Ankunft der Ritter informiert wurde.
Als die Ankömmlinge hereingeführt wurden, sprach der Erzbischof mit einem der Mönche. Während sich die Ritter zu seinen Füßen setzten, fuhr Thomas in seinem Gespräch fort und nahm zunächst keine Notiz von ihnen. Erst einige Zeit später begrüßte er sie, erhielt jedoch von den Rittern keine Antwort; einer von ihnen soll mit einem gemurmelten »Gott helfe dir« reagiert haben (Mats.2, 431). Beim nun folgenden Wortwechsel sprach Reginald Fitzurse für die Gruppe der Ritter. Er kündigte an, er und seine Begleiter hätten eine Botschaft vom König, und fragte, ob der Erzbischof diese öffentlich oder privat entgegennehmen wolle. Thomas wollte seine Kleriker zunächst entlassen, rief sie aber zurück, nachdem ihm die Bedeutung der Angelegenheit und die bedrohliche Haltung der Besucher bewusst geworden war. Reginald Fitzurse begann mit einer Reihe von Klagen gegen den Erzbischof; so warf er ihm vor, dass er sich nach seiner Rückkehr aus dem Exil nicht dem Sohn des Königs, dem jungen Heinrich, in Winchester gestellt und dass er auf der Seite des Königs stehende Bischöfe exkommuniziert hatte. Er forderte deshalb die Aufhebung der verhängten Strafen. Der Erzbischof antwortete mit dem Verweis auf die Autorität des Papstes, in dessen Namen die Exkommunikationen erfolgt waren. Die Auseinandersetzung nahm an Schärfe zu, als Reginald offen mit einem Angriff auf den Erzbischof drohte und dieser die Ritter an die ihm zur Verfügung stehenden geistlichen Strafen erinnerte. Daraufhin erklärte Fitzurse den zwischen Heinrich II. und Thomas Becket vereinbarten Frieden im Namen des Königs für aufgehoben und forderte die inzwischen zahlreich zusammengeströmten Kleriker auf, den Raum zu verlassen, wohl, um den Erzbischof gleich an Ort und Stelle zu arrestieren. Als sich niemand bewegte, gab er stattdessen die Anweisung, Becket an der Flucht zu hindern, und verließ mit den anderen den Palast, um sich zu bewaffnen. In einer heftigen Reaktion folgte ihnen Thomas an die Tür und rief: »Wißt, daß ich nicht zurückgekehrt bin, um zu fliehen«, und: »Hier, hier werdet ihr mich finden« (Mats.1, 131; 2, 433).
Während die Ritter mit dem Ruf »Zu den Waffen!« in den Hof liefen (Mats.3, 136), drangen ihre durch den Lärm aufmerksam gewordenen Begleiter in den Hof ein und riegelten das Tor gegen mögliche Hilfe von außen ab. Inzwischen diskutierten Thomas und seine Gefährten die voraufgegangenen Ereignisse. Einer seiner Berater, Johann von Salisbury, hielt dem Erzbischof vor, er hätte die ohnehin zu allem bereiten Ritter nicht unnötig provozieren sollen. Während einige auf die drohende Gefahr hinwiesen, entgegnete Thomas: »Wir müssen alle sterben, und wir dürfen nicht aus Angst vor dem Tod vom Recht abweichen. Ich bin eher bereit, für Gott sowie für Recht und Freiheit der Kirche Gottes den Tod auf mich zu nehmen, als jene es sind, mir diesen zuzufügen« (Mats.4, 74).
Inzwischen war es den Rittern gelungen, erneut in den Palast einzudringen. Zwar hatten zwei Diener die große Tür zur Halle verbarrikadiert, doch waren einige der Gegner mit ortskundigen Helfern von hinten durch ein Fenster in das Gebäude gelangt. Nachdem die Diener und die Geistlichen aus der Halle geflohen waren, hatten die Eindringlinge die große Tür wieder geöffnet und den vier Rittern und ihrer Begleitung den freien Zugang zu den erzbischöflichen Gemächern ermöglicht. Die Freunde des Erzbischofs rieten ihm nun auch zur Flucht. Thomas war aber nur dazu zu bewegen, den Palast zu verlassen, weil die Zeit für den Vespergottesdienst herangekommen war. Während die kleine Prozession der verängstigten Kleriker hinter dem Vortragekreuz des Erzbischofs durch den Kreuzgang in den Kathedrale zog, ließ er – wohl zum Schrecken seiner Begleiter – mehrfach anhalten, um sich zu vergewissern, dass alle in Sicherheit waren.
Im Chor der Kathedrale hatte die Messe der Mönche begonnen, und Einwohner der Stadt warteten im Kirchenschiff auf den Beginn des Gottesdiensts, während langsam die Dunkelheit einbrach. Die Mönche hatten angesichts des Lärms bereits um das Leben Beckets gefürchtet und begrüßten ihn erleichtert. Als sie die Kirche verbarrikadieren wollten, ließ er dies jedoch nicht zu. Kurz darauf kamen vom Kreuzgang her auch Reginald Fitzurse und die anderen Ritter in die Kathedrale, mit gezogenen Schwertern und Äxten in den Händen. Fitzurse rief: »Wo ist Thomas Beketh, Verräter an König und Reich?« und: »Wo ist der Erzbischof?« Dieser antwortete auf die zweite Frage: »Hier bin ich, nicht der Verräter des Königs, sondern Priester; was wollt ihr?« (Mats.2, 435; 4, 76). Erneut weigerte er sich, den exkommunizierten Bischöfen Absolution zu erteilen, und erklärte, er sei bereit zu sterben, doch solle man seine Gefährten schonen. Diese hatten sich allerdings – mit zwei Ausnahmen – ohnehin schon ängstlich versteckt. Daraufhin versuchten die Ritter, Thomas zu ergreifen und ihn auf den Rücken William de Tracys zu werfen, um ihn aus der Kirche zu bringen und dann zu töten oder auch nur gefangen zu nehmen. Dies scheiterte, doch waren die Angreifer nun nicht mehr zu halten. Reginald ging mit dem Schwert auf den Erzbischof los und griff nach seinem Mantel, wurde aber abgeschüttelt und fast umgeworfen. Zwei andere Ritter trafen Thomas mit flachen Klingen. Als sich Fitzurse wieder erhob, schlug er voller Zorn mit dem Schwert auf den Kopf des Erzbischofs, doch wurde die volle Wucht des Schlags noch einmal durch einen der Kleriker abgefangen, der sich ihm entgegenwarf. Als der Erzbischof aber in die Knie ging, hieben William de Tracy und Richard le Breton auf ihn ein, und er starb. Die triumphierenden Ritter verließen die Kirche und begannen, den erzbischöflichen Palast zu plündern. Zuerst suchten sie nur nach Briefen des Papstes und belastendem Material, dann aber nahmen sie auch alle Wertsachen mit. Einer von ihnen kehrte am nächsten Morgen noch einmal zurück, rief die Kleriker zusammen und drohte ihnen, den Leichnam den Hunden vorzuwerfen, wenn sie ihn nicht ohne Aufsehen bestatten würden. Diese waren unsicher über die Haltung des Königs und uneinig in der Bewertung Beckets. Nachdem der Leichnam über Nacht vor dem Hochaltar aufgebahrt worden war, wurde er deshalb angesichts der Drohungen rasch in der Krypta bestattet.
© Privat.
Die Ermordung Beckets musste den Zeitgenossen aus zwei Gründen ungeheuerlich erscheinen: einmal darum, weil das Opfer einer der höchsten Würdenträger der Kirche war, ein Erzbischof, zugleich der Primas von England, zum andern aber auch, weil der Mord auf geheiligtem Boden, in einer Kirche und vor einem Altar, stattfand. Ein Aufschrei der Empörung ging durch Europa, der sich selbst mit der Reaktion auf moderne Attentate wie die Ermordung Präsident Kennedys vergleichen lässt. Zugleich stellte sich die Frage nach der Schuld, vor allem – da die eigentlichen Täter ja bekannt waren – die Frage nach der Schuld des Königs, auf den sich die vier Ritter immer wieder berufen hatten. Um die Rolle Heinrichs II. besser verstehen zu können, muss zunächst geklärt werden, welches Motiv der König für ein Komplott gegen den Erzbischof gehabt haben konnte; und dafür bedarf es eines Überblicks über die lange Vorgeschichte.
Thomas Becket war der wohl 1120 geborene Sohn eines Londoner Kaufmanns normannischer Abstammung, d.h., Französisch war wahrscheinlich seine erste Sprache, anders als dies die – zugegeben, schön erfundene – Legende bei Meyer nahelegt. Der von ihm selbst nie benutzte Beiname »Becket« – er nannte sich Thomas von London – geht vielleicht auch auf einen Ort in der Normandie zurück. Die zumindest anfangs gute wirtschaftliche Lage der Familie erlaubte es, den Sohn nacheinander zur Ausbildung auf die Schule der Augustiner-Chorherren in Merton, auf Schulen Londons und dann sogar zum Studium nach Paris zu senden. Obwohl er daraus manchen Nutzen für seine spätere Karriere gezogen haben mag, war er in Paris wenig erfolgreich, vielleicht auch, weil er sich schon zuvor durch die Verbindung zu einem Adligen einen aristokratischen Lebensstil angewöhnt hatte. Einige Zeit nach seiner Rückkehr aus Paris trat er in den Haushalt eines Verwandten und Freundes der Familie ein, bei Osbert Huitdeniers (Achtpfennig), der als einflussreicher Londoner Bürger und »Bankier« enge Beziehungen zum königlichen Hof unterhielt. Bei ihm blieb Thomas etwa zwei Jahre, wohl von 1143 bis 1145, und lernte dort die kaufmännische Buchführung seiner Zeit. Unterstützt von seinem Vater, aber durch die Vermittlung Dritter, kam er dann in den Haushalt des Erzbischofs Theobald von Canterbury, der aus derselben Region der Normandie wie sein Vater stammte und möglicherweise sogar ein entfernter Verwandter war. Theobald hatte einen Kreis erfahrener und gelehrter Männer um sich versammelt, aus dem immerhin vier Erzbischöfe und sechs Bischöfe hervorgehen sollten; zudem stand er – in angelsächsischer Tradition – nominal als Abt der an der Kathedrale lebenden Mönchsgemeinschaft vor, mit der es jedoch immer wieder zu Spannungen kam. Thomas traf somit auf anregende Bedingungen, hatte jedoch zunächst gegenüber den älteren Beratern des Erzbischofs einen schweren Stand. Es gelang ihm dann aber, zu den engeren Vertrauten aufzusteigen, und er übernahm diplomatische Missionen unter anderem an die römische Kurie. Zu seiner Versorgung wurden ihm verschiedene kirchliche Ämter übertragen, so an den Kathedralkirchen der Bistümer London und Lincoln. 1154 berief ihn Theobald schließlich zum Archidiakon an der Kathedrale von Canterbury; dazu wurde er noch Propst von Beverley. Zu diesem Zeitpunkt hatte Thomas bereits die niederen geistlichen Weihen erhalten; vor seiner Erhebung zum Archidiakon war er dann zum Diakon geweiht worden. Obwohl er mit 34 Jahren bereits relativ alt war, stand ihm damit eine weitere kirchliche Karriere offen.
Doch nun griff mit dem kurz zuvor auf den Thron gelangten Heinrich II. die konkurrierende Macht des Königtums entscheidend in sein Leben ein. Der junge, erst 22-jährige, König musste darangehen, die Folgen des langjährigen, bitteren Bürgerkriegs unter seinem Vorgänger Stephan zu beseitigen, und Erzbischof Theobald wollte verhindern, dass sich dies zum Nachteil der Kirche vollzog. So wurde Thomas auf seinen Vorschlag hin Ende 1154 oder im Januar 1155 zum königlichen Kanzler berufen. Daraus entwickelte sich nach anfänglichen Problemen eine enge persönliche Beziehung zwischen den ihrer Herkunft nach so unterschiedlichen Männern. Thomas, der sein Archidiakonat in Canterbury behielt und durch Vertreter verwalten ließ, führte seinen schon zuvor recht weltlichen Lebensstil am königlichen Hof weiter und fand schließlich auch an der Beteiligung an militärischen Unternehmungen Gefallen; Heinrich wurde durch das Auftreten und die persönlichen Qualitäten seines Kanzlers angezogen. Ausgestattet mit weiterem Grundbesitz, begründete Thomas einen eigenen Haushalt, in den die großen Adligen Englands und Frankreichs ihre Söhne zur Ausbildung entsandten; 1162 wurde ihm sogar der Sohn und Erbe des Königs, der jüngere Heinrich, anvertraut. Etliche Ritter leisteten ihm Lehenseide, darunter drei seiner späteren Mörder. Seine finanziellen Möglichkeiten gingen so weit, dass er dem König einmal drei Schiffe schenken konnte, die er zuvor bauen und ausrüsten ließ. Ungeachtet seines großzügigen Umgangs mit weltlichen Gütern blieb er wohl jedoch grundlegenden Normen einer geistlichen Lebensführung verpflichtet, anders als dies zum Teil in der modernen dichterischen Rezeption dargestellt wird.
Thomas lebte von seiner Berufung zum Kanzler bis zum Mai 1162 fast ohne Unterbrechung am Hof Heinrichs II. Dies bedeutet, dass er sich vorwiegend in Frankreich aufhielt, in den mit dem französischen Königtum umkämpften Besitzungen Heinrichs, d.h. in der Normandie, Anjou und Aquitanien; zugleich musste er damit den rastlosen Zügen des Königs folgen, der, temperamentvoll und energisch, seinen Hof von früh bis spät in Bewegung hielt. Längere Zeit in England verbrachte Heinrich nur am Anfang seiner Regierung, als er die innere Ordnung des Landes wiederherstellen musste, und 1157/58. Thomas nahm dabei zunächst auf die königliche Politik nur geringen Einfluss, sondern war im Wesentlichen nur für die Ausfertigung der Schriftstücke zuständig; in England beteiligte er sich aber auch an der königlichen Finanzverwaltung und fungierte gelegentlich als Richter; dabei vertrat er die Interessen des Königs auch gegenüber geistlichen Institutionen. Als Heinrich II. 1159 im Rahmen einer allgemeinen Erhebung von Subsidien als Ersatz für Kriegsdienste auch die Bischöfe und Klöster in großem Umfang heranzog, machten die empörten Prälaten dem Kanzler den Vorwurf, er hätte die Kirche vor Abgaben schützen müssen. Möglicherweise hatte er tatsächlich zumindest für eine Befreiung Canterburys und Rochesters gesorgt, doch war andererseits die Anregung für die Abgaben wahrscheinlich von ihm selbst ausgegangen. Diese Beteiligung an der Steuererhebung für Heinrichs Kriege in Frankreich stellte später dann auch Beckets Biografen vor Probleme.
Im April 1161 starb Erzbischof Theobald von Canterbury, und Thomas wurde die Verwaltung der weltlichen Besitzungen der Erzdiözese übergeben. Heinrich II., der anders als die durch den Investiturstreit in ihren Möglichkeiten eingeschränkten kontinentalen Herrscher weitgehenden Einfluss auf die englische Kirche besaß, zögerte jedoch die Entscheidung über eine Neubesetzung noch hinaus. Die Tradition forderte die Berufung eines Mönchs, wie auch Theobald aus der normannischen Abtei Bec nach Canterbury gekommen war. Ein möglicher Kandidat war deshalb Gilbert Foliot, Bischof von Hereford und Cluniazenser, dessen Erhebung wegen seiner strengen Lebensführung und seines schwierigen Charakters wohl aber auch von der englischen Kirche nicht begrüßt worden wäre. Vielleicht hatte deshalb schon der verstorbene Erzbischof den Kanzler, Thomas Becket, als seinen Nachfolger vorgesehen. Einen ersten Hinweis auf die Möglichkeit seiner Erhebung zum Erzbischof von Canterbury könnte Thomas schon im Januar 1162 erhalten haben, doch wurden Heinrichs Absichten erst offenkundig, als er im April den Kanzler und eine Reihe wichtiger Prälaten nach England schickte, um die englischen Großen zu einer Lehenshuldigung für seinen Sohn zu bewegen: Zugleich sollten seine Gesandten nämlich für die Wahl von Thomas sorgen, und der jüngere Heinrich wurde bevollmächtigt, seinen Vater bei der Erhebung des Erzbischofs zu vertreten. Thomas war zunächst nicht bereit, das Amt zu übernehmen, und soll dem König geantwortet haben: »Was für einen gottesfürchtigen und heiligen Mann willst du auf diesen Stuhl setzen! Du wirst zweifellos die Erfahrung machen: Wenn durch Gottes Fügung diese Entscheidung fällt, wirst du dich rasch von mir abwenden. Unsere Freundschaft, die jetzt so eng ist, wirst du in erbitterten Haß verwandeln« (Mats.3, 181; Th.v.F., 3033). Heinrich gab jedoch nicht nach, und schließlich ließ sich Thomas überzeugen. Noch im Mai wurde er gewählt, zuerst durch die Mönche der Kathedrale von Canterbury, dann durch eine Synode der Bischöfe, Äbte, Prioren und weltlichen Amtsträger in Westminster.
Der König hatte sich durch die Erhebung seines Kanzlers eine stärkere Einbindung der Kirche erhofft, doch sollte es bald gerade wegen der Frage weltlichen Einflusses auf die Kirche zum Konflikt mit dem Erzbischof kommen. Ein erstes Anzeichen bot schon die Wahlsynode in Westminster: Als dort Bedenken gegen die weltliche Stellung des Gewählten erhoben wurden, forderte der Bischof von Winchester im Namen der Geistlichkeit, Thomas von allen weltlichen Verpflichtungen zu befreien. Dies wurde schließlich durch den Sohn des Königs auch gewährt. Es ist unklar, was damit im Einzelnen gemeint war, eine Befreiung von weltlichen Lasten oder auch von Ämtern. Nach der Priesterweihe, der Weihe zum Erzbischof und dem Empfang des vom Papst gewährten Palliums war jedoch für Thomas nichts mehr wie zuvor. Er nahm mehr und mehr eine geistliche Lebensführung an, und innerhalb kurzer Zeit hatte er das Amt des Kanzlers niedergelegt – die vom König gewünschte Verbindung der beiden Ämter ließ sich nicht aufrechterhalten. Zuerst blieb das Verhältnis zwischen Heinrich und Thomas freundlich, noch auf einer Synode in Tours im Mai 1163. Im Juli kam es aber zu ersten Spannungen, unter anderem über die Bestrafung eines Kanonikers aus Lincoln, der im Verdacht stand, einen Ritter ermordet zu haben, aber von einem geistlichen Gericht freigesprochen worden war. Als der Fall vor den König gebracht wurde und dieser eine neue Verhandlung forderte, zog der Erzbischof den Fall an seinen Gerichtshof. Wieder wurde der Kleriker vom ursprünglichen Vorwurf freigesprochen, diesmal jedoch wegen der dabei geäußerten Beleidigung eines königlichen Richters exiliert, sehr zum Unwillen des Königs, der eine strenge Verurteilung gefordert hatte.
Die Folge war, dass der Konflikt um die geistliche Immunität auf der Synode zu Westminster im Oktober 1163 offen ausbrach. Eigentlich sollte die Frage des Verhältnisses der beiden Erzbistümer Canterbury und York behandelt werden, doch dann lenkte Heinrich die Debatte auf das Problem der von Klerikern verübten Verbrechen. Diese müssten mit derselben Härte wie die Verbrechen von Laien bestraft werden, ein Verlust der Weihen und Klosterhaft reiche nicht aus, und im Übrigen stehe es allein dem König zu, jemanden ins Exil zu schicken. Überdies leitete er aus kirchenrechtlichen Bestimmungen die Forderung ab, dass ein von einem geistlichen Gericht verurteilter Kleriker anschließend dem königlichen Gericht zur Bestrafung zu übergeben sei. Dies berührte das lange zwischen weltlichen und geistlichen Institutionen umkämpfte Recht eines eigenen geistlichen Gerichtsstands, die Frage des privilegium fori, das in England später als auf dem Kontinent durchgesetzt worden war. Der Erzbischof und die anderen Bischöfe antworteten unter Hinweis auf die umfangreichen rechtlichen Grundlagen des privilegium fori und betonten, dass sich ein degradierter Geistlicher nur für seine späteren, nicht aber für seine früheren Untaten vor dem weltlichen Gericht verantworten müsse. Zudem hoben sie das Recht der Bischöfe hervor, die Strafe des Exils oder einer Buß-Pilgerfahrt verhängen zu können. Durch diesen Widerspruch geriet Heinrich in Wut und ließ sich auf keine weitere Debatte ein, sondern fragte die Bischöfe, ob sie bereit wären, das königliche Gewohnheitsrecht einzuhalten. Thomas bejahte dies mit Unterstützung aller, fügte aber einschränkend hinzu, »unter Wahrung seines (geistlichen) Standes« (Mats.3, 273). Dies war dem König zu wenig, er wollte uneingeschränkte Zustimmung, sodass die Synode abrupt endete. Bevor Heinrich am nächsten Morgen London verließ, forderte er vom Erzbischof alle von ihm noch aus seiner Zeit als Kanzler verwalteten weltlichen Besitzungen zurück.
Thomas war sich nicht sicher, wie er sich gegenüber der Forderung Heinrichs, das königliche Gewohnheitsrecht zu akzeptieren, verhalten sollte, und da die Bischöfe nicht mehr hinter ihm standen und auch Papst Alexander III. zur Mäßigung riet, suchte er den Ausgleich. Als er sich aber gegenüber dem König zur uneingeschränkten Anerkennung bereitfand, forderte dieser ein öffentliches Bekenntnis des Erzbischofs auf einer Versammlung der Barone und Bischöfe. Dazu kam es im Januar 1164 in Clarendon, einem Jagdhaus des Königs bei Salisbury. Als Thomas sein Zugeständnis wiederholt und auch die anderen Bischöfe zur Zustimmung bewegt hatte, trat eine nicht erwartete Entwicklung ein: Heinrich ordnete nämlich daraufhin an, die gewohnheitsmäßigen königlichen Rechte schriftlich niederzulegen. So entstanden 16 Artikel, die sogenannten »Konstitutionen von Clarendon«, von denen zumindest sechs Kontroversen auslösen mussten. Danach sollten gewisse rechtliche Streitigkeiten auch unter Beteiligung Geistlicher vor dem königlichen Gericht verhandelt werden; dem Klerus wurde untersagt, ohne Erlaubnis des Königs das Land zu verlassen (etwa für eine Reise zum Papst); Appellationen an die Kurie sollten unterbunden werden; die Exkommunikation königlicher Lehens- und Amtsträger bedurfte der Zustimmung des Königs, wie die Wahl der Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte und Prioren unter der Ägide des Königs stattzufinden hatte. Diese Bestimmungen waren keine Erfindung Heinrichs und seiner Berater, sondern gingen auf von den normannischen Königen Englands seit 1066 tatsächlich wahrgenommene Rechte zurück. Zugleich widersprachen sie aber der seit Längerem geübten Praxis und der Entwicklung des Kirchenrechts seit dem Investiturstreit. Mit der schriftlichen Fixierung des königlichen Gewohnheitsrechts war Heinrich somit einen Schritt zu weit gegangen; der Klerus konnte diese Formulierungen nicht akzeptieren. Thomas nahm zwar seine Kopie der Konstitutionen entgegen, besiegelte sie jedoch nicht, sondern erbat sich Bedenkzeit; der von Heinrich um Bestätigung gebetene Papst folgte dieser Aufforderung nur für wenige, unstrittige Klauseln.
Damit trat zunächst Ruhe ein, bis falsche Anschuldigungen eines Lehnsträgers dem König den Vorwand zum Vorgehen gegen den Erzbischof lieferten. Auf der Synode von Northampton im Oktober 1164 ließ er Thomas zunächst wegen Verletzung seiner feudalen Pflichten verurteilen, um dann Klage auf Klage gegen ihn vorzubringen. Der Erzbischof wurde von einem Teil der Bischöfe, unter anderem vom inzwischen zum Bischof von London erhobenen Gilbert Foliot, gedrängt, auf sein Amt zu verzichten, doch hätte dies bedeutet, die Berechtigung der Vorwürfe des Königs einzugestehen und sich dessen Strafen ohne Schutz auszusetzen – Gefängnis war das wenigste, das ihm dann drohte. Thomas entschloss sich, auszuharren, und appellierte – gegen die »Konstitutionen von Clarendon« – an den Papst. Die Appellation steigerte den Zorn Heinrichs, und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. Die unter sich zerstrittenen Bischöfe weigerten sich, sich an einer Verurteilung des Erzbischofs zu beteiligen, und wurden vom König schließlich davon aufgrund des Versprechens befreit, beim Papst die Absetzung von Thomas zu erwirken. Die Barone befanden dann zwar den Erzbischof des Hochverrats für schuldig, doch wurde die Strafe – wohl lebenslange Haft – nicht verkündet, weil sich keiner dazu bereitfinden wollte und Thomas schließlich während des nun entstehenden Tumults die königliche Burg verlassen konnte. Um Mitternacht ritt er aus Northampton und floh dann, in wechselnden Verkleidungen, aus England.
Damit begann für den Erzbischof die sechs Jahre, von 1164 bis 1170, währende, bittere Zeit des Exils. Einer der Gründe für die lange Frist bis zur vorläufigen Regelung der Probleme war die schwierige Lage des Papstes, den beide Seiten um eine Entscheidung angingen. Alexander III. lag im Streit mit dem Kaiser, Friedrich I. Barbarossa, der in den Auseinandersetzungen um die Stellung von Papsttum und Kaisertum nacheinander mehrere Gegenpäpste unterstützte. Der Papst, der deshalb 1162 nach Frankreich gekommen war, brauchte die Hilfe Heinrichs II., auch wenn er die ihm von Thomas nochmals vorgetragenen »Konstitutionen von Clarendon« entschieden ablehnte. Er lavierte deshalb zwischen den Parteien und griff nur ein, wenn Heinrich mit dem Übergang zum Gegenpapst drohte, wie 1166, als der Erzbischof die Helfer des Königs exkommuniziert hatte. Zunächst konnte auch Heinrich auf Zeit spielen, hätte doch etwa der Tod des Erzbischofs – oder der des Papstes – zu einer völlig neuen Lage führen können. Dann jedoch sah er sich gezwungen, seinen Sohn, den jüngeren Heinrich, zum König krönen zu lassen, um die Herrschaft seiner Familie abzusichern. Diese Krönung konnte jedoch im Prinzip nur der Erzbischof von Canterbury, also Becket, vornehmen. Deshalb kam es schließlich im Januar 1169 zu einer Begegnung zwischen Heinrich und Thomas, bei der dieser vor dem König erklärte: »In der ganzen Sache, die zwischen Euch und mir steht, mein Herr, unterwerfe ich mich Eurer Gnade und Eurem Willen …«, dann aber hinzufügte: »unter Wahrung der Ehre Gottes« (Mats.3, 423) – eine Formulierung, die in den Titel von Anouilhs Becket-Drama Eingang fand. Damit waren die Verhandlungen ebenso gescheitert wie danach im Dezember 1169, als Heinrich nicht bereit war, den von Thomas für das formale Ende der Feindseligkeiten geforderten Friedenskuss zu leisten.
Beide Seiten waren mittlerweile jedoch der Auseinandersetzungen müde. Als Heinrich seinen Sohn im Juni 1170 durch den Erzbischof von York krönen ließ, reagierte der Papst damit, dass er Thomas die Vollmacht erteilte, die Beteiligten an der Krönung zu exkommunizieren, königstreue Bischöfe zu suspendieren und über England das Interdikt zu verhängen, also alle geistlichen Handlungen zu untersagen. Bevor dies wirksam wurde, leitete der König von sich aus Verhandlungen ein, die sehr schnell zu einem Ergebnis führten, als er Thomas die erneute Krönung des jüngeren Heinrich versprach. Der König fand sich auch mit einer Bestrafung der dem Erzbischof widerstehenden Bischöfe ab; zugleich wurden Regelungen über die Rückgabe der dem Erzbistum zustehenden Güter getroffen. Im Juli 1170 begegneten sich Erzbischof und König bei Fréteval mit »einer so großen Vertrautheit …, als wenn niemals zwischen uns irgendeine Zwietracht gewesen wäre«, wie Becket an den Papst schrieb (Mats.7, 327).
Der Erzbischof wollte erst nach Canterbury zurückkehren, wenn die komplizierten Fragen der Rückgabe seines Besitzes geklärt waren, sodass zunächst einige Zeit verging. Thomas war sich offenbar auch unschlüssig, wie er sich gegenüber seinen Gegnern unter dem Klerus verhalten sollte, und bat zunächst den Papst um die Ausfertigung einzelner Bullen, um dann je nach dem Verhalten der Bischöfe entscheiden zu können. Am Vorabend seiner Abreise aus Frankreich im November 1170 entschied er sich jedoch anders und exkommunizierte aufgrund der päpstlichen Vollmacht den Erzbischof von York und die Bischöfe von London, Gilbert Foliot, und von Salisbury, die die Krönung Heinrichs des Jüngeren vorgenommen hatten. Hatte schon die noch immer nicht abgeschlossene Rückgabe der Besitzungen Canterburys zu Verbitterung in England geführt, die sich schon bei seiner Landung in Sandwich beinahe in einem Übergriff entlud, musste Thomas nun endgültig auch mit feindlicher Stimmung im englischen Klerus rechnen. Als sich die Exkommunizierten mit der Bitte um Absolution an ihn wandten, war er nur gegenüber den Bischöfen von London und Salisbury zum Entgegenkommen bereit; der Erzbischof von York sollte sich an den Papst wenden. Die drei Geistlichen reisten daraufhin zu Heinrich II. in die Normandie und berichteten ihm über ihre Begegnung mit Thomas. Nicht so sehr die Nachricht der Exkommunikation, die dem König wohl schon bekannt war, als vielmehr der Bericht über das Verhalten Thomas’, der angeblich an der Spitze einer Schar von Rittern durch das Land zog, führte zu einem Wutausbruch Heinrichs. Wohl, als einer der Bischöfe sagte: »Solange Thomas lebt, Herr, werdet ihr keine guten Tage haben, noch ein friedliches Königreich, noch ruhige Zeiten« (Mats.3, 128), soll er sein Gefolge als Feiglinge beschimpft und geschrien haben: »Wie könnt Ihr es geduldig zulassen, daß ich so lange von einem gemeinen Kleriker verspottet werde!« (Mats.4, 69; 1, 122). Ob er so oder anders seinem Zorn Luft machte, auf jeden Fall verstanden dies vier seiner Ritter als Aufruf zum Handeln. William de Tracy, Reginald Fitzurse, Hugh de Morville und Richard le Breton reisten unbemerkt vom Hof des Königs ab, um gegen den Erzbischof vorzugehen. Was dann folgte, ist bereits geschildert worden.
Angesichts der damit umrissenen Vorgeschichte des »Mords im Dom« stellt sich die Frage nach der Beurteilung der jeweiligen Schuld neu. Unbezweifelbar ist die Tat der Ritter, auch wenn es zunächst wohl nicht ihre Absicht war, den Erzbischof zu töten, und ein guter Anwalt auf Totschlag im Affekt plädieren könnte. Tatsächlich wurden sie alle nur mit schweren Bußen belegt und hatten unter anderem an einem Kreuzzug oder einer Pilgerfahrt ins Heilige Land teilzunehmen, vielleicht sogar für 14 Jahre; sie wurden also – anders als vielleicht zu erwarten – nicht zum Tode verurteilt. Sie oder ihre Nachkommen trugen vielmehr sogar zu den vielen frommen Stiftungen zur Ehre des heiligen Thomas von Canterbury bei.
Schwieriger ist dagegen die Schuld des Königs zu bestimmen. Schon 1166, bei der Exkommunikation seiner Vertrauten, hatte er einen ähnlichen »angevinischen« Wutausbruch wie zu Weihnachten 1170, nur dass sich niemand fand, ihn von »den Belästigungen durch einen Mann zu befreien« (Mats.5, 381). Sein Verhalten hat – soweit wir es aus den Quellen wissen – mit einem Mordauftrag wenig gemein, und Schuld am Tod des Erzbischofs trifft ihn insofern vor allem, weil er sich zu wenig unter Kontrolle hatte. Diese Schuld hat er auch selbst eingestanden und sich im Mai 1172 den päpstlichen Bedingungen für eine Buße unterworfen, nachdem er sich – auch vor den bald nach der Tat eintreffenden päpstlichen Legaten – für längere Zeit nach Irland zurückgezogen hatte. Zu den von Heinrich geforderten Zugeständnissen gehörte die Ausrüstung von 200 Rittern für das Heilige Land, die Teilnahme an einem Kreuzzug, die Rückgabe der Besitztümer des Erzbistums von Canterbury an die Kirche, die Erlaubnis kirchlicher Appellationen an Rom und der Verzicht auf die der Kirche schädlichen Bestimmungen des königlichen Gewohnheitsrechts. Im Juli 1174 leistete der König schließlich noch Buße am Grab des inzwischen auf Initiative seiner ehemaligen Gefährten heiliggesprochenen Erzbischofs: Nach einer am Grab durchwachten Nacht bat er um Verzeihung und ließ sich von Mönchen der Kathedrale geißeln. Allerdings bedeutete das Einlenken Heinrichs nur bedingt einen Sieg der geistlichen über die weltliche Gewalt, denn in Bezug auf die faktisch recht starke Stellung des Königtums gegenüber der englischen Kirche änderte sich nur wenig. Die gesamte »Becket-Kontroverse« war entgegen der Deutung T. S. Eliots, die im eingangs zitierten Plädoyer der Ritter fassbar wird, etwas anderes als eine moderne Konfrontation von »Staat« und »Kirche«, etwas anderes als etwa der Bismarck’sche Kulturkampf. Es ging weniger um die Trennung der beiden Gewalten als vielmehr um die Frage der Vorherrschaft in beiden, selten klar zu trennenden Sphären. Wenn die Könige die Wahl von Bischöfen und Äbten kontrollieren wollten, interessierte sie weniger deren geistliche als deren weltliche Stellung, denn Bischöfe und Äbte waren zumeist nicht nur bedeutende Grundherren, sondern spielten wie der Adel im Lehnswesen eine zentrale Rolle. Es gehört in diesen Zusammenhang, dass Heinrich Romreisen und Appellationen an den Papst zu unterbinden und die geistliche Gerichtsbarkeit einzuschränken suchte, um die Geistlichen stärker an das Königtum und seine Interessen anzubinden. Heinrichs Haltung gegenüber der Kirche muss im Kontext seiner Bemühungen um die Reform von Recht und Verwaltung Englands gesehen werden. Nach den Wirren unter seinem Vorgänger Stephan stellte er, unterstützt von fähigen Ratgebern, die starke Position des englischen Königtums wieder her und schuf die Grundlagen für die weitere Entwicklung der englischen Verfassung. Die Auseinandersetzung mit dem Erzbischof ließ jedoch seine dunklen Seiten hervortreten. Dass Thomas nun entschieden für kirchliche Prinzipien eintrat, traf ihn – angesichts der vorherigen Bindung – vor allem persönlich. Die daraus erwachsende, leidenschaftliche Feindseligkeit hinderte ihn lange daran, einen vernünftigen Kompromiss zu suchen, und erklärt wohl noch den Ausbruch, der zum Anschlag führte.
Es muss in diesem Zusammenhang aber auch erlaubt sein, nach einer »Schuld« des Opfers zu fragen. Wie Heinrich II. entschieden auf den Rechten des Königtums bestand, beharrte Thomas Becket unversöhnlich auf den Rechten der Kirche, nachdem er endgültig die Seiten gewechselt hatte. Dabei folgte er, ähnlich wie Heinrich, älteren Vorbildern, den Kirchenreformern, die die Kirche seit der Zeit des Investiturstreits, seit dem 11. Jahrhundert, aus dem weltlichen Zugriff lösen wollten, um sie den ursprünglichen Idealen näherzubringen. Ihre Erfolge, fassbar u.a. im Wormser Konkordat von 1122, waren durch Heinrichs Vorgehen bedroht. Wenn der Erzbischof darin nicht von allen englischen Bischöfen unterstützt wurde, so auch nicht vom in seiner Lebensführung vorbildlichen und begabten Bischof von London, Gilbert Foliot, war dies auch eine Folge der schwierigen Charaktere, die hier aufeinandertrafen. Foliot sah sich durch die Wahl von Thomas zum Erzbischof zurückgesetzt und stellte sich deshalb mit aller Energie auf die Seite des Königs; auf der anderen Seite gehörten Kompromissbereitschaft und Flexibilität nicht zu den Charakterzügen Beckets. Die Haltung des Erzbischofs war allerdings durch eine gewisse Unberechenbarkeit gekennzeichnet, die gelegentlich zu abrupten Änderungen seiner Politik führte, mit denen niemand – nicht einmal der Kreis seiner Berater – gerechnet hatte. Das spiegelt sich auch in seinem Konflikt mit Heinrich II.: So überraschend wie der Ausgleich mit dem König war die – nach langem Zögern aufblitzende – plötzliche Härte, mit der er diejenigen Bischöfe verfolgte, die die Krönung des jüngeren Heinrich betrieben hatten. Wenig kompromissbereit war er daneben z.B. gegen jene, die den Besitz seiner Kirche nicht herausgeben wollten: Noch nach seiner Predigt am Weihnachtstag 1170 verkündete er gegen sie kirchliche Strafen. Mangelnde Flexibilität zeigt dann schließlich auch sein Verhalten am Tag des Mordes: Vorsichtige Mäßigung der erregten Angreifer oder auch Flucht kam für ihn nicht infrage, selbst wenn die Kirche und die leicht zu erreichende Krypta vielfachen Schutz geboten hätten, bis Hilfe von außen herbeigerufen worden wäre. Er vertraute auf die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidungen – und vielleicht auch auf die Unangreifbarkeit seiner Person. Ob er am Ende das Martyrium gesucht hat, muss fraglich bleiben; sicher trug aber sein Verhalten zu seinem Tod bei.
Es war dann aber dieses gewaltsame Ende, nicht sein Eintreten für die »Freiheit« der Kirche, das Thomas zum Heiligen machte. Fast ebenso schnell, wie sich die Nachricht und der Schock über seinen Tod im christlichen Europa verbreiteten, wurden erste Wunder von seinem Grab berichtet. Bereits sechs Tage nach dem Mord, am 4. Januar 1171, gewann eine arme Frau namens Britheva ihr Augenlicht zurück, nachdem ihr einer der Lappen aufgelegt worden war, mit denen das Blut des Märtyrers entfernt wurde. Bald darauf verspürte ein Kleriker mit gelähmter Zunge Besserung, nachdem er eine Nacht am Grab verbracht hatte und mit Blut behandelt wurde. Das Blut des Märtyrers oder mit Blut getränkte Stücke Stoff wurden schon bald wie Reliquien gesammelt, auch wenn die Mönchsgemeinschaft an der Kathedrale angesichts der theologischen und praktischen Probleme dieser Form von Verehrung zunächst nur zurückhaltend reagierte. Wenn Canterbury im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einem der wichtigsten mittelalterlichen Wallfahrtszentren wurde – vergleichbar, wenn auch nicht ganz so bedeutend, wie Santiago de Compostela oder Rom, lag dies an der breiten Unterstützung, die die Verehrung des heiligen Thomas von Canterbury überall fand; neben Ludwig VII. von Frankreich trug später auch Heinrich II. selbst zum Kult bei. Wie kaum einer der »neuen« Heiligen des Mittelalters wurde Thomas in allen Regionen der lateinischen Christenheit verehrt. Frühe bildliche Darstellungen (bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts) finden sich so nicht nur in England, sondern in Sens und Chartres, in Monreale, Anagni und Spoleto sowie in Braunschweig; seine Verehrung im skandinavischen Raum bezeugt die um 1200 angefertigte Übersetzung einer der zahlreichen englischen Lebensbeschreibungen ins Alt-Isländische. Erst ein anderer Heinrich – Heinrich VIII. – sollte in der Reformationszeit mit dem Befehl zur Zerstörung des Schreins der Verehrung Thomas Beckets ein Ende bereiten.