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V.

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Es ist davon auszugehen, dass Hitler Japan als Gegengewicht gegen die beiden angelsächsischen Mächte, insbesondere die USA, in Stellung bringen wollte, hingegen nicht als Bundesgenossen beim geplanten Angriff auf die Sowjetunion. Die politische wie militärische Führung des „Dritten Reichs“ stimmte unisono darin überein, dass ein rascher Sieg der Wehrmacht im Osten im Laufe des Jahres 1941 aus eigener Kraft zu erreichen sei. Der fest eingeplante militärische Erfolg im Osten, so das Kalkül, würde entscheidend dazu beitragen, japanische Bedenken gegen einen Kriegskurs im pazifischen Raum beiseite zu räumen, da Japan an der gemeinsamen Grenze seines Einflussbereichs mit der Sowjetunion (Korea, Mandschukuo) durch das deutsche Vorgehen im Osten militärisch entlastet worden wäre. Infolgedessen formulierte Hitlers Weisung Nr. 24 vom 5. März 1941 „über Zusammenarbeit mit Japan“ als Ziel, „Japan so bald wie möglich zum aktiven Handeln im Fernen Osten zu bringen“.44 Allerdings waren Hitler insofern die Hände gebunden, als er sich mit der Rolle eines passiven Beobachters des innerjapanischen Ringens um die richtige Strategie abzufinden hatte. Im komplexen japanischen Herrschaftssystem stritten verschiedene Fraktionen um den richtigen außenpolitischen Kurs, wobei allen Beteiligten klar war, dass die Eröffnung eines Kriegs gegen die USA und Großbritannien ein Sprung ins Dunkel war.

Insofern konnte die deutsche Seite bis in den Herbst 1941 nicht genau einschätzen, ob die seit April 1941 geführten Verhandlungen zwischen amerikanischen und japanischen Vertretern möglicherweise doch in ein Arrangement Japans mit den USA münden würden, womit aus Hitlers Sicht das denkbar schlechteste Szenario Wirklichkeit geworden wäre. Wie undurchsichtig die japanische Politik von deutscher Warte aus wirkte, wurde beim Besuch des japanischen Außenministers Matsuoka in Berlin im Frühjahr 1941 überdeutlich. Die deutsche Seite war verstimmt, dass Matsuoka wenige Tage nach seinem zweiten Besuch in Berlin in Moskau am 13. April 1941 ein Neutralitätsabkommen mit der Sowjetunion abschloss und damit wenige Wochen vor dem geplanten deutschen Angriff auf die Sowjetunion ein nicht zu übersehendes Signal setzte, dass Japan seinen außenpolitischen Kurs an eigenen Machtinteressen ausrichtete.45 Es war die unkalkulierbare Haltung Japans, die Hitler dazu bewog, noch im Frühjahr 1941 in Hinsicht auf die USA einen Kurs zu steuern, der auf alle aggressiven Schritte gegen den heimlichen Hauptverbündeten Großbritanniens verzichtete.

In diesem Kontext ist ein Eintrag im Tagebuch von Walther Hewel vom 22. Mai 1941 von Interesse. Hewel fungierte als Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes im Führerhauptquartier und war dasjenige Mitglied des Auswärtigen Amts, das am häufigsten mit Hitler außenpolitische Fragen besprach. Er besaß darüber hinaus noch eine einzigartige Vertrauensstellung, da er als 19-Jähriger als Angehöriger des „Stoßtrupp Hitler“ am Hitler-Putsch 1923 teilgenommen hatte.46 Hewels Tagebuch, von dem anscheinend nur die Eintragungen aus dem Jahr 1941 überliefert sind, zählt zu den aussagekräftigsten Quellen für die Genese von „Hitlers Strategie“. Hewel notierte unter dem 22. Mai 1941: „Führer schwankt noch in Haltung zu Amerika, da ‚man nicht in die Seele Roosevelts sehen könne‘. Will er Krieg, so findet er jedes Mittel, auch wenn juristisch wir im Recht. Japan ausschlaggebend. Wenn selbst noch schwankend, ist es besser, U.S.A. aus Krieg zu halten“.47

Im Sommer 1941 verstärkte sich Hitlers Unmut darüber, dass sich Japan nicht in die Karten blicken und seine Haltung gegenüber den USA weiterhin im Unklaren ließ.48 Dabei hatte sich die strategische Lage der beiden Verbündeten durch den deutschen Angriff auf die Sowjetunion nach Hitlers Lesart eigentlich wesentlich verbessert – vorausgesetzt, man teilte den Optimismus Hitlers, dass der Krieg im Osten praktisch schon gewonnen sei. Mit diesem Kernargument – „Der russische Krieg sei gewonnen“49 – umwarb Hitler das zögernde Japan, um es zum Krieg gegen die USA zu ermuntern und ließ dabei schon Mitte Juli 1941 keinen Zweifel daran, dass Japan hierbei auf die militärische Unterstützung des Reichs zählen könnte. Doch die japanische Führung ließ sich dadurch nicht beeindrucken, zumal zu dieser Zeit gerade eine heftige interne Auseinandersetzung tobte, der am 16. Juli 1941 Außenminister Matsuoka zum Opfer fiel.50 Das Schlüsselargument von dem scheinbar unmittelbar bevorstehenden Sieg im Osten hatte bei Hitler jedoch nicht ausgedient und sollte im Oktober 1941 in Hinsicht auf Japan erneut eingesetzt werden.

Doch bis dahin hatten die USA mit der Proklamation der „Atlantik-Charta“ einen Schritt unternommen, der aus Hitlers Sicht nur eine weitere politische Provokation darstellte und damit einen Kriegseintritt der USA in absehbarer Zukunft noch wahrscheinlicher machte. Am 14. August 1941 hatten sich Roosevelt und der britische Premierminister Churchill bei einem gemeinsamen Treffen vor der Küste Neufundlands auf einen Acht-Punkte-Katalog geeinigt, der in Anknüpfung an die 14 Punkte Wilsons vom Januar 1918 die Prinzipien einer Weltfriedensordnung „after the final destruction of the Nazi tyranny“ fixierte. Dass die neutralen Vereinigten Staaten in diesem Programm ganz offiziell die Zerstörung der NS-Herrschaft zu einem moralisch gebotenen Anliegen erklärten, unterstreicht nicht nur, wie sehr Roosevelt den Kampf gegen den menschenverachtenden Nationalsozialismus auf seine Fahnen geschrieben hatte; es legte zugleich offen, dass Roosevelt fest entschlossen war, sein Land militärisch so rasch wie möglich zur Befreiung Europas vom Nationalsozialismus in Stellung zu bringen.

Bei der deutschen Reaktion auf die Atlantik-Charta ist zwischen einer propagandistischen und einer politischen Beurteilung zu unterscheiden. Propagandaminister Goebbels betrachtete diese Erklärung allein unter propagandistischen Aspekten, nämlich als einen Versuch der angelsächsischen Mächte, im Geiste Wilsons moralische Gewinne in der neutralen Weltöffentlichkeit einzufahren – eine Absicht, die aus Goebbels Sicht nur ein „Riesen-Propagandabluff“51 sein konnte. In diesem Tenor gehalten war denn auch der Artikel, den Goebbels im „Völkischen Beobachter“ am 17. August 1941 veröffentlichte.52

Es wäre jedoch ein vorschneller Schluss, daraus die These abzuleiten, dass die gesamte deutsche Presse die Atlantik-Charta als Propagandamanöver abgetan hätte. Selbst im „Völkischen Beobachter“ hatte Kommentator Heinz Höpf’l bereits am 16. August zwar die anglo-amerikanische Deklaration als politische Träumerei abgetan, immerhin aber die deutschen Leser doch darüber informiert, dass die „Vernichtung der Nazityrannei“ in diesem Programm enthalten sei.53 Und dieselbe Nummer des NS-Zentralorgans, in der Goebbels Hohn und Spott über die Atlantik-Charta ausgoss, machte die Juden als treibende Kraft hinter der Atlantik-Charta aus und deutete die Deklaration der angloamerikanischen Staatsmänner als weiteren Beleg für den jüdischen Vernichtungswillen gegen Deutschland.54

Alle Anzeichen sprechen dafür, dass diese Lesart der Atlantik-Charta der Auffassung Hitlers entsprach. Hitler leitete daraus nicht weniger als drei gravierende Konsequenzen ab: Erstens folgte für ihn aus dieser moralischen Kriegserklärung der USA, dass deren militärischer Kriegseintritt noch schneller als vermutet erfolgen würde. Zweitens beinhaltete seine rassenideologische Interpretation der Atlantik-Charta als sichtbarster Ausdruck einer jüdischen Weltverschwörung gegen das Reich eine wahrhaft mörderische Konsequenz, nämlich die Beschleunigung seiner immer schon gehegten Absicht, alle jüdischen Menschen im deutschen Machtbereich zu ermorden. Insofern besteht zwischen Hitlers Rezeption der Atlantik-Charta und seiner Entschlussbildung zum Holocaust ein kausaler Nexus, worauf als erster Tobias Jersak hinwies.55 Man muss allerdings noch einen dritten Punkt hinzufügen, der in der bisherigen Forschung viel zu kurz kommt: Mit der Deutung der Atlantik-Charta als programmatische Kriegserklärung der vermeintlich unter jüdischem Einfluss stehenden kapitalistischen Demokratien des Westens nahm das Werben um einen japanischen Kriegseintritt gegen die USA eine geradezu existenzielle Bedeutung für Hitlers Politik ein. Denn nur wenn das militärische Gewicht Japans die USA im pazifischen Raum in Schach hielt, konnte Hitler seine rassenideologische Herrschaft über ganz Europa und gegebenenfalls über den Nahen Osten errichten und damit zugleich alle jüdischen Menschen im deutschen Herrschaftsbereich unbarmherzig verfolgen und ermorden.

Hitler selbst erreichte der Text der Atlantik-Charta dort, wo er sich seit Juni 1941 fast ständig aufhielt: im „Führerhauptquartier“, das sich zu diesem Zeitpunkt in der „Wolfsschanze“ in Ostpreußen befand. Infolgedessen waren seine engsten militärischen Berater, vor allem seine militärischen Adjutanten, diejenigen, die am ehesten Auskunft über Hitlers Reaktion geben konnten. In der Tat wird man in den zuverlässigen Erinnerungen von Hitlers Luftwaffenadjutant Nicolaus von Below in dieser Hinsicht fündig, der berichtet, Hitler habe sich insbesondere über Punkt sechs der Atlantik-Charta mit ihrem lapidaren Hinweis auf die Zerstörung der „nazi tyranny“ ereifert.56 Die Wahnidee einer unter jüdischem Einfluss vollzogenen Einkreisung Deutschlands fand zusätzliche Nahrung durch das offene Hilfsangebot Roosevelts und Churchills an die Adresse der kommunistischen Sowjetunion, die für Hitler eine Form jüdischer Herrschaft darstellte. Wenn beide westlichen Regierungschefs in einer Erklärung vom 16. August 1941 „the defeat of Hitlerism“ als das Ziel definierten, welches sie mit Stalin verband, sah sich Hitler in seiner Auffassung einer jüdisch inspirierten Verschwörung bestätigt.57

Je länger sich die Sowjetunion militärisch gegen die deutschen Invasoren behauptete, desto bedeutsamer wurde die Hilfszusage der beiden Westmächte, weil insbesondere amerikanische Hilfslieferungen von kriegswichtigem Material die Sowjetunion zu einem Zeitpunkt stärkten, an dem sie sich stabilisiert hatte und die Vorstellung eines leichten deutschen Sieges noch im Jahre 1941 auch für die nationalsozialistische Führung in immer weitere Ferne rückte. Damit stieg wiederum der Wert Japans als Gegengewicht gegen die USA aus Hitlers Sicht noch weiter an, zumal die japanische Marine imstande war, Teile des Schriftverkehrs des US State Department zu dechiffrieren und damit die deutsche Seite über die seit dem Frühherbst 1941 in Moskau stattfindenden Verhandlungen zwischen der Sowjetunion, Großbritannien und den USA auf dem Laufenden zu halten.58

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