Читать книгу Realismus - Группа авторов - Страница 12
Gustav Frank Auf dem Weg zum Realismus Vor dem Realismus
ОглавлениеWer die Vorgeschichte und die Ausbildung der realistischen Literatur in Deutschland beschreiben will, steht vor einem Problem: Über die Literaturverhältnisse der Jahre und Jahrzehnte vor dem Realismus herrscht alles andere als Einvernehmen in der Forschung. Das liegt nicht nur an dieser, sondern zu einem Gutteil ist es in jenen Literaturverhältnissen selbst begründet. Denn während der Realismus sich als wenig veränderliche Formation mit klaren Vorlieben erweist, was Gattungen und deren Ausprägung sowie literarische Darstellungsweisen betrifft, und der Literaturgeschichte somit kanonische Autoren und Werke liefert, ist die literarische Szenerie spätestens seit 1830 in verschiedene, äußerst heterogene und einander befeindende Strömungen verzweigt, die sich selbst wiederum erstaunlich dynamisch umbilden und neu gruppieren. Das springt bereits den Zeitgenossen selbst ins Auge, wird von ihnen angesprochen und mehrheitlich beklagt. Wenn sie versuchen, sich einen Reim auf diese Widersprüche und Streitsachen zu machen, dann sehen sie sich gerne als Zerrissene zwischen zwei Epochen: Die Zeit sieht sich am „Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird“ (Heine 1981, 5, S. 72), und im Übergang zu einer noch kaum abzusehenden neuen, jedoch als ebenso stabil erwarteten Periode.
Während sich Aussagen über die Literatur des Realismus als solche auf einen weit reichenden Konsens der Forschung stützen können, weichen Bemerkungen zur Herkunft des deutschen Realismus gerne auf den konkreten historisch-politischen Anstoß durch die Märzrevolution von 1848 aus oder aber auf die überzeitliche Kategorie eines realistischen Schreibstils, der immer wieder in der Geschichte in den Vordergrund rücke und hier eben ganz besonders ausdrücklich und nachhaltig. Beides kann in dieser Form nicht befriedigen. Wie weit Literatur sich unabhängig von äußeren, hier politischen Vorgaben zu machen verstand, hatte sich gerade unter den harten, als Steuerinstrument gedachten Zensurvorschriften der Metternichära (1815–1848) erwiesen, unter denen ja diese Vielfalt literarischer Blüten gediehen war. Und unter der seit Lessings Laokoon (1766) gleichsam festgeschriebenen Verpflichtung auf anschauliches Darstellen der Wirklichkeit hatte auch die Literatur der Goethezeit bereits gestanden. Ihr kamen Texte wie Georg Büchners Lenz (1835) und Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche (1842) sogar in einem Maße nach, das einem führenden Theoretiker des deutschen Realismus wie Julian Schmidt längst zu weit ging. So bleibt es hoch erklärungsbedürftig, wie gerade dieser lange Jahre unveränderliche Realismus sich an die Stelle jener so zerklüfteten und dynamisch umbrechenden Literaturlandschaft vor 1850 zu setzen vermochte. Jenseits der Rhythmen, mit denen vermeintlich realitätsnahes und realitätsfernes Schreiben einander ablösen, jenseits auch monokausaler Erklärungen, die auf rein außerliterarische Gründe schielen, wird es deshalb nötig sein, hier wesentliche Züge der Literaturentwicklung zwischen etwa 1825 und 1855 nachzuzeichnen, um Ursachenbündel und ganz unmittelbare Voraussetzungen in den Blick zu rücken, die dem Realismus Vorschub leisteten, ja vorarbeiteten.
Zum Realismus tragen sehr verschiedene literarische Texte, Autoren und Strömungen das ihre auf ganz unterschiedlichem Wege bei. Diese verschiedenen Beiträge treffen und vereinen sich jedoch nicht umstandslos, um nach der Revolution von 1848 in eine breite Straße realistischen Schreibens einzumünden. Der Realismus steht somit nicht am Ende geradliniger, zwingender Entwicklungen, die sich, je nach der Position des Betrachters, als Fort- oder Rückschritte zusammenfassen ließen. Er ist aber auch nicht Effekt eines vollständigen Bruchs mit der Literatur vor der Revolution durch die Revolution.
Literarischer Realismus ist vielmehr die Reaktion auf einen Stand und Zustand der Literatur der 1830er und 1840er Jahre, die sich dem heutigen Blick als äußerst lebendige, vielfältig experimentierende, konfliktbereite und konfliktreiche Szenerie darbietet. Deren Vertreter vermochten oft wenig Gemeinsames aneinander zu entdecken und nicht selten bekämpften sie sich wie etwa Heinrich Heine und Ludwig Börne, die aus heutiger Sicht sich ideologisch doch nahe standen. Oder sie versuchten sich gegenseitig aus dem Markt zu drängen wie Wolfgang Menzel und die Autoren des Jungen Deutschland, denen dieser Zwist 1835 das Verbot aller gegenwärtigen und zukünftigen Schriften eingetragen hatte. Wie stark ausgeprägt und damit unerträglich diese Ausdifferenzierung schon für die Zeitgenossen gewesen sein mochte, spiegelt sich noch in der bis heute nicht beigelegten Kontroverse darum, welche dieser ‚Tendenzen‘ der Zeit die vorherrschende gewesen und damit berechtigt sei, der Epoche zwischen Goethezeit (1770–1830) und Realismus (1850–1890) den Namen zu geben: späte Romantik, Biedermeier, Vormärz oder früher Realismus. Operative, sozial Stellung nehmende und politisch eingreifende Literatur halten die einen dabei für ästhetischen Rückschritt verglichen mit den klassischen und romantischen Spitzentexten der Goethezeit. Die anderen wiederum können im umfassenden Ausloten der Bedeutungspotentiale und der literarischen Verfahrensweisen der Romantik nur soziale und politische Rückständigkeit und Restauration überalterter Verhältnisse entdecken.