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Spur der Zeichen
ОглавлениеDer im weiteren 19. Jahrhundert als Gespenster-Hoffmann (Börne) kritisch beäugte E.T.A. Hoffmann band die romantische Fabulierlust seiner häufig fantastischen und formal intrikaten Texte in seiner späten Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) erstmals an die aufmerksame Lektüre sozialer und physiognomischer Zeichen an Unbekannten in der städtischen Öffentlichkeit zurück. Das öffentlich Wahrnehmbare und tatsächliche innere Zustände und Soziallagen klaffen dabei merklich auseinander. Insbesondere Phänomenen wie der Vortäuschung und Selbsttäuschung sowie dem Dekodieren von Anzeichen für die Differenz von Verhalten und sozialen Kodes auf der einen, Psyche und tatsächlicher sozialer Position auf der anderen Seite wandten sich die Texte deshalb immer mehr zu.
Besonders wurde die problematische Psyche erotisch und sozial scheiternder Figuren zu einem Geheimnis, das es zu ergründen und aufzuklären galt. Gleichzeitig damit bildeten sich die Kriminalstrukturen und ein eigenes Genre mit detektorischem Interesse heraus, die sich einer ebenso verborgenen, abweichenden sozialen und juristischen Realität zuwandten. In Droste-Hülshoffs Judenbuche verbinden sich psychologische und kriminalistische Spurensuche schließlich mit spezifischen Erzähltechniken wie der konsequenten Außenperspektive der Erzählstimme, so dass bis zuletzt Aufschlüsse über Geschehen und Motive ausbleiben. Stattdessen werden die dargestellten Figuren beim Umgang mit Anzeichen und Zeichen dargestellt, wobei Mehrdeutigkeit, Missverstehen und Fehldeutung von Handlungen, Gesten, Blicken und Reden den sozialen Umgang undurchschaubar vergiften. Auch auf der höchsten Sprechebene des Textes stellt sich letztlich eine unaufhebbare Widersprüchlichkeit und Konkurrenz der Deutungs- und Sinnangebote ein.
Das kommerzielle Wiener Volkstheater eines Nestroy spielte buchstäblich solche Kommunikationsbrüche und Mehrdeutigkeiten aus – gegen die Zensur des Staates wie die zunehmende Selbstzensur des bürgerlichen Publikums. Ins Zentrum rückten hier vor allem die semiotischen Register jenseits des Textes, die körperliche Seite des Sprechens, als Kompensation von Zensurstrichen, als aus der bürgerlichen Rolle fallendes Extempore und als Quodlibet mit einer Musik, die dem Gesprochenen zweideutig widerspricht.
Einen frühen Höhepunkt der Skepsis hinsichtlich der Verlässlichkeit sozialer Umgangsformen und Kodes, ja überhaupt der gelingenden Zeichenverwendung stellte Mörikes Maler Nolten dar. Hier gerät nicht nur der Titelheld in eine ausweglose und schließlich tödliche Identitätskrise, sondern anhand eingelegter eigener wie fremder lyrischer und dramatischer Texte werden auch die Instanzen literarischer Textproduktion und Rezeption sowie das Vertrauen in die Sprache selbst in Frage gestellt. Zusammenhang und Sinn wird hier, wo sich Texte und ihre so falsche wie folgenschwere Auslegung mehrfach überlagern, nirgends mehr zuverlässig gestiftet.
Als Zivilisationseffekt misstrauisch beobachtet, findet sich seit den 1830er Jahren gehäuft der Übergang von unmittelbaren Verhaltensweisen auf indirekte zeichenvermittelte Praxisformen: Insbesondere der Bereich der leidenschaftlichen Affekte sei davon betroffen, dass abstrakte staatlich-zentrale Institutionen durch ihr Gewaltmonopol alles Gewaltsame aus der direkten Interaktion der Betroffenen entfernt hätten. Dieser Übergang beseitige nun zwar die sozial schädlichen Affektfolgen, nicht aber auch die zugrunde liegenden Affekte selbst, die zu mittelbarem zeichenhaften Ausdruck drängten: als Symptome einer kranken Psyche. Was Texte wie Immermanns Epigonen solcherart thematisierten, ist der psychische Preis, den der Einzelne für den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel zu entrichten hatte.
Das scheint auf den ersten Blick bei Adalbert Stifter anders. Seine Vorrede zur Erzählsammlung Bunte Steine (1853) mit ihrem Plädoyer für das „sanfte Gesetz“ scheint sich mit ihrer Ordnungsgewissheit gut in die Vorliebe des Realismus für die poetische Verklärung der Wirklichkeit zu fügen. Wie bei Mörike drängen jedoch die Erzählungen aus dieser Sammlung wie schon die aus den früheren Studien mit der Konstruiertheit und Absichtlichkeit der metaphorisch aufeinander verweisenden Natur- und Menschenbilder den konstruierten und absichtsvollen Charakter der Erzählungen selbst in den Vordergrund. Gegen eine von Natur- und menschlichen Katastrophen heimgesuchte sowie durch den wissenschaftlichen Blick vieler Figuren in vielfältigste Erkenntnispartikel zersplitternde Realität ist unübersehbar gerade hier eine große Kulturanstrengung und Kunstfertigkeit aufgeboten, mit der Ordnung und Sinn wiederhergestellt werden.
Realismus als bewusste Ausgrenzung von literarischen Verfahren, die an die Künstlichkeit, Konventionalität, soziale Zirkulation und Problematik von immer schon die Wirklichkeit ersetzenden Zeichen erinnern, ist dagegen beständig mit der Begrenzung und Feinabstimmung seiner Zeichenpraxen befasst. Deshalb kritisierte Friedrich Hebbel den Detailrealismus von Stifters Erzählungen noch bevor sich dieser im Spätwerk selbst als zwanghafte Stiftung von Ordnung offenbarte. Realismus will den Leser nochmals in die Illusion anschaulich dargestellter Wirklichkeit hineinziehen. Es wäre deshalb zu einseitig, Realismus als Hinwendung der Literatur zur Wirklichkeit außerhalb der Texte zu verstehen. Mehr als um eine Darstellung der Umwelten von Literatur geht es darum, aus der Erfahrung der Zeichenkrise des Biedermeier/Vormärz eine kulturdienliche Literatur-, Kunst- und Zeichenpraxis abzuleiten.