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Ethno-historische Fremdheit

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Die Verabschiedung der Romantik war also nicht ausschließlich ein literarischer Generationenkonflikt, sondern eine Krise des kulturellen Selbstverständnisses. Heine konnte beides in seiner Kritik der Romantischen Schule (1836) zusammenfassen: „Denn in der Literatur wie in den Wäldern der nordamerikanischen Wilden werden die Väter von den Söhnen totgeschlagen“ (Heine 1981, 5, S. 407). Voraussetzung dieser Selbstwahrnehmung als wild und ursprünglich war die Verabschiedung einer Auffassung, die den Geschichtsverlauf als auf ein bestimmtes Ziel hin ausgerichtet sah und die Hegel (gest. 1831) gerade noch einmal in seiner idealistischen Philosophie der Geschichte bestätigt hatte. Geschichte, schon als zentrales Argument für das Fortschrittsdenken der Aufklärung entdeckt und fruchtbar gemacht, begann sich aus diesem philosophischen Systemzwang jedoch nun zu emanzipieren. Schon 1824 sah der Begründer der historischen Methode, Leopold von Ranke, die Epochen aus einer fortschreitenden Linie heraustreten in die Unmittelbarkeit zu Gott, wie er es nannte. Anders als für Idealismus und Romantik waren jetzt nicht mehr die großen Epochenschritte von der Antike über das Mittelalter zur Neuzeit bedeutsam, sondern vielmehr einzelne Momente und Episoden. Geschichte war seither ein legitimer Ort, sich über das Entstehen einer Gegenwart zu informieren, die sich durch merklichen Wandel verunsichert zeigte und über keine gewisse und sichere Zukunft mehr verfügte. Geschichte wurde zum Aufbewahrungswie Fundort von Lebensmöglichkeiten für eine desorientierte Gegenwart.

Die Aufwertung der Vergangenheit diente dabei zugleich als der Hebel einer umfassenden Verzeitlichung auch der Gegenwart. Im Selbstverständnis der Übergangszeit wurden die Rhythmen von Aktualität, Zurücklassen in der Vergangenheit und Hoffnung auf den Anbruch eines politisch und sozial veränderten Morgen wahrnehmbar kürzer. Das aufblühende historische Erzählen, etwa Wilhelm Hauffs Lichtenstein (1826) oder Zschokkes Addrich, bot nicht nur den tröstlichen Blick auf einfachere Zeiten an, es konnte auch Wandel wie den geforderten Abschied von der ‚Jugend‘ oder die Ablösung feudaler Zustände durch bürgerliche Tüchtigkeit historisch motivieren.

Strategischer Umgang mit den Zeitebenen versetzte aber auch in die Lage, neue Horizonte aufzureißen wie in Sealsfields Amerika-Romanen. Seine Utopie der frontier, eines sich immer weiter nach Westen verschiebenden Raumes unvergänglicher, nie von verfestigten Traditionen und Eigentumsverhältnissen belasteter Gegenwart, machte Hoffnung auf eine neue Welt. Schon sein Morton wendet sich mit der Figur des Isling sowohl gegen die Aristokratisierung der Vereinigten Staaten als auch gegen die unheimliche Übermacht der Geldmänner, die beginnen, den Weltlauf zu bestimmen. Er wehrt damit sowohl die deutsch-österreichischen Verhältnisse als zu überwindende Vergangenheit wie die britischen und französischen Verhältnisse als unerwünschte Zukunft ab.

Auf das verbreitete Ungenügen an der Alten Welt, dem Willkomm mit seinem Roman Die Europamüden (1838) zu einem Schlagwort verholfen hatte, antwortete der Realismus dann ausdrücklich mit einer desillusionierten neuerlichen Schließung dieses weiteren Horizonts der ethnologischen Suche nach Alternativen. In Ferdinand Kürnbergers Der Amerika-Müde (1855) werden die vermeintlich fortschrittlicheren Verhältnisse in der Fremde mit den Mitteln der pointierten Gegenwartsdarstellung des Zeitromans ihrer Gleichzeitigkeit mit dem industrialisierten Europa, aber zudem kultureller Rückständigkeit überführt.

So konnte sich im Abgleich der Zeithorizonte ein Gespür für vergehende gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen in der eigenen Gegenwart ebenso ausbilden wie für die heraufziehenden. Der Sensibilität für die Spuren der Vergangenheit in der eigenen Zeit verdankte die Dorfgeschichte ihr Entstehen. Berthold Auerbach gab ihr in den 1840er Jahren mit seinen Schwarzwälder Dorfgeschichten ihre bleibende Form, die unverändert von den Programmatikern des Realismus in den 1850er Jahren dann zum Modell realistischer Dichtung erhoben werden konnte. Als Muster konnte sie erscheinen, weil in der Übersichtlichkeit ihres Weltausschnitts das Versprechen lag, Probleme zu behandeln und Konflikte zu lösen, ohne dass dem Einzelnen wie der Gemeinschaft verantwortliches Handeln unmöglich wäre. Aus der Perspektive des von Industrialisierung, Verstädterung, staatlicher Reglementierung, politischem Parteienstreit und sozialer Frage betroffenen städtischen Bürgertums, aus dem die Leser überwiegend herkamen, ist die Dorfgeschichte zwar ein anachronistisches Modell von Gesellschaft. Aufgrund seiner exemplarischen Belohnungs- und Bestrafungsgeschichten für richtiges und abweichendes Verhalten wurde es dennoch bevorzugt. Und einer bis zum Pittoresken anschaulichen Darstellungstechnik gelang es zudem, von der vollständigen Ausblendung der aktuellen Brennpunkte öffentlicher Auseinandersetzung abzulenken.

Auerbach berief sich programmatisch auf Immermanns Münchhausen als Vorbild seiner Dorfgeschichte. Das verdient einige Aufmerksamkeit, weil es das Muster deutlich macht, mit dem der Realismus sich frühere Texte und Kulturen aneignet. Immermanns Roman hatte einer parodierten adligen-philisterhaften Journallesezirkel-Welt um die mit romantischen Attributen ausgestattete Figur des Münchhausen die dörfliche Welt des Oberhofs unter dem patriarchalen Hofschulzen gegenübergestellt. Als dritter Ort von beiden abgehoben und durch die zentralen Institutionen Diakonus und Gericht als Leitbild ausgezeichnet wurde jedoch die kleine Stadt. Wenn Auerbach sich dann ausdrücklich auf die Oberhof-Welt beruft, blendet er so vollkommen die bürgerliche Stadt und ihre Institutionen ebenso wie die romantischen, aber auch biedermeierlich-skurrilen Züge des gealterten Münchhausen aus. Diesem, auf den ja der Romantitel den Schwerpunkt legt, gelingt wie Tiecks jungem Tischlermeister erst im zweiten Anlauf die endgültige Partnerfindung und soziale Integration.

Nach Auerbachs Vorbild begannen auch die Verlage die komplex in den Text verschränkten Oberhof-Teile aus dem Roman herauszulösen und als Separatpublikation unter dem Titel Der Oberhof herauszugeben. Diese Praxis, nur noch Textteile zu veröffentlichen, die mit dem Realismus verträglich sind, wurde auch auf Sealsfields Roman Das Cajütenbuch (1841) angewandt, dessen erster Teil vom Realismus bis zur Gegenwart als Die Prärie am Jacinto verlegt wird. All das dokumentiert den Einfluss des Realismus auf den Kanonisierungsprozess von Texten und Autoren des Biedermeier/Vormärz. So kommt es neben der gänzlichen Ablehnung Büchners und Droste-Hülshoffs etwa bei Alexis auch zu Teilrezeptionen, von dem weder der Cabanis noch seine Zeitromanexperimente Das Haus Düsterweg (1835) und Zwölf Nächte (1838), sondern nur die märkischen Romane zu Erfolgsbüchern wurden, weil sie Preußens tragende Rolle in der Geschichte stilisieren.

Wie der Blick auf den Münchhausen lehrt, löste der Realismus die Dorfgeschichte aus wichtigen Kontexten ihrer Entstehung. Heute kaum noch gesehen wird deshalb die enge Berührung mit dem Zeitroman in seiner radikalen Ausprägung als Sozialroman. Der nahm sich vor allem der sozioökonomischen Umbrüche am Ende der Feudalzeit an wie der Landflucht, der Verstädterung und Industrialisierung. Willkomms Weiße Sclaven ist darüber hinaus nicht nur durch die Schule des historischen Romans gegangen, wenn er die feudale Vorgeschichte in der Leibeigenschaft um 1770 und deren revolutionäre Beseitigung um 1790 darstellt, sondern auch mit dem ethnologischen Blick über den Atlantik vertraut, wenn er im landlos gewordenen Industrieproletariat der 1830er Jahre eine verbrämte Form der Sklaverei ausmacht. Wie weit der Gegenwart der städtischen Leser bäuerliches Brauchtum in der Lausitz und sein agrarischer Wortschatz bereits entfremdet waren, belegt im Übrigen der Anmerkungsapparat, den Willkomm an den betreffenden Stellen beigibt. Ganz ähnlich in der zeitlichen Tiefe und räumlichen Enge war auch Jeremias Gotthelfs Schweizer Erzählung Die schwarze Spinne (1842) aufgebaut, allerdings mit einer den Dorfgeschichten verwandten realistischen Tendenz, von der sich jedoch die fantastischen Elemente der Binnengeschichten wieder abheben.

Das Beispiel des Oberhof erweist die strategische Bedeutung des historischen Erzählens im Realismus. Ein späterer Text(auszug) hebt einen früheren auf, der in seiner Entstehungszeit aktuelle Probleme thematisierte, indem er ältere Zustände als die zeitgemäßeren ausgibt: Gegenwart und Vorvergangenheit im Bund gegen die zur Episode abgewertete unmittelbare Vorgeschichte im Biedermeier und Vormärz. Ob der Fokus auf dem Auslaufmodell Dorf oder dem gerade entstehenden Modell Industriegesellschaft liegt, war in den 1840er Jahren also noch eine Frage der ‚Tendenz‘ der Texte, danach im Realismus schon keine Frage mehr. Deshalb konnte Büchners Woyzeck mit seiner ungefilterten Darstellung unterbürgerlicher Schichten in der ersten Werkausgabe durch Ludwig Büchner (1850) dann keinen Platz mehr finden.

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