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Vom Nebeneinander zum Nacheinander oder:
Vom Diskurs zur Kunst

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Kurz vor Ausbruch der Revolution im März 1848 erschien Franz Grillparzers Erzählung Der arme Spielmann in der Zeitschrift Iris. Deutscher Almanack für 1848 bei Heckenast in Pest. Sie ist noch einmal Schnittpunkt romantischer Elemente mit solchen des Biedermeier/Vormärz und des Proto-Realismus (Schönert 2002, S. 331). Romantische Züge trägt die Jugendgeschichte des Titelhelden, dessen Weg zur Selbstbestimmung allerdings von Vater und Brüdern verstellt wird, so dass Partnerfindung und soziale Integration misslingen. Kompensation dafür sucht er in einer so radikal autonomen Kunstproduktion, dass sie völlig asozial weil unverständlich ausfällt. Genuin der Literatur der 1820er bis 40er Jahre gehören sowohl das psychologische Interesse für diesen Fall an wie die Aufmerksamkeit auf die politischen und sozialen Verhältnisse, den ‚Überdruck‘ in der inneren Stadt Wiens, der sich am Kirchtag in die Vorstadt entlädt. Vom Realismus dann übernommen wird das Erzählverfahren der gerahmten Rückblickserzählung des Greises an der Schwelle zum Tod, allerdings nicht für solche Geschichten des Scheiterns.

Die ‚Große Stadt‘ als Hort solcher Problemlagen wird der Realismus auch nicht mehr zu gestalten versuchen. Doch nicht erst nach der Revolution setzt „das heftigste Bedürfnis nach einem Obersten, Leitenden“ ein, um „in unsere Unordnung Ordnung zu bringen“, auf die ein „nach der Einheit der Regel schmachtender Geist“ (Immermann 1981, S. 440) schon 1836 zu hoffen beginnt.

In Grillparzers Erzählung hatten sich die formalen und inhaltlichen Möglichkeiten der Zeit vor dem Realismus noch einmal gemischt, und doch konnte kein gutes Ende gefunden werden. Der Übergang zum Realismus vollzieht sich dann gleichsam als Entmischung, als Grenzziehung und Ausschluss alles Problematischen, für das vorher keine gute Lösung gefunden werden konnte. Die Mehrzahl der als realistisch kanonisierten Autoren und Texte setzt diese Grenzziehungen bereits voraus, verfeinert sie und schreibt sie fort. Das Bekenntnis zu einer Poesie der Verklärung hält an der Wirklichkeit nur mehr die ‚ schönen Stellen‘ für darstellenswert. Mit ihnen bestimmt realistische Literatur die klassische formale Kunstmaxime der Illusionierung des Lesers durch den ‚schönen Schein‘ ganz konkret inhaltlich. Damit verschleiert sie wieder, was die kritische Prosa der Journale und Romane erst bewusst gemacht hatte: dass Literatur die vermeintlich empirischen Modalitäten von Raum, Zeit, Personen und Handlung zuallererst diskursiv hervorbringt, dass Anschaulichkeit entlang von Regeln für die Rede und den Zeichengebrauch erst hergestellt wird und nicht aus treulicher Abbildung vorsemiotischer Realität erwächst.

Wenige Werke entwerfen diesen Übergang selbst modellhaft, indem sie eine Welt des Biedermeier/Vormärz darstellen und sie in eine Welt des Realismus verwandeln. Gutzkows neun Bände und über 4000 Seiten umfassender „Roman des Nebeneinander“ Die Ritter vom Geiste (1850/52) führt die in Immermanns Epigonen als seelenzerstörend beschriebene Gleichzeitigkeit vielstimmiger öffentlicher Meinungsbildungsprozesse und von Mode, Geld und Massenvergnügen regierter, doch sonst nur wenig reglementierter Lebensweisen in Berlin noch einmal vor. Doch nur, um sie im Lauf der Handlung in ein Leben auf dem Land zu überführen, das vom Nacheinander einfacher Naturzyklen geprägt ist. Die ideologische Leitfigur des Textes hat um 1825 „Deutschland zu einer Zeit verlassen, wo die Romantik alle unsere Anschauungen mit einer Art Heiligenschein umgab. England und Amerika boten mir dagegen so viel Realismus“ (Gutzkow 1998b, S. 1360), dass sich der ursprüngliche romantische Heinrich Rodewald (!) bis zu seiner Rückkehr 1849 in einen Heinrich Ackermann (!) verwandeln konnte. Der kauft nun zwar in einer Berliner Fabrik die neuesten Maschinen, doch nur um damit ein Landgut wieder redlicher und rentabler bürgerlicher Arbeit nutzbar zu machen. Diese Umgestaltung der dargestellten Welt im Sinne des entstehenden Realismus macht noch sichtbar, was genuin realistische Texte dann unthematisiert voraussetzen werden, nämlich wie verschiedene Wirklichkeitsbereiche auszuschließen sind, die vorherrschenden Werten und Normen entgegenstehen. Was dabei als nicht darstellenswürdig gilt, wird nicht nur praktisch ausgespart, sondern mit systematischem Anspruch auch theoretisch fixiert. Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen (1853) bestimmt diese inhaltlichen und formalen Grenzen literarischer Darstellung im Realismus früh und sehr detailliert.

Die Beispiele des von Gutzkow begründeten „Romans des Nebeneinander“ und von Rosenkranz’ Ästhetik belegen neben den normativen Polemiken der programmatischen Realisten Gustav Freytag und Julian Schmidt, dass es sich beim Übergang zum Realismus um einen Prozess handelt, der zwar in unterschiedlicher Gestalt, doch an breiter Front vorangetrieben wurde und vor allem auf eine Konsolidierung instabiler Verhältnisse abzielte. In der Formation des Realismus konnten die durch die wirtschaftliche, soziale, technische und mentale Modernisierung erfahrene und erlittene Transformationskrise und alle sie begleitenden Symptome der Verunsicherung noch einmal, wenn auch nur symbolisch, überwunden werden. Die Modernen Lebenswirren, von denen Theodor Mundts Roman 1834 handelte, noch einmal, wenn auch gewaltsam entwirrt zu haben, das ist die genuine und nicht geringe Leistung des Realismus: Realismus erscheint gegenüber der vorhergehenden Literatur somit als Moratorium für eine Gesellschaft, die ihre Modernisierung allzu schmerzhaft erfahren musste.

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