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Realismus versus Naturalismus:
‚Poetischer Realismus‘ und ‚Verklärung‘

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Im Unterschied zu ‚Realismus‘ bzw. ‚réalisme‘, der sich als kunst- und literaturtheoretischer Neologismus auch in Frankreich erst im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts von seinen philosophisch-erkenntnistheoretischen Bedeutungen emanzipiert (Röhrl 2003, S. 24–30), gehört ‚naturalisti‘ bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zum kunstgeschichtlichen Vokabular und kennzeichnet zunächst Caravaggio und seine Schüler. Die gesteigerte Naturnachahmung ihres Malstils erscheint nachträglich – aus der Perspektive eines idealisierenden Klassizismus – als Defizit malerischer Poesis, das auf ein vermeintlich fehlendes Schönheitsideal und mangelnde Erfindungsgabe zurückgeführt wird. Im frühen 19. Jahrhundert erscheint die Verwendung des Wortes ‚Naturalismus‘ zwar uneinheitlicher, behält aber in Deutschland seine negative Konnotation. Sie lässt sich schon in Schillers Abhandlung Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie zu seinem Trauerspiel Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder (1803) beobachten, wo ‚Naturalism‘ eine Naturnachahmung meint, die nicht mehr durch die Vermittlung von ideell und reell begrenzt wird.

Nachdem Mitte des 19. Jahrhunderts französische Kunsttheoretiker (v.a. Champfleury, d. i. J. Husson) ‚réalisme‘ anlässlich der Maler-Schule von Barbizon und kontrovers diskutierter Gemälde von G. Courbet und J.-F. Millet zur Stilrichtung ausrufen, beginnt die ‚realistische‘ Genre- und Landschaftsmalerei sich auch den unteren sozialen Klassen und Sujets der Gegenwartsgesellschaft zuzuwenden. Sie tendiert zu einem sozialen Genre-Realismus, dessen politische Implikationen sich schließlich nicht nur Positionen des Materialismus und Positivismus (A. Comte), sondern auch der Kunsttheorie des französischen Sozialismus (Max Buchon, Pierre-Joseph Proudhon) nähern, der jegliches ‚1’art pour l’art‘ ablehnt und zu einer Funktionsbestimmung von Kunst neigt, die die Mimesis des ‚Realen‘ zugunsten utopischer Entwürfe zu überwinden versucht (Röhrl 2003, S. 42–66). Dass solcher Sozial-Realismus in Deutschland als ‚Naturalismus‘ in Opposition zum Programm des bürgerlichen ‚Realidealismus‘ gerät, verwundert nicht. ‚Naturalismus‘ stabilisiert vielmehr ein antifranzösisches Stereotyp, dem auch Gustave Flauberts und Émile Zolas Werke subsumiert werden und das gegen die positiv bewertete englische Erzählprosa eines Walter Scott und Charles Dickens ausgespielt wird.

Als naturalistisch werden jedoch nicht nur vermeintlich hässliche Sujets, sondern auch der nicht hinreichend filternde und bloß abspiegelnde Stil ihrer malerischen und sprachlichen Darstellung kritisiert, die über einzelnen Details von Realität deren höhere ‚Wahrheit‘, also das ‚Wesentliche‘ und ‚Ganze‘ aus den Augen verliere und das Allgemeine und Notwendige dem Zufälligen und Individuellen opfere. Hatte schon Carl Gustav Carus 1835 die höhere Wahrheit der Landschaftsmalerei von der toten, mechanischen Imitatio eines Spiegelbildes unterschieden (Carus 1982, S. 26), so erwächst der bildenden Kunst mit der Erfindung und fortschreitenden Verbesserung der Photographie (J. N. Niepce 1826, L. J. M. Daguerre 1839) ein technisch ‚kopierendes‘ Konkurrenzmedium, dessen Kritik der ästhetischen Selbstvergewisserung des ‚Realismus‘ dient (Plumpe 1990). So konstatiert z.B. Julius Hermann von Kirchmann 1868 für die Porträtphotographie:

Die Photographie gibt die feinen Härchen, die kleinen Flecken, die zufälligen Verletzungen der Haut, wie sie das Original im Moment der Aufnahme hat, obgleich sie ein Seelenloses und Zufälliges sind. […] sie kopiert das Seelenlose […]. Dies alles tut der Maler nicht; er reinigt sein Bild von diesen zufälligen […] Elementen. (Plumpe 1985, S. 76)

Und Theodor Fontane gesteht 1853 in Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848 das „nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, […] seines Elends und seiner Schattenseiten“ zwar einem ‚prosaischen Realismus‘ ohne ‚poetische Verklärung‘ zu, nicht aber einem ‚poetischen Realismus‘ als ‚Kunst‘. Dieser sei

die Widerspiegelung alles wirklichen Lebens, aller wahren Kräfte und Interessen im Elemente der Kunst […]. Er umfängt das ganze reiche Leben, das Größte wie das Kleinste […] Denn alles das ist wirklich. Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt […]; er will […] das Wahre. (Plumpe 1985, S. 145, 147)

Im Gegensatz zum kontrastiv beschworenen ‚photographischen Roman‘ der Franzosen vermittelt der von Otto Ludwig zuerst so genannte „poetische Realismus“ (Plumpe 1985, S. 148) zwischen den Extremen eines ‚Naturalismus‘, dem „es mehr um die Mannigfaltigkeit“, und eines ‚Idealismus‘, dem es „mehr um die Einheit [zu tun ist]“ – „beide Richtungen sind einseitig, der künstlerische Realismus vereinigt sie in einer künstlerischen Mitte“ (ebd. S. 149). Und der

wahren Kunst ist der Idealismus ebenso unentbehrlich als der Realismus: denn was ist alle Kunst selbst anders, als die ideale Verklärung des Realen, die Aufnahme und Wiedergeburt der Wirklichkeit in dem ewig unvergänglichen Reiche des Schönen? (Robert Prutz 1859, in: Plumpe 1985, S. 130).

Auch für J. H. von Kirchmann stellen die „Bildlichkeit und die Idealisierung des Schönen […] zwei Gegensätze dar“, deren Vermittlung und Aufhebung das ‚Schöne‘ erst hervorbringe:

je treuer er [der Künstler] sein seelenvolles Reale kopiert, […] desto sicherer ist er, verstanden zu werden, desto mehr wird er an der Hand der Natur vor aller Abirrung in das Phantastische oder Gezierte oder Unverständliche bewahrt bleiben. Bei der Idealisierung ist dagegen der Künstler in seiner Freiheit; er steht über der Natur, er ist ihr Meister, er verbessert, reinigt und erhebt sie. Dort ist er der Sklav, hier ist er der Herr des Gegenstandes. Aus beiden Tätigkeiten entspringt das Schöne. (Plumpe 1985, S. 77)

Das Verhältnis von Ideal und schöner Kunst unterliegt dabei einer widersprüchlichen Zweck-Mittel-Hierarchie: Einerseits beschränke sich das Ideal auf seine Funktion als „einziges Mittel der Erkenntnis des Realen“ und darauf, dass es reinigend und verbessernd „Ordnung in die Wirrnis der Erscheinungen“ bringe und „das Zusammenhanglose“ verbinde (Emil Hornberger 1870, in: Plumpe 1985, S. 155). Andererseits sei es gerade der „Zweck der […] Dichtkunst […], Ideale aufzustellen“ und „der Realismus“ nur das „Mittel der Kunst“, d.h. „eine der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so dass wir an die künstlerischen Ideale glauben“ (Julian Schmidt 1860, in: Plumpe 1985, S. 106). Insofern das Zufällige der Wirklichkeit seinen Zweck darin findet, als künstlerische Form des Notwendigen das Wahre und Wesentliche zu bezeichnen, wird es selbst zum unentbehrlichen ästhetischen Ornatus, dessen Abwertung Grenzen gesetzt sind:

indem er [der Dichter] das Wesentliche […], das Bedeutende, das Dauernde, das Notwendige festhält […], [gibt er] statt des Zufälligen das Gesetz, statt der Wirklichkeit die Wahrheit, aber – denn er ist ja Dichter, nicht Philosoph – das Gesetz in der Form des Zufälligen, die Wahrheit im Kleide der Wirklichkeit. (Ebd. S. 153)

Die exemplarischen Zitate illustrieren ein poetologisches Koordinatensystem, dessen Kontrastsemantik und Begriffshierarchien variieren, ohne dass sich seine semantischen Achsen wesentlich verschieben. Sowohl ein ‚sklavisch‘ und ‚seelenlos‘ kopierender Naturalismus, der sich der mannigfaltigen Sinnenwelt und ihren vergänglichen Erscheinungen zuwendet, als auch der freie, nicht an Realien gebundene Idealismus des zeitlos Notwendigen, der Totalität des Wahren und Wesenhaften werden in der ‚künstlerischen Mitte‘ des ‚poetischen Realismus‘ vermittelt. Dessen wahrscheinliche und ‚schöne‘ Kunst will die Extreme eines von Solipsismus und Phantastik bedrohten Idealismus und einer bloß abbildenden Mimesis des Naturalismus wechselseitig begrenzen und beansprucht zugleich, beide in sich aufzuheben (Eisele 1976, S. 24–92).

Das Konzept der ‚Verklärung‘ verdeutlicht darüber hinaus eine signifikante Differenz zwischen dem an Hegel anknüpfenden, mehr am außerliterarischen ‚Was‘ der Darstellung interessierten ‚bürgerlichen Realismus‘ im engeren Sinn (Schmidt, Freytag) und dem ‚poetischen Realismus‘ im weiteren Sinn (Ludwig, Fontane, Keller). Dieser akzentuiert mehr das ‚Wie‘ der Darstellung, projiziert die Merkmale des Poetischen also nicht – wie jener – auf eine vermeintlich immer schon poetisierte, aber hoch selektive Wirklichkeit, in der das Besondere und das Allgemeine bereits außerliterarisch vermittelt sind. Er reflektiert stattdessen ‚Idealisieren‘ und ‚Verklären‘ stärker als Verfahrensweisen künstlerischer Poiesis, verlagert die Qualitäten des Poetischen also nicht in die Realität selbst, sondern begreift sie als Ergebnis literarischer Wirklichkeitskonstruktion.

Der ontologisierende ‚Realidealismus‘ bzw. ‚Idealrealismus‘ mündet so in eine Produktionsästhetik der ‚Verklärung‘, deren Metaphorik ihren kunstreligiösen Subtext nicht verleugnen kann, transportiert sie doch Merkmale ‚heiligender‘ Transfiguration, die das Reale nicht nur verbessert, reinigt und läutert, sondern in der „Aufnahme und Wiedergeburt der Wirklichkeit in dem ewig unvergänglichen Reiche des Schönen“ gipfelt (Robert Prutz 1859, in: Plumpe 1985, S. 130). Werden die Poetisierung der Wirklichkeit und ihre Transformation in Kunst jedoch zur ‚Wiedergeburt‘ und Aufnahme des vergänglichen Irdischen im ‚ewigen Reich des Schönen‘ hochstilisiert, so schwingt sich die schöne Literatur zum Medium einer Erlösung der Wirklichkeit in der Kunst auf und säkularisiert zugleich die Reste romantischer Kunstreligion (von Novalis bis Richard Wagner) – was Otto Ludwigs Erzählung in ihrer Titelmetaphorik Zwischen Himmel und Erde einprägsam auf den Begriff bringt und in der Psychologisierung religiöser Semantik erzählerisch entfaltet.

Beide Varianten der Realismus-Poetologie versuchen, so ist erstens festzuhalten, die Selektivität ihrer ästhetischen Totalitätspostulate des ‚Wahren‘ und ‚Schönen‘ sowohl im Bereich der Sujets als auch der Verfahren ihrer literarischen Darstellung zu verschleiern und zweitens unter Aufbietung idealistischer und kunstreligiöser Semantik der realistischen Literatur eine Sphäre relativer Kunstautonomie zu sichern, die es ihr ermöglicht, kompensatorisch auf die Folgen fortschreitender Modernisierung, Industrialisierung und Verwissenschaftlichung zu reagieren. Solche Verwissenschaftlichung erreicht nach dem Scheitern der idealistischen‘, moralpolitischen Zielsetzungen des Vormärz auch Gesellschaft und Politik und wird mit dem Schlagwort ‚Realpolitik‘ belegt (Ludwig August von Rochau: Grundsätze der Realpolitik, 1853/69), als deren Protagonist Otto von Bismarck sehr bald von Julian Schmidt, Rochau und anderen verteidigt wird. Auf die realpolitischen und ideologischen Konsequenzen aus der Resignation des liberalen Bürgertums nach 1848 antwortet der ‚programmatische Realismus‘ mit einem Kompromiss aus desillusionierter Realitätsorientierung und ‚Idealismus‘, der sich allerdings auf den Bereich der schönen Kunstliteratur beschränkt. Dass Georg Lukács (Lukács 1955) die ‚idealpolitische‘ Funktion der Literatur des ‚sozialistischen Realismus‘ später auf die epischen Qualitäten des bürgerlichen Realismus zurückführen wird, scheint vor diesem Hintergrund nahe zu liegen.

Schon die Realismus-Programmatik selbst zeichnet sich drittens durch eine „theoretische Widersprüchlichkeit“ aus, „die nicht zum Bewußtsein kommt, sondern ‚ideal-realistisch’ verbrämt und umschrieben wird“ und sich „in dem zentralen Strukturmerkmal der realistischen Theorie [niederschlägt]: der paradoxen Tendenz, sowohl die Identität von Literatur und Realität anzustreben als auch gleichzeitig die Literatur von eben dieser Realität abzuheben“ (Eisele 1976, S. 61). An diesem Dilemma wird sich am Ende des 19. Jahrhunderts noch die Kunsttheorie des Naturalismus vergeblich abarbeiten, auch wenn sich die prominente Formel von Arno Holz „Kunst = Natur – x“ (Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze, 1891) auf den ersten Blick zumindest vom zuletzt genannten Ziel zu distanzieren scheint: „Die Kunst hat die Tendenz, die Natur zu sein; sie wird sie nach Maßgabe ihrer Mittel und deren Handhabung“ (Holz 1962, S. 14f., 30), also nach Maßgabe der Anwendung künstlerischer bzw. sprachlicher Mittel (‚x‘), die der Natur-Mimesis entgegenstehen. Holz will ‚x‘ deshalb möglichst minimieren, während die Poetologie des Realismus den Kunstmitteln (‚x‘), die die Natur-Nachahmung einschränken, einen mindestens gleich hohen Wert wie der ‚Natur‘ zubilligen würde.

Festzuhalten bleibt schließlich viertens, dass der von der Literaturwissenschaft im Anschluss an Otto Ludwig ‚poetisch‘ genannte (von neuem zuerst Preisendanz 1963) oder als ‚bürgerlich‘ (Martini 1962) und ‚programmatisch‘ (Sengle 1971) etikettierte deutschsprachige ‚Realismus‘ in seiner literarischen Praxis sachlich und zeitlich nur sehr begrenzt mit seinem poetologischen Reflexionsdiskurs zu verrechnen ist, da sich dieser für die ‚Epoche‘ zwischen 1850 und 1900 eher als marginal erweist, woran Gustav Freytags Kaufmannsroman Soll und Haben (1855) und so manche interpretatorische Bemühung der Literaturwissenschaft um Otto Ludwig, Theodor Fontane, Gottfried Keller und Theodor Storm wenig ändern. Abgesehen von frühen Positionen Adalbert Stifters (das ‚sanfte Gesetz‘), des jungen Fontane sowie von Otto Ludwig, Gustav Freytag und Friedrich Spielhagen beschränkt sich der Kreis der poetologisch theoretisierenden Autoren auf Kritiker und Journalisten, die Literatur mehr beobachten und bewerten denn produzieren und ihre kontroversen Positionen vor allem in Zeitschriften veröffentlichen wie Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Kultur (ab 1841; Mitherausgeber seit 1848 J. Schmidt und G. Freytag), Deutsches Museum (1851–1867; hg. von R. Prutz) oder Blätter für die literarische Unterhaltung (1826–1898; seit 1853 hg. von H. Marggraff, 1864 bis 1888 von R. Gottschall).

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