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Erfahrungswandel

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Dem literarischen Realismus geht eine Reihe von komplex miteinander verzahnten Prozessen des sozialen, politischen, technischen und mentalen Wandels voran, den die Gesellschaft des Biedermeier und Vormärz nicht zuletzt in ihrer Literatur zu verarbeiten versuchte. Von diesem durchgreifenden Wandel war die Literatur auch selbst auf allen Ebenen betroffen. Er veränderte sie, insofern Literatur in die Geschichte der Printmedien eingebunden ist und mit neuen Kommunikationsmitteln (Dampfboot, elektrischer Telegraf, Eisenbahn, Fotografie) in Wechselwirkung trat. Diese Fortschritte führten zu einer Beschleunigung der Informationsübertragung und die Telegrafie zu einer Neudefinition von ‚Tagesaktualität‘, zu der sich nicht nur die periodische Presse sondern auch die Literatur mit ihrer erheblich ‚langsameren‘ Form des Buches jetzt ins Verhältnis setzen musste.

Solcher Wandel vollzog sich zugleich auf der Ebene des Sozialsystems Literatur. Neue Verfahren des Drucks und der Papierproduktion rationalisierten ihre Herstellung, und für ihren Vertrieb wurden neue Vermarktungsformen gesucht, um auf die durch Alphabetisierung und Mobilität wachsenden Leserschichten zu reagieren – „es ist nicht Philosophie, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern Bedürfnisse zu schaffen“ (Gutzkow 1998a, 2, S. 938). Die Eisenbahnverbindungen erschlossen den Verlagen nicht nur neue und schnellere Vertriebswege, sondern sie führten in den 1850er Jahren schließlich zu einer Abstimmung von Ausstattung und Vertrieb der literarischen Ware auf den reisenden Kunden.

Nicht zuletzt erfasste der Wandel auch das Symbolsystem Literatur, das Was und Wie der Darstellung im Text. Die Auseinandersetzung mit den technischen Errungenschaften, mit der Industrialisierung von Raum und Zeit, konnte unmittelbar als Thema auftreten, was neben der Vielzahl der Eisenbahngedichte, den aufwendig illustrierten Reisewerken vor allem die neue Gattung des Sozialromans seit dem Ende der 1830er Jahre belegt, der die Industrialisierung und ihre problematischen Folgen behandelte. Viel tiefer griff jedoch mittelbar der umfassende Erfahrungswandel ein, der den Blick auf Natur, Gesellschaft und Einzelnen veränderte. Die wachsende soziale Mobilität, der erhöhte Austausch von Gütern und Ideen erzeugten eine Beschleunigung der Lebensverhältnisse, sensibilisierten und veränderten damit die Wahrnehmung. Zeitschriften mit Titeln wie Die Eisenbahn oder Telegraph für Deutschland wollten das zum Ausdruck bringen. Eine Vielzahl von Texten, die sich jetzt Bild, Gemälde, Skizze, Panorama und nach Daguerres Erfindung der Fotografie auch Daguerreotyp zu betiteln begannen, zielten ebenfalls auf die wachsende Bedeutung des Sehens der neuen Dinge, des bewegten Menschen, wie des Gesehenwerdens in der wandelbaren Gesellschaft.

Und so nimmt sich die Zeit vor dem Realismus nicht nur resigniert als unsichere Periode des Übergangs zwischen zwei Epochen wahr: So entwirft sie sich auch strategisch selbst von Anfang an. Während sie das Ende der „Kunstperiode“ ausruft, macht sie gerade diese Selbstwahrnehmung, instabil und vergänglich zu sein, kulturell äußerst produktiv: Denn das rechtfertigt die Auflösung des Überkommenen und erteilt die Lizenz für Experimente als Arbeit am Kommenden. Die wichtigsten Züge dieser Literaturverhältnisse nach der „Kunstperiode“ und vor dem Realismus gilt es nun zunächst nachzuzeichnen. Sie motivieren den Übergang zum Realismus, auf den am Ende näher eingegangen wird.

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