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Realismus, Idealismus, Realidealismus:
Von der Erkenntnistheorie zur Ästhetik des ‚bürgerlichen Realismus‘
ОглавлениеBis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet ‚Realismus‘ als Gegenbegriff zu ‚Idealismus‘ philosophische Systeme, welche davon ausgehen, dass die Dinge der Außenwelt unabhängig von unseren Vorstellungen gegeben sind. Dieser, seit dem späten 18. Jahrhundert zu beobachtende Gebrauch des Gegensatzpaares ‚Realismus‘ und ‚Idealismus‘ weicht allerdings deutlich von der Semantik des ‚Realismus‘ ab, die den bis ins Spätmittelalter anhaltenden, theologisch akzentuierten Universalienstreit prägt. Billigt dessen früh-scholastische Fassung den Ideen als Allgemeinbegriffen noch den Status von Realien vor den Dingen zu (universalia sunt ante res), so erfährt solch platonischer Ideen-Realismus in der Hoch-Scholastik eine aristotelische Abschwächung (universalia sunt in rebus, Thomas von Aquin), die sich gegen die radikalen Konsequenzen des Nominalismus behaupten muss (William von Ockham). Dieser begreift ‚ideae‘ nicht mehr als göttliche Urbilder, als deren bloße Abbilder die realen Dinge erscheinen, sondern wertet ‚idea‘ umgekehrt zu einem Allgemeinbegriff ab, der lediglich ein ungenaues Abbild der vorgeordneten ‚wirklichen‘ Einzel-Dinge liefert.
Damit zeichnet sich die neuzeitliche Umwertung des Verhältnisses von ‚real‘ und ‚ideal‘ ab, die ‚Realismus‘ auf empirisch erfahrbare, aber beobachterunabhängig existente ‚Wirklichkeit‘ verpflichtet und zum Gegenbegriff eines ‚Idealismus‘ innerer Bilder erhebt, die allenfalls als außenmotivierte Abbilder, als Mimesis des Realen Beachtung verdienen. So folgert Christian Wolff 1722 aus der Annahme, „die Seele [habe] eine Krafft […] sich die Welt vorzustellen“, dass „diese Vorstellungen eine Aehnlichkeit mit denen Dingen haben, die in der Welt sind“ (Wolff 1722, S. 474) und sich „zu ihnen [verhalten], wie ein Gemähide oder ein anderes Bild zu der Sache, die es vorstellet“ (ebd., S. 483). Beschränken Aristoteles und Horaz die Metaphorik des Malers und des Bildes also auf den „Dichter“, der „ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler“ (Aristoteles 1994, S.85), so dient nun umgekehrt seit der frühen Neuzeit gegenständlich ‚bildende‘, an ‚Realien‘ gebundene Kunst als erkenntnistheoretisches Modell für die kognitive Repräsentation von Welt überhaupt.
Immanuel Kant lockert in seiner Kritik der reinen Vernunft von 1781 bzw. 1787 diesen strikten mimetischen Nexus zwischen Erkenntnissen, Vorstellungen und ihren realen Gegenständen und betont die Poiesis der kognitiven Eigenleistung, ohne allerdings die vorbegriffliche Existenz der Dinge zu leugnen und sie zu bloßen Einbildungen zu degradieren. Gleichwohl herrsche aber in der „schönen Kunst“, deren Zwecke „durch ästhetische Ideen“ des „Genies“ bestimmt werden, „das Prinzip des Idealismus der Zeckmäßigkeit f…]“ und kein „ästhetischer Realism derselben […]“, wie es in der Kritik der Urteilskraft von 1790 heißt (Kant 1957, 5, § 58, S. 458).
Friedrich Schiller greift im Anschluss an Kant die Differenz von Realismus und Idealismus auf und gewinnt aus ihr zwei komplementäre ästhetische Kategorien, deren dialektische Vermittlung die „ästhetische Kunst“ auszeichne:
Zweierlei gehört zum Poeten und Künstler: daß er sich über das Wirkliche erhebt und daß er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibt. […] verläßt er mit dem Wirklichen nur zu leicht auch das Sinnliche, [wird er] idealistisch und […] gar phantastisch: oder will er und muß er […] in der Sinnlichkeit bleiben, so bleibt er gern auch bei dem Wirklichen stehen und wird, in beschränkter Bedeutung des Worts, realistisch. (Brief an Goethe, 14. September 1797, Staiger 2005, S. 467).
Schon in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) erweisen sich der sinnliche, am gegenwärtigen Individuellen orientierte ‚Realism‘ und ein nach dem vernünftigen Ganzen, Allgemeinen und Ewigen strebender ‚Idealism‘ als unpoetische Extremwerte des ‚Naiven‘ und des ‚Sentimentalischen‘ (Schiller 1988ff., 8, S. 798), deren ästhetische Vermittlung nur in einer wechselseitigen Begrenzung des ‚Realisten‘ durch „moralischen Wert“ und des ‚Idealisten‘ durch „Erfahrungsgehalt“ (ebd. S. 808) gelingen könne.
In seinen Vorlesungen über die Ästhetik weist G. W. F. Hegel dem „Kunstwerk“ eine vergleichbare Mittelposition „zwischen der unmittelbaren Sinnlichkeit und den ideellen Gedanken“ zu:
Es ist noch nicht reiner Gedanke, aber seiner Sinnlichkeit zum Trotz auch nicht mehr bloßes materielles Dasein […], sondern das Sinnliche im Kunstwerk ist selbst ein ideelles, das aber […], zugleich als Ding noch äußerlich vorhanden ist. (Hegel 1986, 1, S. 60)
Aufgabe der Kunst sei es demnach, „die Wahrheit in Form der sinnlichen Kunstgestaltung zu enthüllen, jenen versöhnten Gegensatz darzustellen“ (ebd. S. 82) und sinnlichen Schein und Wahrheit, äußere Realität und Ideal, Individuelles und Allgemeines, Teil und Ganzes im ‚Schönen‘ zu vermitteln (ebd. S. 203). Zu den Voraussetzungen der um die Mitte des 19. Jahrhunderts formulierten Programmatik eines bürgerlichen Realismus’ gehören die Folgerungen, die Hegel hieraus für die Kriterien der Stoffwahl einer Romankunst zieht, die den „Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse sowie dem Zufall der äußeren Umstände“ nicht nur tragisch oder komisch zu lösen oder zu versöhnen habe, sondern bereits in der Wahl ihres Sujets „eine der Schönheit und Kunst verwandte und befreundete Wirklichkeit an die Stelle der vorgefundenen Prosa setzen“ möge (ebd. S. 392f.). „Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus, auf deren Boden er sodann […] der Poesie […] ihr verlorenes Recht wieder erringt“ (ebd.). Und diese Bedingung erfülle, so Hegel, am besten die „bürgerliche Gesellschaft“, in der durch „die Arbeit der Bildung […] der subjektive Wille […] sich selbst in die Objektivität gewinnt, in der er […] allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu seyn“ (Hegel 1928, S. 268). Nur die bürgerliche Gesellschaft vermag das sittliche Allgemeine mit dem Besonderen zu vermitteln, so dass Gustav Freytag 1853 fordern kann:
Wer uns schildern will, muß uns aufsuchen in unserer Arbeitsstube, in unserem Comptoir, unserem Feld, nicht nur in unserer Familie. Der Deutsche ist am größten und schönsten, wenn er arbeitet. Die deutschen Romanschriftsteller sollen sich deshalb um die Arbeit der Deutschen kümmern. So lange sie das nicht thun, werden sie keine guten Romane schreiben. (Bucher u.a. 1981, 2, S. 72f., hier S. 73).
Die Präferenz für das ‚bürgerliche‘ Genre, für Stoffe also, die selbst schon die ‚Wirklichkeit der Idee‘ im sittlichen Wert von Arbeit und Bildung repräsentieren, ermöglichte es somit dem ‚modernen‘ Roman, den Konflikt zwischen der angestrebten Mimesis gesellschaftlicher Realität und seinem Status als ‚ schöne‘ Literatur dadurch zu vermeiden, dass sich der Gegenstand seiner Nachahmung selbst schon als schön erweise, Wirklichkeit und Idee sich also bereits im realen ‚poetischen Weltzustand‘ der bürgerlichen Gesellschaft vermittelten. Bildet das Kunst-Schöne ein Real-Schönes ab, stehen Nachahmung und Poesie in keinem Widerspruch mehr – ein hegelianischer „Taschenspielertrick“ (Plumpe 1996, S. 50), den die philosophische Ästhetik nachträglich ‚real-idealistisch‘ abzusichern sucht. So geht z.B. Adolf Horwicz in seinen Grundlinien eines Systems der Ästhetik (1869) davon aus, dass „das Schöne weder in den angenehmen Sinnesreizen noch in den ästhetischen Formen, und […] auch nicht in den Formen der künstlerischen Darstellung als Illusion, Idealisieren und Komponieren“, sondern „im dargestellten Objekt liegen muß“, dass „es ein Reales zugleich subjektives und objektives sein müsse“ und als das „Wesen der Dinge oder als das Absolute“ zu bezeichnen sei.1
Neben Kaufmannsromanen und historischen Sujets repräsentieren für Julian Schmidt v.a. auch ‚Dorfgeschichten‘ (J. P. Hebel, Jeremias Gotthelf, Karl Immermann, Berthold Auerbach) und besonders Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843–1853) solche Objekte der Darstellung:
Seine [Auerbachs] Erfahrung lehrte ihn Bauern kennen […], die in ihrer Einfachheit sehr fest, in ihren sittlichen Vorurteilen und Voraussetzungen sehr bestimmt waren; Gestalten, die, weil sie wirklich existierten, auch poetisch zu existieren berechtigt waren. – Mit Entzücken lauschte er ihren Redensarten, die […] kaum mehr bearbeitet werden durften, um in der Poesie ein Bürgerrecht zu haben. (Schmidt 1860, in: Plumpe 1985, S. 109f.)
Wie ‚unrealistisch‘ sich diese normativen Setzungen des ‚bürgerlichen Realismus‘ und seine Vorliebe für hoch selektive Realitätsausschnitte literaturgeschichtlich ausnehmen, lässt sich am Themenspektrum der Literatur des 19. Jahrhunderts und nicht zuletzt auch daran ablesen, dass sich der poetologische Diskurs Jahrzehnte vor dem Auftreten naturalistischer’ Literatur in Deutschland von ‚Naturalismus‘ als einem zum ‚Idealismus‘ konträren, pejorativen Kontrastbegriff zu ‚Realismus‘ distanziert und sich die Literaturkritik vehement gegen das ‚Hässliche‘ und ‚Kranke‘ verwahrt. So polemisiert etwa Julian Schmidt 1851 gegen Georg Büchners Lenz-Fragment:
Die Darstellung des Wahnsinns ist eine unkünstlerische Aufgabe, denn der Wahnsinn, als die Negativität des Geistes, folgt keinem geistigen Gesetz. […] Der Wahnsinn als solcher gehört in das Gebiet der Pathologie, und hat ebenso wenig das Recht, poetisch behandelt zu werden, als das Lazareth und die Folter. […] Am schlimmsten ist es, wenn sich der Dichter so in die zerrissene Seele seines Gegenstandes versetzt, daß sich ihm selber die Welt im Fiebertraum dreht. (Bucher u.a. 1981, 2, S. 87)