Читать книгу Logos - Группа авторов - Страница 12
1. Die griechische Proportionenlehre
ОглавлениеWas hier von Mathematischem auszubreiten ist, ist von sehr viel simplerer Natur als die modernen mathematischen Begriffe, die Taylor in die Debatte wirft, und wird, hoffe ich, auch dem Philologen keine Mühe bereiten, der von Euklid nichts weiß und der nur eben noch seine mathematischen Tertianerkenntnisse zur Hand hat, wenn sie in ihm wieder wachgerufen werden.
Der Begriff der Proportion spielt in der griechischen Mathematik eine weit größere Rolle als in der heutigen, auch wie die Schule sie lehrt; denn der Grieche kleidet vieles in die Sprache der Proportionen, was wir durch den Formalismus der Rechenregeln ausdrücken. Die griechische Arithmetik, die wir bei Euklid vorfinden, hat knapp die Praxis des Multiplizierens ganzer Zahlen erreicht, die uns heute geläufig ist, die den Ägyptern noch fast gänzlich fehlte, während die Sumerer sie langst aufs vollkommenste übten. Das Dividieren, das Wurzelziehen ist ihr im Grunde fremd. Wo wir schreiben, schreibt der Grieche die ἀναλογα (Proportion) 6:9=2:3, wo wir schreiben, schreibt er 4:6=6:9 u.s.f. Daß 8 = 23 ist, drückt er durch die fortlaufende Proportion aus
1:2 = 2:4 = 4:8;
in der Tat folgt sofort aus dem Bestehen dieser Proportion, wenn wir sie in moderne Brüche umschreiben,
und daher
Brüche sind in der Praxis des täglichen Lebens möglicherweise geschrieben worden7; in der theoretischen Arithmetik kommen sie nicht vor. Also die Proportionen haben zunächst einmal in der griechischen Mathematik die Aufgabe, unsere Bruchrechnung zu ersetzen, das „Rechnen mit rationalen Zahlen“, wie die heutigen Mathematiker sagen. In dieser Funktion begegnen sie uns in Euklid VII–IX.
Aber der Begriff der Proportion muß darüber hinaus den Griechen noch andere Dienste leisten, im Bereich der Geometrie, der Mechanik, der Harmonielehre u.s.w. Um ein Beispiel zu nehmen: das Verhältnis 1:2 findet bereits im Bereich der Arithmetik die verschiedensten Ausdrücke, wie 3:6 oder 4:8 u.s.w.; wir nennen das heute die „ungekürzten“ Formen des Bruches ½; aber dieser Bruch ½ oder dieses Verhältnis 1:2 findet sich außerhalb des Bereichs der Arithmetik wieder im Verhältnis einer Strecke zu einer doppelt so großen, oder im Verhältnis der beiden Quadrate ABCD und ACUV, über die schon der Sklave in Platos Dialog Menon belehrt wird, daß die Fläche des zweiten genau das Doppelte von der Fläche des ersten ausmacht. Und so könnte man auf die verschiedenste Weise zwei Körper, zwei Zeiten (z.B. die von Sonnenaufgang bis Mittag und die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang), zwei Töne (die Saitenlängen von Grundton und Oktave) u. dgl. mehr finden, die sich wie 1:2 verhalten.
Es war nun eine der folgenschwersten Entdeckungen griechischen Geistes, daß in diesem erweiterten Aktionsfeld, das dem Begriff der Proportion hierdurch erschlossen war, sich Verhältnisse (λόγοι) finden, die in der Arithmetik gar nicht vorkommen. Man kannte sehr wohl die Tischlerregel zur Konstruktion eines rechten Winkels: Hat in einem rechtwinklign Dreieck die eine Kathete die Länge 4, die andere die Länge 3, so hat die Hypotenuse die Länge 5. Man versuchte bei einem anderen, nicht minder naheliegenden Dreieck, dem halben Quadrat, eine ähnliche Relation; man teilte die Quadratseite in 5 gleiche Teile, trug diese auf der Hypotenuse ab und sah, daß diese ungefähr 7 davon faßte, aber nicht genau 7, man versuchte es mit noch feineren Teilen, um es genau herauszubekommen, es gelang nicht, und schließlich bewies man, daß es nie gelingen kann, daß es kein ganzzahliges Verhältnis gibt, das dem von Seite und Diagonale eines Quadrats gleich ist.
Damit war eine Generalrevision der gesamten Geometrie notwendig geworden. In welchem Sinne, wird ein Beispiel am besten erläutern. Man trage die Seite AB und die Diagonale AC des oben betrachteten Quadrats nebeneinander auf, errichte über der ganzen Strecke BC einen Halbkreis, in A die Senkrechte zu BC, die den Halbkreis in D treffe, und errichte endlich über der Strecke AD ein Quadrat, ADEF. Wir fragen, in welchem Verhältnis dieses Quadrat seinem Flächeninhalt nach zu dem in der früheren Figur gezeichneten Ausgangsquadrat steht, AD2 : AB2. Heute würde man in Tertia zu dieser Frage etwa das Folgende sagen: die beiden rechtwinkligen Dreiecke ABD und ADC sind einander ähnlich, weil sie offenbar die gleichen Winkel haben; folglich stehen die entsprechenden Seiten im nämlichen Verhältnis, es ist AB : AD = AD : AC oder AD2 = AB·AC. Daraus folgt, daß
AD2 : AB2 = AB · AC : AB2
und daher, da AB sich wegkürzt,
AD2 : AB2 = AC : AB.
In Worten: das neue Quadrat verhält sich zum Ausgangsquadrat, wie sich die Diagonale des Ausgangsquadrats zu seiner Seite verhält. So mögen die sophistischen Mathematiklehrer doziert haben, ehe jene Krisis des Inkommensurablen hereinbrach, ehe man wußte, daß dieses AC : AB kein ganzzahliges Verhältnis sein kann. Nachdem man das wußte, war nicht nur der eben gegebene Beweis in Frage gestellt, sondern es war überhaupt nicht mehr definiert, was AC : AB ist und was es besagt, es sei AD2 : AB2 = AC : AB. Man mache nur den Versuch, dies irgend jemand anderem zu erklären, um sofort zu bemerken, daß man keinen klaren Sinn davon einfach anzugeben vermag.
In Euklid V findet sich die ungemein kunstvolle Definition der Gleichhheit zweier Verhältnisse (λόγοι) α : β und A : B oder, mit anderen Worten, der Proportion (ἀναλογα) α : β = A : B, sowie das ganze Gebäude der Sätze der Proportionenlehre, die auch Euklid VII enthält, nur jetzt mit ganz anderen Beweisen, die auf der neuen Definition gleicher Verhältnisse aufruhen. Der Beweis eines Satzes wie des oben geschilderten vollzieht sich auf dieser Grundlage unzweideutig. Wir brauchen hier auf die Details dieser Theorie, die einer der Gipfelpunkte der griechischen Matematik ist, glücklicherweise nicht einzugehen.
Nur ein Umstand sei noch hervorgehoben. Auf den beiden Seiten der Proportion brauchen durchaus nicht Größen von der gleichen Sorte zu stehen; z.B. oben in der Aussage AB2:AC2 = 1:2 standen links Flächen, rechts ganze Zahlen, und in der anderen Aussage AD2 : AB2 = AC : AB stehen links Flächen, rechts Strecken. Der λόγος ist also kein spezifischer Begriff der Lehre von den Strecken allein, auch nicht der ebenen Geometrie oder der Lehre von der Zeit, sondern er ist ein über diesem allem stehender abstrakter Begriff, und die Definition der Proportion von Euklid V ist die Brücke, die ebene Geometrie, Stereometrie, Mechanik, Arithmetik u.s.w. miteinander verbindet.