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4. Der λόγος-Begriff bei Plato
ОглавлениеPlato hat in seinen exoterischen Schriften, d.h. in den für die große Öffentlichkeit bestimmten Dialogen, die wissenschaftliche Erkenntnistheorie, die er in der Vorlesung „Über das Gute“ berührt haben muß, nie dargelegt und nie darlegen wollen. Nur soweit ethische oder pädagogische Zwecke es ihm erwünscht erscheinen lassen, streift er den Bereich, der uns hier interessiert. Neben dieser schriftstellerischen Tätigkeit läuft bei Plato die große wissenschaftliche Gemeinschaftsarbeit im engen Kreise der Akademie, in der sich ein großer Teil seiner Lebensarbeit, seine Wirkung als Persönlichkeit dokumentiert. Man muß sich das vergegenwärtigen, um an den mathematischen wie an den erkenntnistheoretischen Bestand seiner Dialoge mit der richtigen Einstellung heranzutreten.
Es gibt kaum einen Dialog Platos, der frei wäre von mathematischen Anzüglichkeiten; das Erlebnis der Mathematik, die Bekanntschaft mit unbenannten Zahlen, mit denen man rein abstrakt rechnet, muß ihn von vornherein aufs äußerste berührt haben; von der Existenz der Irrationalzahlen berichtet er selbst, daß er sie erst als verhältnismäßig reifer Mann kennengelernt habe9. Das Aufheben, das er von dieser doch eigentlich intern-mathematischen Entdeckung macht, versteht man nur, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Hoffnung, die Welterkenntnis auf der reinen Zahl aufbauen zu können, damit endgültig zusammenbrach. Nach dem oben über die Proportionenlehre der Griechen Gesagten wird dies wohl deutlich sein. Denn wenn schon die Verhältnisse (λόγοι)der Geometer dieser primitiven Arithmetisierung, diesem Aufbau aus dem ἕν und den aus ihm abgeleiteten ganzen Zahlen trotzten, wie sollte dann die gesamte Denkwelt aus ihnen aufgebaut werden?
Dreimal ist Plato an entscheidenden Stellen auf die Proportionen zu sprechen gekommen. Das eine Mal in der Epinomis, und zwar in einer Art, die einen tiefen Einblick gerade in die oben berührten Existenzfragen der Mathematik und eine auf den Kopf zutreffende mathematische Redeweise verrät, wie sie z.B. Aristoteles seinerseits nirgends in solcher Positivität darbietet10.
Das zweite Mal an derjenigen Stelle der Gesetze VII, 819d–820e, die oben schon gestreift wurde. Es handelt sich hier um den mathematischen Schulunterricht in der Oberstufe, oder wenigstens schickt Plato voraus, daß nur ein Teil der Gegenstände, die er hier aufführt, in den gemeinsamen Unterbau aller öffentlichen Schulen gehört. Zuerst empfiehlt er den propädeutischen Unterricht im Abzählen und Anordnen von Gegenständen, das die ägyptischen Kinder alle im Spielen und nicht auf wissenschaftliche Art lernen. Sodann (819c7) kommt er auf das Messen (ἐν τας μετήσεσιν)zu reden, das Messen von Strecken, von Flächen (er denkt an Rechtecke) und Körpern (er denkt an rechtwinklige Kästen speziell). Der allgemein Gebildete in Griechenland meine, je zwei Dinge seien gegeneinander meßbar, Länge mit Länge, Fläche mit Fläche, Körper mit Körper und auch gegenseitig: Länge mit Fläche, Länge mit Körper, Fläche mit Körper. Und doch ist alles dies falsch, und es ist eine Schande, daß der gebildete Grieche das nicht weiß, und von höchstem Wert, wenn er es richtig, wissenschaftlich lernt (ἐπστασθαι)und auch (820b9) alle die damit zusammenhängenden falschen Vorstellungen (ἁματήματα ἀδελϕά), von denen die Lehre von den rationalen und irrationalen Verhältnissen ihren Ausgangspunkt nimmt, wörtlich (820c4):
τὰ τν μετητν τε α ἀμέτων πὸς ἄλληλα τινι ϕσει γέγονεν. | in welcher Entwicklung sich die Theorie von den zueinander meßbaren und von den zueinander nicht meßbaren Gröben aufbaut11. |
Die Stelle ist nicht ohne Schwierigkeiten12; aber glücklicherweise berühren diese Schwierigkeiten nicht dasjenige, woruf es hier ankommt, daß nämlich von der Lehre vom Irrationalen hier die Rede ist – das ist noch nie anders aufgefaßt worden – und von den πὸς ἄλληλα, dem auch bei Euklid typischen Wort für das Sichzueinanderverhalten zweier Größen13, von der Proportionenlehre und ihren Anwendungen. Besonders illustriert wird dies noch durch eine Bemerkung, die Plato vorausschickt (819a3–6), daß es beim Unterricht in diesen Dingen viel besser sei, wenn der Lernende zuvor gar nichts weiß, als wenn er unter schlechter Anleitung viele Übung und viel Wissen in diesen Dingen bereits erworben habe. Hier glaubt man einen heutigen Universitätslehrer der Mathematik darüber klagen zu hören, daß seine Studenten vieles von der Differentialrechnung schon auf der Schule gelernt haben, aber in einer solchen Art, daß er mehr Mühe hat, es ihnen wieder auszutreiben, als wenn sie gar nichts davon wüßten. Denn in der Tat ist der Aufbau der Proportionenlehre und jene Sphäre, die oben als die Revolution in der griechischen Mathematik bezeichnet wurde, der eigentliche Kern der Schwierigkeiten, die sich beim Lehren der Differentialrechnung darbieten. So erhält also die Vorbemerkung 819a in Verbindung mit der oben gegebenen Deutung von 820c4 einen ausgezeichneten Sinn.
Die dritte Stelle, im Philebos 25a7, zeigt die Proportionenlehre im Rahmen der Ideenlehre. Die beiden Klassen des πέας und des ἄπειον sind unterschieden worden, des „Begrenzten“ und des „Unbegrenzten“, wie die übliche Übersetzung lautet. Es wird erörtert, was für Gegenstände in beiden Klassen enthalten sind; in der des Unbegrenzten sind es Dinge der realen Welt, bei denen es ein Größer und Kleiner gibt, ein Schneller und Langsamer od. dgl.; zusammenfassend zu einem Allgemeinbegriff (zu einem ἕν)wird gesagt: bei denen es ein Mehr oder Weniger (μλλόν τε α ττον)gibt. Wie ein Petschaft wird diese Formel des μλλόν τε α ττον angesehen, aus der die einzelnen Spielarten sich wie Siegelabdrücke (ἐπισϕαγισθέντα)ergeben (26d1). Nach dem Unbegrenzten kommt die Klasse des Begrenzten heran und es heißt:
πτον μὲν τὸ σον α σότητα, μετὰ δὲ τὸ σον τὸ διπλάσιον α πν ὅτιπε ἂν πὸς ἀιθμὸν ἀιθμὸς ἢ μέτον πὸς μέτον. | zuerst das Gleiche und die Gleichheit, nach dem Gleichen das Doppelte und überhaupt jedes Verhältnis, nach dem sich Zahl zu Zahl oder Maß zu Maß verhalten kann (25a7). |
Es wird dann noch eine dritte Klasse hinzugefügt, die des Gemischten (μειτόν), und während die ausdrücklich gestellte Forderung, auch die Klasse des Begrenzten in eine allgemeine Formel, ein ἕν oder eine δέα zusammenzufassen, beiseitegeschoben wird (25d7 und nochmals bekräftigt 26d5), wird diese dritte Klasse formuliert als γένεσις ες οσίαν ἐ τν μετὰ το πέατος ἀπειγασμένων μέτων (26d8). Ich übersetze diese Worte absichtlich nicht. Übersetzen heißt jedesmal Bekennen. Bekennen muß man und darf man an einer Stelle wie oben aus den Gesetzen 820c4, in dem Bewußtsein, daß jede Übersetzung irgendwelche Nuancen hineinsetzt, die nicht ganz echt sind. Das Wort ϕύσις mußte dort übersetzt werden; dabei konnte sehr wohl eine ganz andere Schattierung gewählt werden als geschehen, es sind noch allerlei Freiheiten offen; aber es ist ebenso sicher, daß diese Willkürlichkeit für den vorliegenden Zweck nebensächlich war, daß das, was hier aus der Übersetzung gefolgert wurde, jenseits aller dieser Unbestimmtheiten liegt. In solchem Sinne zu übersetzen ist mir an der eben vorliegenden Stelle nicht möglich. Die ganze Seite, in die sie eingelagert ist, ist sowohl philologisch als auch sachlich voll des Problematischen.
Ich habe von dieser Philebossstelle mehr referiert, als ich für den vorliegenden Zweck nötig hatte. Die Worte 25a7 zeigen unzweideutig die Proportionenlehre inmitten des πέας, und zwar als das einzige, was als Beispiel dafür angeführt wird. Nun ist sicher, daß diese Klasse des πέας eine allgemein erkenntnistheoretische, keine spezifisch mathematische Angelegenheit ist. Die Proportion, der λόγος, wie es bei Euklid heißt, erscheint hier als der Kern der erkenntnistheoretischen Behandlung der Dinge. Konnte von der Philebosstelle aus allein noch ein Zweifel bleiben, ob hier über die λόγοι der Arithmetik, die ganzzahligen Verhältnisse hinaus auch die allgemeinen Größenverhältnisse von Euklid V gemeint sind, so behebt das Danebenhalten der Gesetzesstelle jeden Zweifel in dieser Richtung – und eben darum ist sie hier so wichtig. Hält man hierzu, daß, wo Plato noch in seinen späteren Dialogen überhaupt von Mathematischen redet, sich bei genauerem Zusehen alles immer nur um ἀναλογα, um πὸς ἄλληλα gruppiert, so wird das klar, was man in diesen Popularschriften allein zu finden erwarten kann, was aber auch durchaus ausreicht, nämlich daß ihn die erkenntnistheoretische Auswertung des λόγος-Begriffs eingehend beschäftigt hat, daß sie das Primäre ist, was ihn an der Mathematik anzieht. Erst nachdem wir die in den Kommentatoren enthaltenen Fragmente analysiert und das Ergebnis mit dem bisherigen Resultat vereinigt haben, wollen wir rückblickend das Problematische erörtern, was an dieser Philebosstelle eben noch haften geblieben ist.
Hier seien noch zwei Stellen referiert, die einen Begriff von der erkenntnistheoretischen Auweitung des λόγος-Begriffs geben, wie sie Platos Absicht gewesen sein muß. Im Staat (Ende von Buch VI) bedient er sich der ἀναλογα als einer Art literarischen Symbols, das bis zum Ende von Buch VII über dem Ganzen steht. Den Bereich aller Dinge teilt er wie eine Strecke in zwei Teilstrecken, die der realen und die der gedachten Dinge, und jede dieser Teilstrecken teilt er nach dem nämlichen Verhältnis wiederum in zwei Teilstrecken, so daß die ganze Strecke in vier Teile zerfällt, deren beide mittleren übrigens gleichgroß sein sollen, so daß die linke sich zur mittleren Länge wie diese zur rechten verhält. Diese Proportion von 509d7 verfolgt er dann dauernd bis in kleine Wortspiele hinein, die man bisher mißverstanden hat, weil man an die mathematische Sphäre nicht zu denken pflegte, die Plato selbst stets gegenwärtig war, und besonders in der Umgegend von Stellen, die die Mathematik zum Thema haben, wie es auch hier in Staat VII der Fall ist.
Eines dieser Wortspiele (534a6) weist über die Spielerei hinaus. Nachdem die Proportion der vier Bereiche in der Redeweise des πός τι nochmals zum Schluß aufgetreten it, heißt es: eine weitere, erneute Zweiteilung und Fortsetzung dieser Proportion (ἀναλογαν α διαεσιν) wollen wir unterlassen, damit wir nicht in πολλαπλάσιοι λόγοι heißt zunächst: vervielfachte, noch kompliziertere Überlegungen, und so ist es immer übersetzt worden. Aber διπλάσιος λόγος heißt im Euklid das quadratische Verhältnis, wie es z.B. im vorliegenden Gleichnis zwischen der kürzesten und der längsten der drei verschiedenen Längen besteht, τιπλάσιος λόγος das kubische14; die πολλαπλάσιοι λόγοι haben also den wortspielerischen Nebensinn der Fortsetzung jener Analogie in höhere Dimensionen – eine Anspielung auf den Bereich der Proportionenlehre, die zugleich auf die Zusammengehörigkeit von λόγος und διαεσις verweist. Diese Verknüpfung ist für die vorliegende Arbeit wesentlich; zeigt sie doch, wie das πος τι des λόγος sich der allgemeinen Idee der διαίεσις eingliedert, von der aus Stenzel an die Platonischen Ideenzahlen herangetreten ist.
Διαίεσις nämlich ist das Verfahren der Begriffseinteilung, das Plato besonders im Sophistes lehrt. „Gewerbe gibt es zweierlei, produktive, die Neues schaffen, und erwerbende“ – das ist das Muster, nach dem ein Begriff untergeteilt wird in zwei (oder im Philebos auch mehrere) zu einander komplementäre Unterbegriffe. Eine Stelle aus dem Sophistes nun ist es, die wir hier noch heranzuziehen haben. 250e handelt es sich um das Verhältnis von ὄν und μὴ ὄν, dem Seienden und dem Nichtseienden, sowie um das Verhältnis von Philosoph und Sophist, deren Aufgabe darin gesehen wird, der eine das Seiende, der andere das Nichtseiende zu studieren. Das sind schwierige Dinge, heißt es; aber jede Klarheit, die wir über das ὄν gewinnen, wird automatisch sich auf das μὴ ὄν ausbreiten:
α ἐὰν α μηδέτεον δεν δυνώμεθα, τὸν γον λόγον ὅππε ἂν οο μεν επε-πέστατα διωσόμεθα οτως ἀμϕον ἂμα. | und sollten wir keines von beiden für sich schauen können, so würden wir vielleicht doch ihr gegenseitiges Verhältnis für beide zugleich aufs trefflichste zu erkennen vermögen (251a1). |
In solchen Worten verrät Plato mehr von seinen eigentlichen Zielen als in den sog. Resultaten der Dialoge, nach denen oft so vergebens gesucht worden ist. Und sie zeigen hier, wo die διαεσις das Leitmotiv des Dialogs ist, daß er sie nicht formal als Unterteilung faßt, sondern daß ihm alles auf das gegenseitige Verhältnis der Teile ankommt, und daß dieses vielleicht eine klarere Evidenz aufweisen kann als die Teile und ihre Summe selbst. Das ist aber aufs Haar genau die Situation der mathematischen λόγοι, deren Name hier überdies noch auftritt.
Es erscheint verlockend, die Grundthese dieser Arbeit an der Hand solcher Stellen ins Erkenntnistheoretische auszuweiten und so einen Oberbau hinzustellen, der die Grundzüge von Stenzels Theorie und meine These zugleich umfaßt. Ich glaube, das wird erst dann an der Zeit sein, wenn der ganze Bestand der Platonischen Ideenlehre in seinem Verhältnis zum Mathematischen systematisch erforscht it. Eine zu früh hingestellte Behauptung könnte die Unvoreingenommenheit einer solchen Analyse beeinträchtigen.