Читать книгу Handbuch der Medienphilosophie - Группа авторов - Страница 28
4. Facetten des ‚Botenmodells‘
ОглавлениеAusgangspunkt ist, dass Medien ‚dazwischen‘ oder ‚inmitten‘ situiert sind. Medien verbinden heterogene Domänen, Felder, Systeme oder Welten, indem sie Übertragung und Austausch zwischen denen ermöglichen, in deren ‚Zwischenraum‘ und ‚Mitte‘ sie situiert sind. Doch ist der Bote nicht eine denkbar archaische Figur, Restbestand einer Kultur, der nachrichtentechnische Mittel (noch) nicht zu Gebote stehen? Wie kann die Botenfigur Leitbild dafür werden, was ein Medium leistet? Unsere Antwort geben wir in Gestalt von sieben Aspekten, die das Reflexions- und Anknüpfungspotenzial des Botenmodells aufweisen: Distanz, Heteronomie, Drittheit, Neutralität, Wahrnehmbarmachen, Materialität, ontologische Indifferenz. Zu berücksichtigen ist bei all dem der Modellcharakter: Ein Medium ist kein Bote; doch die Perspektive der Medialität gewinnt – konturiert im Horizont der Botenfigur – aufschlussreiche Züge.
(1) Distanz als Grundphänomen aller Mit-teilung: Keine Kommunikation ohne Distanz. Das Entferntsein voneinander ist Grundbedingung aller Kommunikation. Dabei ist Distanz nicht auf räumlich/zeitliche Entfernung beschränkt, sondern impliziert auch die Differenz, welche die Kommunizierenden in der Fülle ihrer unterschiedlichen Geschichten und Erfahrungen füreinander fremd sein lässt. Mitteilung setzt immer eine Art von Teilung und Geteiltsein voraus (Nancy 1994: 171; Nancy 1996). Der Bote wird zum Bezugspunkt – nicht für das, was Distanz bzw. Differenz ist, sondern dafür, wie wir mit Distanz und Differenz umgehen. Verschiedenheit wird durch den Botengang nicht annulliert, sondern überbrückt und damit als eine Differenz bewahrt und handhabbar gemacht. Der Umgang mit Distanz und mit dem Entfernten/Abwesenden ist eine – wenn nicht die – Springquelle von Kultur.
(2) Heteronomie als Sprechen mit fremder Stimme: Boten sprechen im fremden Namen. Der Bote ist nicht selbstständig, nicht Ursprung seines Tuns: Er spricht mit fremder Stimme, empfängt und übermittelt, was nicht von ihm selbst erzeugt wurde. Diese diskursiv ohnmächtige Position erscheint wie ein Negativabdruck jener Souveränität des sprechenden Subjekts, welche die philosophische Sprechakttheorie grundiert (Searle 1969). Es wundert nicht, dass die Philosophie geradezu geboren wird aus der Zurückweisung des Botenmodells. Platons Kritik am Rhapsoden ist immer auch Kritik an demjenigen, der seine Rede nur als Botenrede versteht. Der Bote realisiert eine Rolle, deren Drehbuch er nicht selbst geschrieben hat. Doch zeichnet sich in dieser Fremdbestimmtheit nicht auch das Kulturgut des Theatralen ab? Mit der Stimme eines anderen und für einen anderen zu sprechen, ist das Ethos des Botengangs. Zugleich hat der Bote immer auch teil an der „Telekommunikation der Macht“ (Sloterdijk 1999: 668), insofern die Verbreitung der Botennachricht den Raum einer Herrschaft sicherzustellen sucht. – Wo immer es um Medien geht, ist deren Heteronomie, also ‚Außengeleitetheit‘ ein charakteristischer Zug.
(3) Drittheit als Keimzelle des Sozialen: Der Bote stiftet eine soziale Relation.33 Die Mittlerstellung als ein Drittes zwischen zwei Seiten inauguriert eine triadische Form des Zusammenhanges, für die der Bote wesentlich ist, ohne doch ihr Subjekt und Urheber zu sein. Wir denken gesellschaftliche Strukturen, also intersubjektive Beziehungen zumeist als dyadische Formen: als Sprecher und Hörer, Ego und Alter Ego, Herr und Knecht, Sender und Empfänger, Produzent und Rezipient. Das Auftauchen eines Dritten erscheint störend und parasitär. Doch mit dem Übergang zur Instanz eines Dritten – das ist unsere Vermutung – wird überhaupt erst jene Ebene erreicht, in welcher Interaktionen sich zu gesellschaftlichen Institutionen verdichten (können). Drittheit – und nicht Dualität – bildet die Keimzelle des Sozialen (Eßlinger et al. 2010).
(4) Neutralität und diabolische Entgleisung: Neutralität ist die Wurzel des Mittleramtes; Indifferenz gegenüber den Parteien, zwischen denen etwas zu übertragen oder gar zu vermitteln ist, scheint ein Gebot. Der Bote ist eine Person, welche ihre Mission durch eine Art von Depersonalisierung realisiert: Ein Amt wird erfüllt durch Selbstneutralisierung.44 Doch die Mittlerstellung ist ambivalent. Denn in der Position eines Dritten verbindet der Bote nicht nur, sondern distanziert zugleich; er kann unterbrechen und Zwist stiften, Streit aussäen, Intrigen einfädeln. Vermittlung hat ein Doppelgesicht: Sie kann symbolisch sein, also zusammenwerfend (‚symballein‘ griech.: zusammentragen/-werfen), oder diabolisch, somit auseinanderdividierend. Die diabolische Entgleisung ist der Dritten- und Neutralitätsfunktion des Boten genuin eingeschrieben.
(5) Wahrnehmbarmachen von Unsichtbarem: Die ‚Uneigentlichkeit‘ der Botenrede verweist darauf, dass der Bote, indem er etwas sagt, vor allem etwas zeigt. In seiner Rede vergegenwärtig und präsentiert er die Rede eines Anderen. Der Bote ist eine Institution nicht der Kommunikation, vielmehr des Sichtbarmachens von etwas, das nicht präsent, sondern abwesend und unsichtbar ist. Im Horizont des Botenmodells wird das Wahrnehmbarmachen, also das Zeigen, zur grundständigen Funktion jener Art des Sprechens, die der Botenrede eigen ist.
(6) Materialität als Verkörperung: Was immer eine Botschaft ist, sie muss aus der Situation ihrer Genese ablösbar und transportierbar sein. Als Teil des Materialitätskontinuums bewegt der Bote sich im Zwischenraum des Sinnaufschubs. Die Äußerlichkeit des Sinns ist seine Operationsbasis. Nur kraft handgreiflicher Aufspaltung von Sinn und Sinnlichkeit, Text und Textur, Form und Gehalt ist Übertragung möglich. Im Boten verschränken sich In- und Exkorporation. Die Materialität von Kommunikation gewinnt handgreifliche Gestalt in der Botenfigur.
(7) Ontologische Indifferenz: Gemessen an sprechakttheoretischen Kriterien ist der Bote diskursiv ohnmächtig und in seiner Übertragungsfunktion ersetzbar durch nichtpersonale Entitäten, also symbolische bzw. technische Systeme und Apparaturen. Die ubiquitäre Botenfunktion digitalisierter Kulturen ist das ‚Interface‘. Nichts ist technisch so gut übertragbar wie die Funktion des Übertragens selbst. Der Bote ist eine Person, die sich verhält, als ob sie ein Apparat sei. Die ontologische Differenz zwischen Mensch, Zeichen und Maschine diffundiert; die Grenze zwischen Personalem, Symbolischem und Technischem wird operativ durchlässig. Nirgendwo ist das Zusammenwirken von Menschen und Dingen handgreiflicher als im Botengang: ‚Akteursstatus‘ kommt im Botenmodell zumeist Konglomeraten aus Menschen, Symbolen und Apparaten zu. Eine anthropomorphe Deutung des Botenmodells ist ausgeschlossen.