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„Alles Wirkliche wird phantomhaft,
alles Fiktive wirklich“. Medienphänomenologie und
Medienkritik bei Günther Anders Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz 1. Natürliche und künstliche Medialität:
Von der Konstitution zur Konstruktion

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Der Kulturkritiker und „Medienphilosoph avant la lettre“ Günther Anders (1902–1992) studierte Philosophie und Kunstgeschichte u.a. bei Edmund Husserl und Martin Heidegger (Hartmann 2008: 211). In kritischer Auseinandersetzung mit seinen akademischen Lehrern reflektierte der spätere philosophe engagé in seiner Frühzeit die phänomenologische Wahrnehmungs- und Konstitutionstheorie und den Begriff des „In-der-Welt-seins“ vor der Folie einer Musik- und Kunstphilosophie. Im Gegensatz zum Okularzentrismus, den er in Husserls Phänomenologie ortete, versuchte Anders allen sinnlichen Wahrnehmungsformen in ihrer spezifisch weltkonstituierenden und welterschließenden Funktion gerecht zu werden, insbesondere der Differenz zwischen Hören und Sehen (Anders 1930/31). An Heideggers pragmatischer Auslegung des In-der-Welt-seins monierte er die Absenz von Kunst- und Naturschönem (Anders 1928). In seiner frühen Anthropologie interpretierte er das „In- Sein“ darüber hinaus als ein „Insein in Distanz“ im Sinn einer Weltfremdheit, die er positiv als „Weltoffenheit“ bestimmte. Epistemologisch bedeutet Weltoffenheit die apriorische „Aposteriorität“, d.h. Erfahrungsbedürftigkeit des Menschen, seinen offenen Erfahrungshorizont. Anthropologisch ist damit die Unfestgelegtheit des Menschen auf eine bestimmte Welt und seine prinzipielle „Künstlichkeit“ begründet (Anders 1930, 1934, 1936).

Sein wahrnehmungstheoretisches Erkenntnisinteresse führte dazu, dass sich Anders bald auch Formen künstlicher Medialität, Radio und Film, später auch dem Fernsehen zuwandte. In seiner Technik- und Medienkritik analysierte er das „In-der-Welt-sein“ unter modernen technisch-medialen Bedingungen und charakterisierte den neuen Existenzmodus als ein konformistisches „unfrei In-der-Welt-Sein“ (Anders 1980: 218).

Bedroht sieht er die anthropologisch konstatierte Weltoffenheit des Menschen, seine Unfestgelegtheit und Diversität. Im Sinn der (postmodernen) These vom Verschwinden des Subjekts und von der Technik als neuem Subjekt der Geschichte (Technokratie-These) fasst Anders das heutige Dasein als „mediales Dasein“, in dem fundamentale traditionelle Differenzen nivelliert sind, etwa jene zwischen Poiesis und Praxis, Aktivität und Passivität, Subjekt und Objekt. Den Begriff der „Medialität“ verwendet Anders (1980: 441) als „Warnungsschild“, das vor dem Rückfall in ‚ungültig gewordene Alternativbegriffe‘ bewahren soll.

Medienphänomenologisch ortet Anders eine Verschiebung vom Konstitutionsbegriff zum Konstruktionsbegriff, d.h. von der Welt als (wahrer) Erscheinung zur Welt als (falschem) Schein. Anders’ zentrale These, wonach die Welt zum Abbild ihres Bildes werde, bedeutet eine Umkehrung des Erfüllungs- und Fundierungsverhältnisses zwischen Bild und Realität (imaginativen und perzeptiven Akten): Nicht mehr das Bild ist in der Realität fundiert, sondern die Realität im Bild.

Anders ergänzt seine phänomenologischen Analysen durch sozioökonomische Erklärungsfiguren. Dabei definiert er das Verhältnis von Sein und Bewusstsein neu, nämlich im Sinn einer Prävalenz der Technik vor Politik und Ökonomie: Nicht mehr die ökonomische Basis bestimme das Bewusstsein, sondern die technisch-materielle, statt Politik oder Ökonomie sei die Technik „unser Schicksal“ (Anders 1956: 7). Diese aber ist „systemneutral“ oder „post-ideologisch“, insofern sie ihre Wirkung auf Mensch und Welt unabhängig von der zugrunde liegenden sozioökonomischen Struktur entfaltet: „Da das Ideologische in die Produkte- (namentlich in die Geräte-) Welt selbst eingegangen ist, stehen wir nun bereits in einem nach-ideologischen Zeitalter.“ (Anders 1980: 190) Das bedeutet, dass nicht mehr die Produktionsverhältnisse im Zentrum der Kritik stehen dürfen, sondern die Produktionsmittel und das Produkteuniversum: Die Unfreiheiten von heute seien „in viel höherem Maße Folgen der Technik als der Eigentumsverhältnisse“ (Anders 1980: 108). Damit konterkariert Anders (1980: 28) den Technik- und Fortschrittsoptimismus sowohl des Marxismus als auch des Kapitalismus.

Wenn marxistische Begriffe, vor allem der Waren- und Entfremdungsbegriff, in Anders’ Medienphilosophie eine zentrale Rolle spielen, so verweisen diese primär auf einen technischen „Weltzustand“. Statt von „Kapitalismus“ spricht Anders daher bevorzugt von Industrialisierung, Massenproduktion, Massenkonsum, Warenform, Konformismus usw., durchaus im Sinn eines kulturpessimistischen „Technik- und Massendiskurses“ (Bollenbeck 2007: 233). Anders’ Medienphänomenologie formiert sich im Zusammenspiel mit diesen marxistisch-materialistischen und kulturkritischen Erklärungsfiguren zu einer Medienkritik mit deutlichem „Verwerfungsgestus“ (Engell 2012: 210).

Den historisch-biografischen Hintergrund dieser Theorieentwicklung bilden zum einen die Erfahrung medialer Propagandapraxis im Nationalsozialismus, zum anderen die Entfremdungserfahrungen eines großbürgerlich sozialisierten, humanistisch gebildeten europäischen Intellektuellen im amerikanischen Exil (1936–1950) angesichts einer fortgeschrittenen Massen- und Konsumgesellschaft. Anders’ aisthetischer und neutralisierender Medienbegriff gewann im Zuge dieser Entwicklung zunehmend anti-instrumentelle Züge. Im wiederholten Hinweis, moderne Medien seien mit ästhetischen Kategorien nicht mehr adäquat zu erfassen (Anders 1956: 130f., 142; Anders 1980: 250), manifestiert sich die Verschiebung seines Erkenntnisinteresses von natürlicher zu künstlicher Medialität, von der Kunst- zur Technikphilosophie. Und während er sich in seiner Exilzeit noch mit dem politisch-didaktischen Potenzial von Radio und Film auseinandersetzte, wie entsprechende Arbeiten aus dem Nachlass zeigen, lehnt er in der späteren Medienkritik einen instrumentellen Medienbegriff dezidiert ab (Anders 1956: 99f.; LIT 237/W28–31).

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