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4 Konventionalisierte Emotionen: Der Fall der Dankbarkeit

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Dankbarkeit als Teil sozialer Relationen ist weitgehend eine kulturell geformte Emotion (cf. z.B. Sommers 1984). Sie wird in vielen Alltagssituationen zur sozialen Pflicht, z.B. beim Empfang von Geschenken, bei einer Einladung oder als Reaktion auf Komplimente. Undankbarkeit wird in solchen Situationen als Charakter- bzw. Erziehungsmangel sozial stigmatisiert (cf. Alston 200: 112). Interkulturelle Studien zeigen allerdings, dass die Dankbarkeit in informellen Gesprächssituationen viel häufiger implizit oder schweigend als verbal ausgedrückt wird.

For speakers of Lao (Southeast Asia) or Siwu (western Africa), saying ‘thank you’ is so rare that it may be perceived as bizarre or out of place, whereas English speakers in foreign contexts sometimes find it rude when gratitude is left unspoken. Languages like Cha’palaa (South America) have no conventional way to say ‘thank you’ at all, and while some speakers know the Spanish word ‘gracias’, they are unable to translate it. (Floyd et. al. 2018: 8)

Die Dankbarkeit als emotionale Einstellung zum Adressaten wird explizit im Sprechakt des Dankens ausgedrückt. Searle bringt dies in seinem Kommentar zu diesem Sprechakttyp folgendermaßen auf den Punkt: „Danken bedeutet nur, Dankbarkeit auszudrücken“ (Searle 1973: 103). Der illokutionäre Zweck dieses Sprechakts und somit seine wesentliche Regel wird von ihm vorher als „Ausdruck der Dankbarkeit oder Anerkennung“ (Searle 1973: 102) beschrieben. Searle bemerkt außerdem, dass sich die Aufrichtigkeitsregel beim Danken weitgehend mit der wesentlichen Regel deckt: Aufrichtiges Danken kommt dann zustande, wenn der Sprecher gegenüber seinem Adressaten Dankbarkeit empfindet.

Aus der wesentlichen (konstitutiven) Regel des Dankens, dass Danken als Ausdruck der Dankbarkeit oder Anerkennung gilt, ergibt sich die Einleitungsregel hierfür: „Wenn ich jemandem danke, impliziert das für mich, daß das, wofür ich mich bedanke, mir geholfen hat.“ (Searle 1973: 108). Die Dankbarkeit kann man außerdem nur für etwas Vergangenes empfinden1 (Regel des propositionalen Gehalts) und nur für etwas, was einem vorteilhaft bzw. nützlich ist und als solches erscheint (Einleitungsregel).

Betreffs der Regel des propositionalen Gehalts hat sich in der sprechakttheoretischen Forschung bereits die Meinung durchgesetzt, dass der Sachverhalt, auf den man mit einer Danksagung Bezug nimmt, stets als gegeben vorausgesetzt und nicht erst mit dem Sprechakt behauptet wird (cf. Brandt et al. 1992: 55, Hanks 2018: 140, Finkbeiner 2019: 143–145). Selbst wenn in eine expressive Äußerung eine Proposition wie in (7) eingebettet ist, benennt sie nicht den Inhalt des Akts des Dankens, sondern den Anlass, zu dem die expressive Illokution vollzogen wird. Beim Fehlen des expliziten Nennens dieser Angabe in (8) und (9) wird die Sprechhandlung einer Danksagung nicht weniger korrekt als in (7) vollzogen, denn die Illokution wird allein durch das Verb danken bezeichnet.

(7) He thanked her for opening the door (Hanks 2018: 140).
(8) Oh, vielen Dank!
(9) Vielen, vielen Dank!

Sander (2003: 10) unterstreicht die Subjektivität der entsprechenden Überzeugung eines Sprechers, der kaum über die objektive Vorteilhaftigkeit des Dankanlasses urteilen kann. Z.B. ist die Danksagung für ein geschenktes Motorrad auch dann berechtigt und geglückt, wenn der Sprecher „am nächsten Tag in einen Unfall verwickelt wird, der ihn für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl fesselt“ und „die Handlung des Schenkens von außen und retrospektiv“ (ebd.) kaum als Vorteil angesehen wird. Aus diesem Grund formuliert Sander die Searle’sche Einleitungsregel wie folgt um: Ein Sprecher ist der Überzeugung, dass eine Handlung des Hörers für ihn von Vorteil war (ebd.). Im Hinblick aber auf z.B. das misstrauische Danken scheint mir die subjektive Überzeugung des Sprechers als Einleitungsbedingung nicht auszureichen, sondern vielmehr die Searle’sche Formulierung „A benefits S and S believes A benefits S“ (Searle 1969: 67) zu gelten, die auch die Perspektive „von außen“ mit berücksichtigt, darunter etwa die Überzeugung des Hörers, dass er eine dem Sprecher vorteilhafte Handlung ausgeführt hat.

Sander weist allerdings zurecht auf eine weitgehende Redundanz in der Searle’schen Definition des Akts des Dankens hin, insofern die in der wesentlichen Regel geforderte Dankbarkeit des Sprechers nicht nur bereits in der Aufrichtigkeitsregel gefordert wird, sondern sich begrifflich auch mit der Einleitungsbedingung weitgehend überlappt: „Gehört es nicht zu einem […] Begriff der Dankbarkeit, daß der Dankbare die ausgeführte Handlung als vorteilhaft betrachtet?“2 (Sander 2003: 11). Wie bereits in Abschnitt 3. bemerkt, spricht sich der Autor dafür aus, dass die Dankbarkeit sprechakttheoretisch nicht nur als „eine Art von Empfindung“ (ebd.)3 behandelt wird, sondern als innerer Zustand, der zugleich eine evaluative Überzeugung des Sprechers beinhaltet, die wiederum das Vorteilhafte als Formalobjekt hat.

Für den geglückten Vollzug einer Danksagung ist es dementsprechend prinzipiell unerheblich, ob der Sprecher beim Sagen einer Dankformel dankbar gestimmt ist. Solange der Sprechakt im gegebenen Kontext Höflichkeitserwartungen und andere soziale Normen erfüllt, wird er korrekt vollzogen. Dies wird auch von Searle zugegeben:

In den Fällen, in denen durch die Aufrichtigkeitsbedingung ein psychischer Zustand bestimmt wird, gilt der Vollzug des Aktes als Zum-Ausdruck-Bringen jenes Zustandes. Dieses Gesetz gilt unabhängig davon, ob der Akt aufrichtig oder unaufrichtig vollzogen wird, d.h. unabhängig davon, ob der betreffende psychische Zustand bei dem Sprecher wirklich besteht oder nicht. (Searle 1973: 107)

Searle zufolge ist also ein Danke! auch dann ein gelungener expressiver Sprechakt, wenn die Aufrichtigkeitsbedingung nicht erfüllt wird, z.B. wenn der Sprecher keine Dankbarkeit empfindet, sondern nur das Bedürfnis verspürt, einer sozialen Konvention zu folgen oder ihr nachzugeben4. Wenn also in diesem Sinne unaufrichtige Danksagungsakte immer noch gelungene, obschon für manche Forscher defekte (cf. Kissine 2013: 184) Sprechakte sind, dann müsste ihr illokutionärer Zweck eigentlich nicht im Ausdruck der vorhandenen oder nicht vorhandenen Emotion liegen – wie es Austin und Searle wollen – sondern eher in der Erfüllung der sozialen Norm, diese Emotion in bestimmten Situationen ausdrücken zu sollen. Da der Emotionsausdruck durch Konvention zur sozialen Pflicht geworden ist, muss man in der Regel zu weiteren verbalen – z.B. mehrmaliger Wiederholung des Danke! oder zusätzlichen Exklamationen wie in (10) – (13) – bzw. nonverbalen, z.B. mimischen, gestischen, kinetischen Mitteln greifen, um die tatsächlich vorhandene Emotion der Dankbarkeit auszudrücken.

(10) Das ist genau das, was ich gebraucht habe!
(11) Das ist so eine Erleichterung für mich!
(12) Das war so eine große Hilfe!
(13) Das werde ich dir nie vergessen!

Noch deutlicher wird die Rolle des Konventionellen beim Ausdrücken von Emotionen der Dankbarkeit im Falle von misstrauischem, missmutigem bzw. ironischem Dank. Was in diesen Sprechakten als eigentlich ausgedrückter innerer Zustand gelten kann, ist weniger Dankbarkeit als Misstrauen, Missmut, Unzufriedenheit bzw. Verärgerung, also innere Zustände, die die Dankbarkeit entweder begleiten oder auch gänzlich verdrängen können, so dass die Äußerung im Extremfall nur eine Kritik am Adressaten statt Dankbarkeit ausdrückt.

Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Definition einer Danksagung könnte man sich mit guten Gründen fragen, ob insbesondere ein ironischer Dank – wie etwa die Danksagung in (14) als Reaktion auf eine Auskunftsverweigerung – immer noch die illokutionäre Kraft des Dankens hat.

(14) A: Wo finde ich die Garderobe?
B: Hier jedenfalls nicht.
A: Vielen Dank, dass Sie mir so freundlich Auskunft erteilt haben.

Dem Äußern des Danks liegt hier ein Vermissen von adressatenseitiger Hilfsbereitschaft, also nichts Vorteilhaftes für den Sprecher und keine Dankbarkeit seinerseits zugrunde. Die Dankformel ist zwar den Höflichkeitskonventionen gemäß gebraucht, kann aber nicht in ihrem konventionellen Sinne gemeint sein5. Der ausgedrückte psychische Zustand des Sprechers hat hier mit dem Danken als sog. sekundärer Illokution nur soweit zu tun, als die Äußerung indirekt auf die mangelnde Bereitschaft des Sprechers zur emotionalen Einstellung der Dankbarkeit verweist. Die letztere müsste eventuell wie z.B. in (15) ausgedrückt werden. Das Danken in (14) kann also wütend, verärgert, tadelnd, missmutig, sich distanzierend, aber kaum noch dankend gemeint sein, so dass (16) unmöglich gesagt werden kann, denn in der Äußerung würde es sich um zwei kontradiktorische Evaluationen derselben Situation handeln wie in (5).

(15) Danke trotzdem.
(16) # Vielen Dank, dass Sie mir so freundlich Auskunft erteilt haben, ich danke Ihnen trotzdem.

Die Rolle des Konventionellen bei einer ironischen Danksagung kann man wie folgt zusammenfassen: Auf der lokutionären Ebene werden sprachliche Konventionen eingesetzt, während auf der illokutionären die konventionelle, kulturell bedingte Bewertung einer Auskunftsverweigerung stattfindet. Die sekundäre Illokution in (14) fällt mit der lokutionären Bedeutung des geäußerten Satzes zusammen, aber bedankt hat man sich mit dem Satz nicht einmal annähernd.

Empörung, Revolte, Emotion

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