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D. Zur Diskussion in Theorie und Anwendungspraxis

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Es ist nicht überraschend, dass innerhalb der critical (legal) studies, in deren Rahmen Derrida 1989 über force of law vortrug, auch die wesentliche, zunächst theoretische Diskussion begann. Wesentlich war, was man von der DekonstruktionDekonstruktion und ihren Lektüren und Operationen politisch eigentlich halten sollte. Derrida las zwar MarxMarx, Karl und lobte ihn, vertrat aber ersichtlich keine marxistische Lehre; er las auch Carl Schmitt und Heidegger, ohne sie sogleich wegen ihrer NS-Verstrickung zu verwerfen. Was konnte das politisch heißen? Auf elegante Weise hatte Richard RortyRorty, Richard schon in den Achtzigerjahren Derrida als privaten Ironiker ins Lager der Selbstverwirklichung ohne politischen Bezug abgelegt[137]. Die möglicherweise auf Aktionismus eingerichtete Linke ist dem nicht beigetreten.

Auf einem im Jahre 1993 von Chantal MouffeMouffe, Chantal unter dem Titel »Deconstruction and Pragmatism« organisierten Symposium hat die Veranstalterin die DekonstruktionDekonstruktion als Verabschiedung einer konsenstheoretischen Illusion vorgestellt. |40|Man habe fälschlich unterstellt, »dass es möglich sei, ein ›Wir‹ herzustellen, das ›die Anderen‹ nicht beinhaltet«[138], weil der demokratische Konsens vorspiegele, es gebe so etwas wie einen alle umfassenden »Grundkonsens«. Der heute von MouffeMouffe, Chantal vertretene »linke Populismus« folgt ebenso wenig aus dieser Diagnose, wie dekonstruktives Denken einfach unpolitisch wäre. Derrida selbst hat darauf bestanden, dass »die Dekonstruktion scheinbar politisch neutral ist«, aber gleichzeitig auch – »indem sie Pfaden und Codierungen folgt, die nicht rein traditionell sind« – eine »Hyperpolitisierung« bewirke[139]. Simon CritchleyCritchley, Simon wiederum ist programmatisch der RortyRorty, Richard-These entgegengetreten, die Dekonstruktion diene allein der privaten Selbstverwirklichung und bewähre sich in einem neuen Genre der Liebesbriefe und Bekenntnisse wie in Derridas Sammlung über die Postkarte aus den Siebzigerjahren[140]. Als Gegenbeispiel führte er die beiden Vorträge zu Force of Law an und beharrte für die Dekonstruktion als Methode und Derrida als Person auf dem Prädikat des öffentlichen Liberalen[141]. Eine Gelegenheit zur Darstellung dieses öffentlichen Liberalismus bot der 1994 veranstaltete und gut dokumentierte Villanova Roundtable. John Caputo erläuterte in der Tagungsveröffentlichung, dass erst dekonstruktiv die Lücke zwischen Recht und GerechtigkeitGerechtigkeit eröffnet werde. Oberflächenbetrachter des Rechts bemerkten sie nicht. Erst wenn man sie bemerkt, wird es möglich, aus der Möglichkeit der Dekonstruktion wirkliche Schlussfolgerungen zu ziehen, denn es handelt sich nach der Konzeption von Caputo dabei keineswegs um ein beobachtend philosophisches Verfahren[142]. Dekonstruktive Eingriffe prägen einen Regimewechsel, sie formen den Übergang von altem Unrecht zu eigentlichem Recht, wobei dieser Übergang nur gelingen kann, wenn und weil es eine Wirklichkeit der Dekonstruktion gibt. Der weltweite Anwendungsfall dafür ist unter dem Titel transitional justice zum Stichwort geworden[143].

Offensichtlich ist DekonstruktionDekonstruktion notwendig, wenn ein früher als geltend erklärtes Recht heute zu Unrecht erklärt wird. Erst vom Ursprungsparadox her – vor dem Hintergrund der DifferenzDifferenz zwischen Recht und Nicht-Recht – sieht man, dass nicht etwa beliebige Inhalte zu Recht gemacht werden können. Bloßes Zurechtmachen und Herrichten schafft keine Geltung. Was abstrakt klingt, hat Marc Amstutz am Nürnberger Anklagepunkt 4 im |41|Hauptkriegsverbrecherprozess konkret verdeutlicht[144]. Dabei ging es um die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem bis zum heutigen Tage wichtigen Topos im Völkerstrafrecht. Beruht die Verfolgung insoweit auf neuem, vorher unbekannten Recht oder war sie schon von jeher Rechtsinhalt?

Gustav RadbruchRadbruch, Gustav hat bereits im Jahre 1946 klar gemacht, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur GerechtigkeitGerechtigkeit ein Gesetz zu »unrichtigem Recht« machen kann (die sog. »RadbruchRadbruch, Gustav-Formel«)[145], und Amstutz beschreibt die methodische Bewegung dabei als supplément. Grundlegende Rechtsgehalte wirken als negatives, im Hintergrund immer gegenwärtiges, aber vordergründig marginales Verständnis und können die gesetzlichen Bestimmungen unwirksam machen. Das ist Recht, nicht Politik. Catherine Turner hat den Zusammenhang beschrieben[146]. Sie macht dabei deutlich, dass in einem dekonstruktiven Konzept von justice nicht nur ein immer schon vorhandenes regulatorisches Idealbild des Rechts steckt. Das Verlangen nach justice erweitert vielmehr die Rechtsformen. Was das praktisch heißt, sieht man am »Recht auf Wahrheit«. Dabei handelt es sich um mehr als um die Wahrheitsmäßigkeit gerichtlicher Feststellungen. Im Gegenteil: Eingeklagt wird die Notwendigkeit solcher Feststellungen beim Ausbleiben der Wahrheit. Juristen haben sich erst daran gewöhnen müssen, dass die Hinterbliebenen der Opfer der RAF keine Ruhe geben, dass die Auschwitz-Opfer von dem Wachmann Demjanjuk eine Beschreibung dessen erwarten, was er getan hat, und der Vater von Wolfgang Grams nicht hat glauben wollen, dass sein nach einem Schusswechsel mit Polizeibeamten toter Sohn einem Selbstmord erlegen wäre. Diese deutschen Beispiele stehen neben den Schicksalen Hunderttausender, die auf Verfahren warten, in denen dargestellt wird, wie ihre Angehörigen zu Tode gekommen sind. Die Praxis des argentinischen Militärregimes, Missliebige zu verschleppen und dauerhaft verschwinden zu lassen, bis den Angehörigen klar war, dass die Kinder oder Ehemänner umgebracht worden sind, hat zu einem neuen Wahrheitstyp geführt[147]. Den Müttern der Plaza de Mayo gesteht José Brunner[148] den bedeutsamsten Beitrag für die Genese eines »Rechts auf Wahrheit« zu. Den Hintergrund für das unstillbare Bedürfnis, genauen Aufschluss über den Tod zu bekommen, sieht er in der gefühlsmäßigen Verfassung derjenigen, die ein solches Recht einfordern. Susanne Buckley-Zistel verweist im gleichen Zusammenhang auf Derrida und die Verfahren der südamerikanischen Wahrheitskommissionen. Erst wenn die Wahrheit von einer Kommission |42|»aufgedeckt und archiviert wurde, kann sie – wenn auch nur vorübergehend – vergessen werden, da sie jederzeit wieder abrufbar ist«[149].

Gespenstersuche und damit »Hantologie« erweist sich in diesem Zusammenhang als Anleitung zu Urteilsanalysen. Wie man das macht, zeigt – in Anlehnung an Derridas Gespenster-Buch über MarxMarx, Karl – Christiane Wilke[150]. Sie behandelt das Reinwarth-Urteil des BGH aus dem Jahre 1995, durch das ein SED-Richter nach über 40 Jahren wegen von ihm selbst für falsch gehaltener Todesurteile wegen Rechtsbeugung verurteilt worden ist. Im Urteil liest man dementsprechend ein selten formuliertes Eingeständnis verfehlter Rechtsprechung: »Die vom Volksgerichtshof gefällten Todesurteile sind ungesühnt geblieben, keiner der am Volksgerichtshof tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte wurde wegen Rechtsbeugung verurteilt; ebenso wenig Richter der Sondergerichte und der Kriegsgerichte«[151]. Das bis dahin geübte Unterlassen suchte die spätere Rechtsprechung als deren Gespenst heim. Die gleiche MetapherMetapher verwendet Linda Roland Danil in der Relektüre einer Entscheidung des britischen Supreme Courts über die Täter eines 1948 im damaligen British Malaysia begangenen Massakers[152]. In Keyu and Others vs. Secretary of State and Others[153] gründete das britische Gericht die Klageabweisung auf Verjährung – ein immer zweifelhaftes und Einwänden ausgesetztes Argument, wie auch die Entscheidung des EGMR im polnischen Katyn-Fall zeigt[154]. Alle diese Argumentationen jenseits parlamentarisch (oder diktatorisch) gesetzten Rechts benutzen dekonstruktive Teilelemente. Alle Anwendungsfälle haben ein wiederkehrendes Merkmal: Die rechtliche Beurteilung verlangt, die Setzungen einer einzelstaatlichen Gewalt zu überschreiten. Erst die »Dissoziation von Staatsgewalt und Recht«[155] lässt offenbar werden, wo das Recht Kraft gewinnen kann.

Niklas LuhmannLuhmann, Niklas hat – von seinen Ausgangspunkten her nicht selbstverständlich – der DekonstruktionDekonstruktion einen besonderen Platz im aktuellen Theoriebetrieb zugewiesen. Dekonstruktiv erledige man genau das, »was wir jetzt tun können«[156], und das heißt, dass wir nicht mehr die Welt beschreiben, sondern zu sehen versuchen, wie die Welt beschrieben wird, was unvermeidlich deren Zerlegung in Elemente – Dekonstruktion eben – nach sich zieht. Was das für Rechtsphänomene heißt, hat in der LuhmannLuhmann, Niklas-Nachfolge Gunther TeubnerTeubner, Gunther demonstriert. Dekonstruktiv deutet Teubner das Gerechtigkeitsdenken als |43|»Transzendenzerfahrung, die gerade nicht mit religiöser Transzendenz identisch ist«[157]. Zu Teubners Repertoire gehört die ParadoxieParadoxie-Entfaltung. Wo LuhmannLuhmann, Niklas noch schnelles Weitergehen empfahl, damit man nicht völlig verwirrt werde, praktiziert TeubnerTeubner, Gunther genaues Hinsehen und fallweise Beschreibungen, und im Ergebnis wird man als Jurist unruhig. Denn die Beobachtung zweiter Ordnung verlangt durchaus nach Eingriffen und führt keineswegs zur Erstarrung. Teubner entlehnt dafür von Rudolf Wiethölter die »Rätselformel«, moderne Rechtspflege sei Pflege der RechtsparadoxieParadoxie wie zugleich ihrer Erhaltung und Behandlung[158]. Die Untersuchungen dazu konzentrieren sich beispielhaft auf transnationale Rechtsphänome. So treffen aufeinander der national ganz unterschiedliche Schutz des Copyrights und die international gleichförmige, internetgestützte Kommunikation über Werke, es widersprechen sich der Patentschutz für Medikamente durch nationale Behörden und der lebenserhaltende, weltweite Bedarf an solchen Medikamenten oder – das ist bereits erwähnt – das nationale Interesse an Prozesserledigung und die internationale Nachfrage nach menschenrechtlich geschützter Wahrheit[159]. TeubnerTeubner, Gunther besteht nun zwar darauf, dass das Auffinden solcher Widersprüche mit einer evolutionären Umgestaltung des Rechts zu verbinden sei und nicht (im Sinne von LévinasLévinas, Emmanuel) in eine Suche nach etwas anderem als Recht versickert[160], vorläufig beschränken sich aber die Andersartigkeiten des Rechts entweder auf andere Hintergrundsannahmen in der Methodenlehre oder bestehen in einem humanitären Appell, wie ihn Derrida selbst[161] für einen Kongress der »villes-refuge« im Jahre 1995/6 (!) als Plädoyer für unbedingte Gastfreundschaft (hospitalité inconditionelle) gehalten hat.

Das ist nicht wenig. In der deutschen Methodenlehre herrscht bis zum heutigen Tage die stillschweigende Hintergrundannahme, das Gesetz bestimme die Entscheidung. Ein solches Dogma bestimmt die kontinentale universitäre Juristenausbildung, auch wenn es dadurch verfeinert wird, es seien mit und neben dem Gesetz weitere Texte zu berücksichtigen, deren Bedeutung oder Geltungssinn die Rechtlichkeit einer Entscheidung ausmachen soll. Der Einwand gegen die DekonstruktionDekonstruktion geht beispielsweise dahin, dass sich hinter einer Ethik des Anderen auch nichts anderes als der Gleichheitssatz verberge[162]. Das universalistische Potential menschlicher Sprachen werde dabei unterschätzt[163]. Der Rechtsanwender habe sich wie der Adressat von Rechtsnormen »an der generellen Norm |44|zu orientieren«, so dass die von Derrida beförderte Einzelfallorientierung die Hauptfunktion des Rechts, seine Regelhaftigkeit[164], bedrohe. Auch in der Rechtstheorie wird die Philosophie Derridas bis auf Weiteres nur als Mittel zu Infragestellungen einer Regel vorgestellt[165].

Grundlegende Qualität entfalten Derridas Texte erst in einer Methodenlehre, die in operative Einzelheiten zerlegt, was Rudolf Wiethölter programmatisch so umformuliert: Nicht Rechtsanwendung, sondern »Rechts-Gewinnung« als Begründung in Anwendung, eher »Herstellung« als »Darstellung« charakterisiere die juristische Arbeit[166]. Friedrich Müller und Ralph Christensen setzen diese Bewegung in Methodik um mit der Formel, das »rechtsstaatlich Zulässige« sei vor der Folie des »methodisch Möglichen« zu bestimmen, sodass der Gesetzestext ein heterogenes »Gewebe von DifferenzenDifferenz« enthalte[167], dessen Sinn in einem gestuften Konkretisierungsvorgang zu bestimmen, aber nicht, auch nicht in der Form einer gesetzlichen Regel vorgegeben sei. Der Normtext wird im dekonstruktiven Sinne als Eingangsgröße für die Arbeit der Konkretisierung verstanden, enthalte sie aber nicht bereits[168]. Müller/Christensen zeigen an der neu entstandenen europäischen Rechtsordnung und Rechtsprechung, dass der Normtext erst dadurch funktioniere, dass er von einer vordefinierten Bedeutung durch den »Sender« abgeschnitten sei. Marc Amstutz untersucht dazu die Wirkungsweise des europarechtlichen Gebots richtlinienkonformer Auslegung und bezeichnet den Prozess als »evolutorische Kollisionsauflösung«[169]. Es wird zu einer dekonstruktiven Operation, bei jeder neuen Verwendung zu berücksichtigen, dass der Sinn einer Norm nicht einfach identisch wiedergegeben, sondern verschoben »und neuen, unvorhergesehenen Situationen aufgepfropft« werde[170]. In der Regensburger Habilitation von Joachim Goebel waren schon im Jahre 2001 Vorschläge enthalten, wie man »Traditionsschutt«, den der angeblich überlieferte Gesetzestext angehäuft habe, wieder wegräumen könne, nämlich durch ein Rechtsgespräch als Gegenmittel zu »überbordender Theorie«[171] und Medium zur Artikulation »des Anderen«[172]. Goebels Arbeit ist am Privatrecht orientiert und vertieft demgemäß |45|die gesprächsorientierten Normen der ZPO, von dessen Magna Charta (§ 139 I ZPO) über § 278 ZPO bis zu Art. 103 GG[173]. In der Betonung des Rechtsgesprächs kann man eine Reverenz an die UnentscheidbarkeitUnentscheidbarkeit sehen, die Derrida als Grundlage und Ergebnis aller paradoxalen Sprachbemühungen hervorgehoben hat. Ihr entspricht die mit Derrida und LévinasLévinas, Emmanuel entwickelte Mediationskultur von Stephan Schmitt[174]. Im Medium der Gerichtsstatistik und als Tendenz ausgedrückt: Es wird zunehmend mehr verglichen und weniger entschieden[175].

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