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III. VerfassungVerfassung als strukturelle Koppelung von Recht und Politik

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Aus diesen Überlegungen resultiert ein innovativer Zugriff auf den Begriff der VerfassungVerfassung und die Tradition des Konstitutionalismus. In der Rechts- und Verfassungstheorie war immer umstritten, ob die Verfassung am Ende als Ausdruck einer vorgängigen politischen Entscheidung des »Volkes« oder als notwendige Folge rechtlicher Herrschaftsbegrenzung verstanden werden sollte[211]. Die SystemtheorieSystemtheorie argumentiert hier nuancierter. Die Verfassung wird nicht einseitig auf den Vorrang politischer Entscheidung oder rechtlicher Herrschaftsbegrenzung zurückgeführt; vielmehr gilt sie als evolutionäre Errungenschaft, in der die beiden Funktionssysteme Recht und Politik eine wechselseitige Verbindung eingehen. Die Verfassung reagiert auf die »Differenzierung von Recht und Politik« und »den damit gegebenen Verknüpfungsbedarf«[212]. Wiederum ist die funktionale Differenzierung entscheidend: Recht und Politik differenzieren sich schrittweise aus und sind in der Verfassung systematisch i.S. einer strukturellen Koppelung aufeinander bezogen. Als strukturelle Koppelung bezeichnet die Systemtheorie |55|die jeweiligen Interpenetrationen, die entstehen, wenn »ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft« voraussetzt und sich auf sie »verlässt«[213]. Durch Verfassungsbildung wird das Herstellen kollektiv bindender Entscheidungen (Politik) rechtlich formalisiert (und dadurch ermöglicht und beschränkt), und umgekehrt wird die Stabilisierung normativen Erwartens (Recht) an die Politik, insbesondere die Gesetzgebung, angebunden. Ist diese Ko-Evolution der beiden Systeme erst einmal in der Verfassung institutionalisiert, verändert sich die Codierung des rechtlichen und politischen Systems. Denn sowohl der politische Machtcode (Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit) als auch der Rechtscode (Recht/UnrechtUnrecht) müssen sich zusätzlich einer Beobachtung vom Typ verfassungsgemäß/verfassungswidrig aussetzen, die als höherrangig gilt[214]. Dann »hebt die Verfassung ab«[215]. Sie hält nicht nur fest, wie Recht, Politik und Gesellschaft zusammenspielen und sich voneinander abgrenzen, sie hält auch eine Option der Revision und Erneuerung bereit. Mit Bezug auf die höherrangige Verfassung werden Rechtsentscheidungen und politische Entscheidungen neu verhandelt und sowohl bestehende Institutionen als auch gesellschaftliche Bewegungen können sich von dort aus zum Handeln ermächtigen. Die Kämpfe um die Verfassung und ihre Normen machen die Grenzziehungen zwischen Recht, Politik und Gesellschaft der Veränderung zugänglich. Diese höherrangige, konstituierende Verfassungspolitik knüpft zwar an die etablierte Selbstreferenz in Recht und Politik an, vermag sie aber gleichsam zu revolutionieren[216].

Die dort stattfindenden Kämpfe verhelfen sich nun nicht einzig als verallgemeinerte politische Gründungsmomente im Sinne von »constitutional moments« zum Ausdruck, sondern funktional spezifiziert in der Codierung der jeweiligen Funktionssysteme. Die Verfassungsfrage stellt sich nicht nur im Hinblick auf die großen Gründungsmomente der Politik, sondern ebenso in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, etwa im Bereich der Wirtschaft und der Wissenschaft. Auch hier findet eine Ko-Evolution des Rechts mit anderen Funktionssystemen statt, die sich im Medium einer höherrangigen Ordnung stabilisieren. Deshalb muss ein angemessener Zugriff auf die Tradition des Konstitutionalismus diese Vielfalt präsent halten. So erweitert sich der Blick über die politische VerfassungVerfassung hinaus für einen gesellschaftlichen Konstitutionalismus, der in der Rechtsevolution schon immer angelegt war (beispielsweise als Wirtschafts- und Sozialverfassung, als Verfassung von Wissenschaft und Forschung oder als Kirchenverfassung im Religionssystem)[217].

Im Hinblick auf die Frage, ob die VerfassungVerfassung aus einer politischen Entscheidung hervorgeht oder die Herrschaftsausübung rechtlich bindet, nimmt die |56|SystemtheorieSystemtheorie eine funktionale Betrachtungsweise ein. Das Paradox der Verfassung, sich einerseits auf die noch ungebundene politische Gründungsmacht des Volkes zu gründen, das Volk aber im selben Schritt aufs Recht zu verpflichten, führt zwar zu lebhaften Diskussionen in der Staats- und Verfassungslehre über Vor- und Nachrangigkeiten, Über- und Unterordnungen des Rechts unter die Politik oder der Politik unter das Recht. Doch gerade die paradoxe Unbestimmtheit erfüllt eine wichtige Funktion. Sie besteht in der Externalisierung der jeweiligen Fundierungsparadoxien. Indem »die Verfassung […] die politisch ungebundene Souveränität an die Verfahren des Rechts« bindet, externalisieren beide Systeme ihre jeweiligen Fundierungsprobleme »reziprok«[218]. Denn mit der Verfassung im Rücken weist die Politik darauf hin, dass die Gründungs- und Grundsatzfragen der Ordnung letztlich rechtliche Fragen sind, die von Verfassungsgerichten und nicht von politischen Gremien zu bearbeiten sind. Und umgekehrt wird in rechtlichen Verfahren darauf hingewiesen, dass die Politik für die Grundentscheidungen verantwortlich ist, die den Handlungsspielraum der Gerichte übersteigen. Jedes System verweist so die eigenen Fundierungsprobleme an das jeweils andere Sozialsystem und kann seine kommunikativen Routinen weiterverfolgen.

Insofern übernimmt das Paradox der VerfassungVerfassung eine wichtige Funktion, indem es eine Entlastung der jeweiligen Funktionssysteme bewirkt. Recht und Politik erbringen wechselseitige Leistungen füreinander und entlasten sich in einer Art Daueroszillation von ihren eigenen Gründungsproblemen. Wenn die Verfassungs- und Rechtstheorie zwischen politischem Dezisionismus und rechtlicher Bindung, zwischen Carl Schmitt (Politikprimat) und Hans Kelsen (Rechtsprimat) hin- und her laviert oder Mittelwege entwirft, entfaltet sie nicht nur ein begriffliches Problem, sondern ein Realparadox, das seinerseits entscheidend zur Evolution von Recht und Politik beiträgt.

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