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|57|I. Reflexives Recht

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»Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung«, so diagnostizierte ein Vertreter der kritischen Rechtsstaatslehre der frühen Frankfurter – Otto Kirchheimer – in den 1920er Jahren[219]Systemtheorie. Kirchheimer zeigte, wie das Recht in der modernen Gesellschaft zu einer großen »Rechtsmaschine« avanciert, zu einem allgegenwärtigen Mechanismus, der alle gesellschaftlichen Fragen in Rechtsfragen überführt[220]Systemtheorie. Kein soziales Feld mehr, von der Lohngestaltung für Arbeitnehmer_innen bis zum familiären Zusammenleben, das nicht in der Form des Rechts bearbeitet und zum Gegenstand gerichtlicher Entscheidung und begrifflicher Dogmatik würde.

Die erste Welle systemtheoretischer RechtskritikRechtskritik, die in den 1970er und 1980er Jahren einsetzte, aktualisierte diese Diagnose für die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft des Wohlfahrtsstaates[221]. Damit reihte sie sich in die lebhaften Diskussionen der Rechts- und Sozialwissenschaften der damaligen Zeit ein: Einerseits fand ein Ausbau des Wohlfahrtsstaates statt. Es stellte sich die Frage, welche Rolle das Recht für den Ausbau von Staatsfunktionen und dezentralen Selbstverwaltungsstrukturen übernehmen sollte[222]. Andererseits diskutierten die Rechts- und Sozialwissenschaften in der Folge der Ereignisse des Jahres 1968, wie das Schlagwort von einer »Demokratisierung der Gesellschaft« auszubuchstabieren sei. Die SystemtheorieSystemtheorie des Rechts nutzte hier die Einsichten in die Selbstreferenz der Sozialsysteme für rechtspolitische Zwecke[223]. So identifizierte Gunther TeubnerTeubner, Gunther die Möglichkeit eines reflexiven Rechts, das sich sowohl den Steuerungsproblemen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaften stellt als auch die eigenen Kolonisierungseffekte im Hinblick auf andere, schützenswerte Teilrationalitäten der Gesellschaft zurückdrängt[224].

|58|Der Verrechtlichungsbefund der kritischen Rechtsstaatslehre wird also um eine systemtheoretische Pointe erweitert. Demnach verbreitet sich das Recht in der Gesellschaft und die Koppelung mit anderen Sozialsystemen intensiviert sich. Das Recht ist aber nicht nur in der Staatsverfassung mit der Politik verkoppelt, sondern ebenso mit der Wirtschaft und dem Arbeitsleben (Wirtschafts- und Arbeitsverfassung), mit dem Wohlfahrtsstaat (Sozialverfassung) und mit der Wissenschaft (Wissenschaftsverfassung) – und so ist eine Vielfalt konstitutioneller Ko-Evolution zu beobachten, die weit über den Staat hinausreicht. Statt ein Steuerungszentrum auszuflaggen, dem sich die Vielfalt sozialer Systeme unterzuordnen hätte, besteht die Herausforderung darin, die wechselseitige Koppelung und die Autonomie der Sozialsysteme auf Dauer zu ermöglichen. Hier kommt das Recht ins Spiel. Es hält Verfahren bereit, mit denen die jeweiligen Paradoxien der Selbst- und Fremdreferenz angemessen entfaltet und durchgearbeitet werden können.

Dieser Zugriff grenzt sich von einem einseitigen, politikzentrierten Steuerungsanspruch ab. Denn in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft neigt die Idee eines allumfassenden Steuerungszentrums dazu, die existierenden Differenzierungsmechanismen und die damit in Zusammenhang stehenden Autonomieräume zu zerstören. Deshalb sind teilsystemspezifische Reflexionsprozesse gefragt, die in je spezifischen Kontexten sicherstellen, dass die Produktivkräfte der funktionalen Differenzierung nicht in Destruktivkräfte umschlagen: »Reflexionsprozesse innerhalb gesellschaftlicher Teilsysteme müssen in hochdifferenzierten Gesellschaften an die Stelle gesamtgesellschaftlicher Integrationsmechanismen treten […].«[225] Steuerungsprobleme liegen nämlich vor allem dann vor, wenn sich die jeweiligen Sozialsysteme selbst überhöhen und sich an die Stelle der gesamten Gesellschaft setzen. Folglich ist eine Demokratisierung der Gesellschaft nur in nicht-vulgärer, kontextsensibler Form zu realisieren[226]. Insbesondere gilt es abzuklären, welche Leistungen und Funktionen das Recht für andere Prozesse sozialer Selbstorganisation erbringt[227]. Eine »Selbstlimitierung des Rechts« erscheint dort aussichtsreich, wo es mit seiner juridischen Eigenrationalität zerstörerische oder kolonisierende Effekte erzielt. Das Recht kann aber auch die gewünschte Demokratisierung abstützen, wenn es die »strukturellen Voraussetzungen für selbstregulatorische Prozesse« schafft[228].

LuhmannLuhmann, Niklas hatte dieser reflexiven Wende in der SystemtheorieSystemtheorie des Rechts scharf widersprochen[229]. Er kritisierte, dass die avisierte Kontextsteuerung nur schwache |59|Realisierungschancen hat und bringt die Geschlossenheit des Rechtssystems in Stellung. Im Bereich der Rechtserkenntnis gehe es nicht um eine weit gefasste, kontextuelle Adäquanz, die die sozialen Umwelten mit einbezieht, sondern nur um den internen Anschluss an die Rechtskommunikation. Folglich könne »über reflexives Recht (…) nicht hemmungslos soziales Wissen ins Recht einfließen«[230]. LuhmannLuhmann, Niklas bringt eine vergleichsweise geschlossenere Lesart der Selbstreferenz ins Spiel. Sie bescheinigt den reflexiven Demokratisierungsbestrebungen, entweder an der Geschlossenheit des Rechtssystems abzuprallen oder das Rechtssystem mit externen Anforderungen zu überlasten. Wer die modernen Sozialsysteme mit Anforderungen und Erwartungen überlädt, so LuhmannLuhmann, Niklass Argumentationsgang, bewirke letztlich eine Ent-Differenzierung und schränke die Freiheitsgrade der modernen Gesellschaft ein. An dieser ersten Welle der systemtheoretischen RechtskritikRechtskritik zeigt sich, wie das Wechselspiel aus Öffnung und Schließung bis in die rechtspolitische Diskussion hineinragt.

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