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II. Die Policeynormen als reine Steuerungsnormen
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Steuerungsfunktion des Policeyrechts
Aber noch in einem weiteren, vielleicht noch gravierenderen Punkt unterschied sich das Policeyrecht grundlegend vom modernen Verwaltungsrecht. Dessen Aufstieg stand in untrennbarem Zusammenhang mit der „Durchsetzung des Verfassungsstaates seit dem Wiener Kongress“.[135] Dieser Vorgang war mit einer neuartigen Deutung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger (das ältere Wort „Untertan“ wird nun anrüchig) verbunden. Neu war die Vorstellung, dass zwischen Bürger und Staat so etwas wie ein „Rechtsverhältnis“ mit beiderseitigen Rechten und Pflichten bestehe, das sich in Anlehnung an zivilrechtliche Rechtsverhältnisse interpretieren lasse. Die policeylichen Normen hatten den Untertan demgegenüber nur als Pflichtenträger, nicht aber als Inhaber subjektiver Rechte angesprochen. Die Policeygesetzgebung der Frühen Neuzeit hatte nur solche Normen hervorgebracht, die ausschließlich auf die direkte Verhaltenssteuerung ausgerichtet waren. Die zahllosen Ge- und Verbote der Policeyordnungen beinhalteten ausschließlich konkrete Anweisungen an die Untertanen, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Hand in Hand mit der neuen rechtlichen Deutung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger ging ein in einem neuen Grundrechtsverständnis wurzelndes Denken, das den Bürger mit einer geschützten subjektiv-individuellen Rechtssphäre umgab, in die der Staat nur unter den im parlamentarischen Gesetz festgelegten Bedingungen eingreifen durfte. In Robert von Mohls „Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates“ von 1832/33 kommt diese „allmähliche rechtliche Durchdringung“ schon im Titel der Darstellung zum Ausdruck.[136]
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Schutzfunktion des modernen Verwaltungsrechts
Als reinen Steuerungsnormen fehlte den Policeynormen des Ancien Régime eine wesentliche Funktion des modernen Verwaltungsrechts, nämlich die rechtliche Begrenzung staatlichen Handelns gegenüber den Bürgern. Das moderne Verwaltungsrecht erschöpft sich bekanntlich nicht in reiner Verhaltensnormierung. Das gilt insbesondere für das allgemeine Verwaltungsrecht, bei dem die Steuerungsfunktion in den Hintergrund rückt. Es handelt sich hier in erster Linie um Schutznormen, die das staatliche Handeln vorprogrammieren und damit für den Bürger vorhersehbar machen sollen. Es enthält nicht nur an die Untertanen gerichtete Ge- und Verbote, sondern ist gleichermaßen genau in die umgekehrte Richtung adressiert, nämlich an den Staat, dessen Handeln auf bestimmten Aktionsfeldern normativen Bindungen unterworfen wird. Das Ganze basiert auf einem spezifischen Gesetzesverständnis: Das Gesetz ist hier mehr als nur ein reines Steuerungsinstrument; ebenso wichtig ist seine Bedeutung als Instrument der Sicherung bürgerlicher Freiheit. Im „Rechtsstaat“ entfaltet das Gesetz zweiseitig verbindende Kraft – ein Gesichtspunkt, auf den dann nicht zuletzt Otto Mayer mit großem Nachdruck insistiert.[137] Noch in der zweiten Auflage unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg argumentiert Mayer dabei mit der Dichotomie von „Rechtsstaat“ und „Polizeistaat“. Den „Rechtsstaat“ verbindet Mayer nun damit, dass in ihm das Gesetz zweiseitig verbindende Kraft entfalte: Die im Gesetz an die Untertanen gerichteten Normen enthielten immer auch ein entsprechendes Sollen für die Behörde,[138] denn mit dem von ihm erlassenen Gesetz binde sich der Staat selbst.[139] Verwaltungsrecht wird hier also verstanden als Recht zwischen zwei Rechtssubjekten. Umgekehrt zeichnet sich der „Polizeistaat“ bei Mayer gerade dadurch aus, dass bei ihm das Öffentliche Recht im Grunde „gar kein Recht“[140] ist. Neben die Idee obrigkeitlicher Steuerung der gesellschaftlichen Ordnung, die Grundidee, aus der die Policeygesetzgebung ursprünglich erwachsen war, trat auf diese Weise der Gedanke, den Bürger vor der Polizeigewalt durch deren rechtliche Festlegung und Begrenzung zu schützen. Früher noch findet sich das bei Lorenz von Stein. Auch für von Stein ist die begriffliche Verbindung der „Polizei“ mit dem „Recht“ nur aus der Perspektive der Schutzfunktion überhaupt sinnvoll: „Der Begriff des Rechts“, so von Stein, „entsteht erst auf dem Punkte, wo die Funktion der Polizeiorgane in die Sphäre des individuellen Lebens hineingreift und im Namen des Gesamtwohls eine Beschränkung der persönlichen Freiheit von dem Einzelnen fordert. [. . ..] Das Wesen der freien Persönlichkeit fordert aber andererseits, dass diese polizeiliche Beschränkung nicht in der Willkür der Polizeiorgane liege, sondern selbst wieder eine feste, durch den allgemeinen Willen gesetzte Grenze habe. Und die Gesamtheit von Grundsätzen, Regeln und geltenden Bestimmungen, welche der polizeilichen Funktion überhaupt gegenüber der persönlichen Freiheit eine solche Grenze geben, bilden das Polizeirecht“.[141]
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Neues Gefahrenbewusstsein gegenüber dem Staat
Diese zentrale Funktion des modernen Verwaltungsrechts fehlte dem frühneuzeitlichen Policeyrecht hingegen noch völlig. Allerdings hat sich an der Wende zum 19. Jahrhundert ein erstes Gefahrenbewusstsein gegenüber einer Policey bemerkbar gemacht, die sich als „fürchterlichste Plage und gefährliches Werkzeug der Unterdrückung“[142] erweisen kann, wenn sie nicht rechtlich eingehegt wird. Im berühmten „Handbuch des teutschen Polizeirechts“ von Günter Heinrich von Berg findet sich bereits ein, wenn auch noch sehr kurzer, aber doch bemerkenswert deutlich formulierter Abschnitt über die „Grenzen der Policeygewalt“ gegenüber den Staatsbürgern.[143] Werden sie überschritten, arte die Policey „in Despotismus und Tyranney“ aus.[144] In solchem Ton zeigt sich wohl tatsächlich ein erstes „rechtsstaatliches Bemühen“.[145] Hand in Hand damit ging eine deutliche Neuakzentuierung bei der Definition des Policeyrechts. Es wurde nun beschränkt auf „die Rechte und Pflichten, die zwischen dem Staate und dem Bürger in den öffentlichen Verhältnissen eintreten“, also diejenigen „Rechte und Pflichten, welche Abgaben und alle die Einschränkungen betreffen, die sich jeder Bürger in dem Gebrauch seines Eigentums nach dem Inhalt der Polizey-Verordnungen gefallen lassen muss“.[146]
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Auswirkung auf die Beamtenausbildung
Die Verrechtlichung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger hat auch eine erneute Verrechtlichung der Beamtenausbildung bedingt, weil es nun zunehmend darauf ankam, die rechtlichen Grenzen des staatlichen Handelns zu kennen. Man hat diese Entwicklung daher auch als Begleiterscheinung zur „Durchsetzung der konstitutionellen Monarchie“ und des Rechtsstaates bezeichnet.[147] Das wird nicht zuletzt in dem Bedeutungsschwund sichtbar, den die Kameralwissenschaften in den Ausbildungsgängen zur Verwaltungspraxis vor allem gegenüber der Jurisprudenz hinnehmen mussten: In der preußischen Beamtenausbildung ist seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts eine allmähliche Juridifizierung der Ausbildungsgehalte festzustellen.[148] Die kameralistisch-policeywissenschaftlichen Ausbildungspunkte verloren gegenüber den rechtlich-juristischen immer mehr an Gewicht. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts „wurde die kameralistische Ausbildung der höheren Verwaltungsbeamten in Preußen durch Schulung in Rechtsinterpretation und Gesetzesausführung verdrängt, die weitgehend mit der Qualifikation zum Richteramt identisch war“.[149] In der Folgezeit setzte sich auch in den übrigen deutschen Staaten, zuletzt in Württemberg, die justiz-juristisch orientierte Qualifikation des Verwaltungsnachwuchses durch.[150] Damit verbunden war der allmähliche Abstieg der Policeywissenschaft: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist diese Disziplin von der Bildfläche verschwunden: Aus der Policeywissenschaft wurde die „Verwaltungslehre“, die in Lorenz von Stein noch einmal einen hervorragenden Exponenten fand. Aber die Verwaltungslehre verlor gegenüber der juristischen Ausbildung der Beamten zunehmend an Boden.[151] Freilich blieb das Öffentliche Recht zunächst – sogar noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, wie Michael Stolleis eingehend gezeigt hat, – im juristischen Curriculum der deutschen Universitäten ganz deutlich unterrepräsentiert.[152]