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IV. Staatskatastrophe und Reformen in Preußen

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Besiegtes Land mit Reformkonzepten

Durch seine Entscheidung von 1795 für die Neutralität stand Preußen 1806 ohne Verbündete da. Nach der verlorenen Schlacht von Jena und Auerstedt verdankte es seine Weiterexistenz, jedoch unter Verluste aller Gebiete westlich der Elbe, im Frieden von Tilsit 1807 mehr dem Zaren Alexander I. als Kaiser Napoleon. König und Regierung waren nach Memel in den äußersten Nordosten geflüchtet, und von hier aus setzte eine breite Reformbewegung ein. Freiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein entwarf mit seiner „Nassauer Denkschrift“ im Juni 1807 eine Staatsreform. An die Stelle verschiedener Provinzialministerien mit gleichartigen Aufgaben sollten neue Fachministerien treten, die für bestimmte Felder der Verwaltung allein zuständig werden sollten. Finanzpolitisch plante er eine einzige Staatskasse mit im Voraus festgelegten Etats für die Ministerien. Im Geiste der Ideen von Adam Smith setzte er auf die Freisetzung der Individuen, auf die „Belebung des Gemeingeistes und des Bürgersinns [und] Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse“ vor allem der städtischen Bürger. Wenig später, am 12. September, legte Karl August Graf (seit 1814 Fürst) Hardenberg aus seinem nahen russischen Exil die ‚Rigaer Denkschrift‘ vor, in der er für eine „Revolution im guten Sinn“ sprach. Ihr Ziel hieß für ihn: „Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist.“[21]

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Ländliche Eigentümergesellschaft: Oktoberedikt 1807

Das Oktoberedikt vom 9. Oktober 1807 leitete die Umgestaltung der ländlichen Wirtschaft und Gesellschaft durch die Bauernbefreiung ein, indem es die persönliche Untertänigkeit aufhob. Sie war ein Rest alter Leibeigenschaft, die zur Genehmigung von Heiraten und Erbfällen geschrumpft und vor allem wegen der Einnahmen daraus wichtig war. „Zum Martinitag 1810“ sollte es „nur noch freie Leute“ geben. Diese Freiheit gab aber gerade den unterbäuerlichen Gruppen, „wie sich von selbst versteht“ (§ 12), noch kein Eigentum an dem von ihnen bis dahin bewirtschafteten Land. Viele wurden Landarbeiter in prekären Tagelohnverhältnissen oder sanken in das Gesinde des Gutsherrn ab, für das am 8. November 1810, drei Tage vor dem Stichtag, eine strikte Gesindeordnung mit Züchtigungsrechten erging, die bis nach 1918 bestehen blieb. Die schwierigere und langwierigere Trennung der sich überlagernden Eigentumsrechte vollzog erst das Regulierungsedikt vom 14. September 1811, das durch Wirtschaftsbelebung auch den Staatskredit heben und die Tilgung der im Krieg weiter auflaufenden Schulden erleichtern sollte. Die Bauern sollten volles Eigentum an Land erhalten und dem grundbesitzenden Adel seine Landverluste teils durch Geldzahlungen über Jahrzehnte ablösen, teils – bei großen Stellen – ihn sofort ohne Schulden durch Verkleinerung dieser Stellen um ein Drittel entschädigen. Die Regulierung brachte dem zumeist noch adeligen Großgrundbesitz beträchtliche Landzuwächse und zog sich in Preußen wie in vielen anderen deutschen Ländern bis nach der Revolution von 1848 hin.[22]

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Gewaltmonopol: Gendarmerieedikt 1812

Das Gendarmerieedikt vom 30. Juli 1812[23] schuf erstmals eine kleine Polizeitruppe, vornehmlich aus ausgeschiedenen Offizieren und Soldaten, für den Einsatz auf dem Lande. Verwaltungstechnisch wollte das Edikt dem grundbesitzenden Adel seinen angestammten Anspruch auf das Amt des Landrats nehmen und an seine Stelle einen Staatsbeamten setzen, doch musste das nach erheblichen Protesten schon 1816 zurückgenommen werden. Bis nach der Reichsgründung endeten die Befugnisse dieser Gendarmerie allerdings vor den vielen gemeindefreien Gutsbezirken, in denen der Gutsherr alleine die Polizeigewalt ausübte. Im ostelbischen Preußen verfestigte sich so die intensive Herrschaft der Gutsherren, die Arbeitgeber der Landlosen waren und zugleich Verwaltungs- und Richteraufgaben ausübten.

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Selbstverwaltung: Städteordnung 1808

Die Städteordnung vom 19. November 1808 wird besonders mit dem Geist des Freiherrn vom Stein verbunden; es fehlte ihr allerdings ein Gegenstück für Landgemeinden. Stein wollte die Bürger aktiv zur Gestaltung der lokalen Verhältnisse heranziehen. Bürger einer Stadt war, wer Haus- und Grundeigentum besaß oder ein höheres Einkommen hatte. Untereinander gleichgestellt, wählten sie Stadtverordnete, von denen zwei Drittel ebenfalls Haus- und Grundeigentümer sein mussten, und diese wählten einen ausführenden Magistrat, und der den Bürgermeister. Sie alle sollten für das Gemeinwohl tätig werden und dies, bis auf die Bürgermeister, ehrenamtlich tun. Die Städte erhielten ein Steuerbewilligungs- und ein Budgetrecht bei staatlicher Missbrauchsaufsicht und wurden, zumindest subsidiär, für alles zuständig, was auf ihrem Boden geschah. Diese Allzuständigkeit konnten sie zu einem Frühwarnsystem für neue Herausforderungen machen. Städte in Preußen hatten seitdem viel mehr Gestaltungsraum als anderswo, wo sie völlig integriert waren in die staatliche Organisation. Schon Stein wollte die Selbstverwaltung der Städte auf die Provinzen und den preußischen Gesamtstaat ausweiten, doch in dieser Verfassungsfrage stockte nach seinem Ausscheiden sehr bald der Wille der Krone. Am 5. Juni 1823 wurden immerhin Provinzialstände angeordnet; die Mitgliedschaft war aber an Grundbesitz gebunden und die Stände blieben auf Beratung beschränkt.[24]

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Regierung: Organisationsedikt 1808

1794 war das Allgemeine Landrecht noch „für die Preußischen Staaten“ erlassen worden, und auch 1807 gab es, anders als in Bayern, noch nicht viele wirklich auf Preußen als einheitlichen Staat bezogene Institutionen – außer dem König. Noch immer herrschte das friderizianische System einer Regierung „aus dem Kabinett“, einem kleinen Beratungsraum im Schloss, wobei der König gerade nicht mit seinen Ministern beriet. Er erhielt deren Anträge vielmehr gefiltert durch die von ihm persönlich ausgewählten, von Karl August von Hardenberg schon 1797 als „halb oder gar nicht unterrichtet“ angesehenen Kabinettssekretäre, bedachte sie bei sich ohne weiteren Austausch, und entschied. Gegen diese Praxis entwarf Freiherr vom Stein das nach seinem Rücktritt durch Hardenberg noch umgearbeitete Organisationsedikt vom 16. Dezember 1808. Die gesamte Verwaltung sollte von einem dem König „unmittelbar untergeordneten obersten Standpunkt“ ausgehen, den Stein in einem kollegial entscheidenden Rat von möglichst wenigen Fachministern sah. Sie sollten die Geschäfte nach „unmittelbar ihnen erteilten Befehlen [des Königs] selbstständig und selbsttätig bei voller Verantwortlichkeit [leiten]“. Die Verantwortlichkeit aller Minister, noch ohne Parlament gedacht, und nicht überall mit der Gegenzeichnung verknüpft, sollte die Intransparenz der alten Kabinettsregierung ablösen. Hardenberg übertrug als Staatskanzler 1810 sich selbst den Vorsitz, verband das mit der Kontrolle des Zugangs aller anderen Minister zum König und beendete so vorläufig die Kollegialität.[25] Das Organisationsedikt enthielt auch den sehr differenzierten Geschäftsverteilungsplan der neuen Fachministerien und es wandelte die Kriegs- und Domänenkammern des Absolutismus in die Mittelbehörden der Regierungen unter einem Präsidenten um. Darüber setzte es in den zehn, dann acht Provinzen Oberpräsidenten, woraus sich die ungewöhnliche, charakteristische Vierstufigkeit der preußischen Verwaltung ergab. Die Oberpräsidenten sollten zunächst als ständige Kommissare des Ministeriums die Regierungen in ihrer Provinz in übergeordneten Fragen koordinieren, ohne dabei Vorgesetzte der Regierungspräsidenten zu werden und sich mit deren „Detailverwaltung“ abgeben zu müssen. Diese Verwaltung kam mit erstaunlich wenig Personal aus; im Jahre 1820 verwalteten das wiederhergestellte Preußen auf der Ebene der Mittelbehörden 598 (und 1852 noch 515) höhere Beamte, wozu auf der Kreisebene noch etwa 325 Landräte kamen.[26]

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Freiheit in der Universität 1810

Freiherr vom Stein schlug Wilhelm von Humboldt als Leiter der Sektion für Unterricht und Kultus im neuen Innenministerium vor. In seiner kurzen Amtszeit bestimmte er wesentlich die neuartigen Grundlinien der 1810 gegründeten Universität Berlin. In seinem von der Zensur bis 1851 (!) unterdrückten Manuskript von 1792 über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates bestimmte er ihr Bildungsziel: „Der wahre Zweck des Menschen […] ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung.“ Er grenzte die neue Bildung ganz entschieden gegen die nutzenorientierten praktischen Fächer ab, die in der Aufklärung Zulauf gewonnen hatten, weil sie auf Brauchbarkeit im Alltag zielten. Diese neue Freiheit verlangte individuelle Studierfreiheit, und damit verbunden wollte Humboldt die jungen Männer herausfordern durch „Mannigfaltigkeit der Situationen“. Dem Staat blieb in der Universität als Aufgabe nur, beides zu sichern – durch Lehr- und Lernfreiheit in einer staatlich finanzierten Institution und durch Aufsicht über deren Auswahl von möglichst unterschiedlichen Professoren. Daraus entwickelte sich die für Deutschland im 19. Jahrhundert typische Forschungsuniversität als „staatliche Veranstaltung“ mit weitgehender Selbstverwaltung außer in Berufungsangelegenheiten.[27]

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