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Kapitel 23 - Das Heer am Memel
ОглавлениеDer Memel führte, jetzt im Sommer, wenig Wasser. Die Wasserfläche war wohl einen Bogenschuss breit oder etwas mehr. Umso breiter das schlammige Uferbett. Der übel riechende Sumpf, umsäumt von dichtem Schilfgürtel, erschwerte den Zugang zum Wasser. Er gärte faulig und gebar Insektenschwärme ohne Zahl und das Zirpen der Grillen klang tausendfach in den Ohren.
Geplagt von Stechmücken und anderem fliegenden Ungeziefer, gingen unterdessen die gedungenen Flößer ihrer Arbeit nach. Das geschlagene und zugeschnittene Holz für den Bau von Angriffstürmen, Rammböcken und Wurfmaschinen wurde zu Flößen gebunden und mit allerlei Ausrüstung beladen. Dann schob man die Flöße über den Schlick. Das bedeutete große Kraftanstrengungen. Nach der Bewältigung des Schlammbettes, konnte endlich das tatsächliche Flößen zum gegenüberliegenden Ufer beginnen.
Gleichzeitig wuchs im Heer der Krankenstand stetig an. Ein Großteil der Spitalausrüstung befand sich auf den Schiffen, die täglich dringender herbeigesehnt wurden. Wurmfieber und sudor anglicus (Sumpffieber) griffen um sich. Viele Männer hatten 'den Schelm in Leibe'. Unter Krätze und Eiterbeulen litten sie wohl fast alle. Zum geringsten Übel zählten Sonnenstich und Hautausschlag. Manch einer der tapferen Kämpfer wurde von den bösen Krankheiten niedergeworfen.
Häufig hörte man jetzt das Totenglöckchen läuten. Das verursachte eine leise Verbitterung bei Widzelt und er machte sich auf die Suche nach dem heilenden Beifuss gegen das Sumpffieber. Der war schwer zu finden, aber der Spittler bestand darauf, denn Beifuss schien ihm das einzig richtige Heilmittel gegen das Sumpffieber zu sein. Manches Mal zeitigte die Arznei keine Heilwirkung bei den Kranken und Widzelt schwankte zwischen Zweifel und Gottvertrauen, ob der Beifuss tatsächlich das richtige Heilmittel sei. Aber er blieb dennoch sehr ruhig und verrichtete die ihm zugewiesenen Arbeiten kalten Blutes. Aufregung und Hektik hätten nur Fehler verursacht. Wen es trifft, den trifft es... Man braucht eben einen festen Glauben.
Nach einigen Tagen am Memel glitt endlich eine große Flotte von überwiegend flachbodigen Leichterschiffen - ausgerüstet mit nur einem Segel - auf die Höhe des Heerlagers. Widzelt freute sich: Endlich Spitalausrüstung und Kleidung! Gewiss befand sich das alles auf einem der Schiffe. „April, April!“, lachte der Spittler. „Davon sehen wir hier nicht den Zipfel eines Wickels. Es landet alles direkt auf der anderen Memelseite.“ Er rief den Trompeter zu sich, das Signal für den Abbruch des Lagers zu geben. „Wir müssen hier jetzt rasch die Zelte abbrechen. Hopp, hopp! Dawei, dawei!“
Die mitgeführte Schmiede nebst Metallvorrat und die neuen Feuerwaffen sowie Wasserfässer, Feldküchen und Lebensmittel, all das und noch viel mehr musste über den Strom gebracht werden. Das Stauen war gut durchgeplant und schon häufig praktiziert. Trotzdem entstand ein heilloses Durcheinander und dauerte an, bis die Sonne ihren höchsten Stand schon weit überschritten hatte.
Auch das Leichtern der sechshundertzehn Lastschiffe, nahm mehr Zeit in Anspruch als vorausberechnet.
Unrast und Anspannung verbreiteten sich im Lager. Die Männer befanden sich in einer bizarren Art von Begeisterungstaumel. Jeder ersehnte das Übersetzen der Boote und Flöße. Keinen gab es, den nicht Erwartung und Ungeduld umtrieb.
Widzelt traf das Glück, bei der Vorhut zu sein. Ein unermesslicher Vorteil, zu allererst den Memel überschreiten zu dürfen!
Die Vorhut hatte die Aufgabe, den Wald von Buschwerk zu räumen, Platz für die Verhaue des Nachtlagers zu schaffen und erste Schutzwehren zu errichten.
Darguse, der Wegbegleiter des Ordens, übernahm die Führung und trieb sein Pferd am oberen Flusslauf in den Schilfgürtel. Bruchland und morastiger Ufergrund erschwerten es, überhaupt erst einmal den Strom zu erreichen. Das gelbe Memelwasser, zuerst nur fußhoch, stank nach Exkrementen und Abfällen. Vorausschauend hatte Widzelt seinem ’Pascha‘ die Moorschuhe untergeschnallt. Aber als die Vorhut sich daran machte, den Memel zu überschreiten, sah er, dass viele Pferde diese Hilfe nicht bekommen hatten.
Gehorsam folgte ’Pascha‘ den Vorreitern in den Sumpf. Kopf an Kruppe ging es nur langsam voran. Nicht lange und das Wasser war kniehoch und die meisten Pferde versanken schon bis zu den Fesseln im Schlamm.
Widzelts Hengst aber hätte fast mühelos ausschreiten können, wäre er nicht eingequetscht gewesen zwischen steckengebliebenen Gäulen. Gleich neben ihm quälte sich ein englischer Reiter, dessen Pferd mit der Hinterhand festsaß. In Todesangst wieherte das Tier und wollte sich verzweifelt aus dem Sumpf strampeln, wobei es immer tiefer in den Morast geriet.
„Absteigen! Absteigen!“, schrie Widzelt und packte den Mann am Arm. Hinter ihnen drängten die nachfolgenden Scharen nach und drohten sie zu überrennen. Aber der Mann brüllte zurück, er könne seine Beine nicht befreien und Widzelt bemerkte, dass sie eingekeilt zwischen Pferdeleibern steckten. Der Reiter riss verzweifelt am Halfter, was sich als völlig nutzlos und eher unsinnig erwies.
„Lass das, Kerl! Halte den Gaul ruhig! Du machst ihn ja nur nervös.“, schrie Widzelt, griff hastig das Pferd am Kopfriemen und warf dem Reiter ein langes Seil zu. „Mach ein Geschirr davon!“
„Wie das?“
„Unter der Schweifrübe durch, beide Enden nach vorn, damit ich ihn 'rausziehen kann!“
„Das schaffst du nicht!“
„Tu einfach, was ich dir sage, Kerl!“ rief Widzelt ärgerlich zurück. „Schau doch hin! Gleich da vorn ist der Sumpf zu Ende! Die Pferde haben dort festen Grund. Siehst du das denn nicht? Törfkopp!“
Unterdessen war eine Lücke zu Widzelts Vordermann entstanden, wodurch er einige Schritt an Platz gewann. Widzelt drückte Pascha sacht die Fersen in die Weichen und lenkte ihn vor das immer noch strampelnde Tier. Dort verknüpfte er die Seilenden zu einer Art Geschirr und legte es ’Pascha‘ an. Inzwischen war das eher kleinwüchsige Pferd schon fast bis zur Schweifrübe im Schlamm versunken.
Auf Widzelts Schenkeldruck hin zog sein muskelbepacktes Streitross langsam an. Schritt für Schritt ging es auf die Sandbank zu. Sicher zog ’Pascha‘ das eingesunkene Tier heraus. Weil es nun auch festeren Grund spürte, beruhigte sich das Pferd nun auch rasch wieder.
„Seid bedankt! Ich hätte mein Leben lassen müssen, wenn Ihr mir nicht geholfen hättet. Die Scharen dahinten hätten mich in den Morast gestampft. Dafür bin ich Euch was schuldig, Herr!“
Widzelt lachte: „Hoffentlich denkst du auch daran, wenn’s soweit kommt. Gib mir zuvörderst das Seil zurück.“
„Das werde ich, Sir. Wie nennt Ihr Euch, Sir?“
Aha, einer aus der fernen Bretagne, dachte Widzelt aufgeräumt. Deswegen hatte er ihn so schwer verstehen können. Widzelt folgte erfreut der freundlichen Aufforderung und erbat ebenfalls den Namen seines Gegenübers. Der wandte sich ihm zu, ehe er antwortete, er sei aus dem Flecken Bee. Dabei bediente er sich der lateinischen Sprache, was Widzelt leicht durcheinanderbrachte und zu der Frage veranlasste, ob Bee wohl in Italien läge.
„No, Britannien.“
„Also doch!“ Widzelt fühlte sich gefoppt und brummelte: „In Britannien ist die Sprache nicht Latein, Herr. Woher kommt Ihr also?“
Die knappe Antwort lautete Boulogne, was Widzelt noch mehr irritierte. Merkwürdig, zuerst sagte er doch Britannien, oder hatte Widzelt sich verhört? Hatte er vielleicht Bretagne gesagt? Andererseits zogen Ritter viel von Ort zu Ort, eben dorthin, wo man sich ihrer zu bedienen wünschte. Vielleicht kam er gerade jetzt aus Boulogne. Widzelt freute sich trotzdem über diese neue Bekanntschaft. Und nun sah er auch an dessen Wappenrock, dass es sich um einen Mann edler Herkunft handelte. Peinlich!
„Verzeiht, Herr Ritter, ich nannte Euch Törfkopp.“
So heiße er nicht, ’de Louis’ sei sein Name, widersprach der Ritter sehr freundlich, Burgvogt von Gravensteen.
Die gewaltige Festung der Grafen von Flandern in Gent kannte Widzelt. Um so unangenehmer war es ihm, wie respektlos er den Vogt behandelt hatte und grinste entschuldigend: „Pardon, Törfkopp ist nur... ein Beiname, Sir“.
„Beiname - sein lustig.“
Sie verloren einander aus den Augen, als die nachfolgenden Reiter sich zwischen sie drängten. Er mochte den Mann aus Flandern. Ob sie sich je erneut treffen würden? Widzelt liebte alles, was aus Flandern kam, erinnerte es ihn doch an die aufregende Zeit während seiner dortigen Ausbildung.
Die Strömung trieb die Vorhut flussabwärts an das gegenüberliegende Memelufer. Dort angelandet, klangen die Drommeten laut über den Fluss und unverzüglich wurde der Stoßtrupp eingeteilt. Das band einen Großteil der Landsknechte mit Späh- und Überwachungsaufgaben. Auch Widzelt wurden Späheraufgaben übertragen.
Der Ordensmarschall aber ließ vor dem Heer sein Ross sich drehen und wenden, während er den Stab schwang. Dann zogen die Männer gehorsam in jene Richtung, wie er schwenkte. Ja, der Ordensmarschall konnte Blicke schießen, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. Wenn er die Stirne krauste, die Augen aufriss oder die Braue hochzog, dann drohte unleidig Ärger und es gab keinen, der sich nicht bemühte, flugs den Befehlen des “Drachentöters“ – so nannte man ihn angesichts seines Eigennamens “Georg“ ehrfürchtig - nachzukommen. Ob der Marshall auch im Felde so kühn und ritterlich auftreten würde wie vor der Truppe, das mochte sich bald offenbaren.
In Ermangelung eines Wachturmes, kletterte Widzelt mit seinem Sehrohr am Gurt in den Wipfel einer riesigen Birke. Von seinem Standort aus konnte er gut den Transport über den Memel beobachten, wo sich meilenweit eine schier unüberschaubare, farbschillernde Menschenwalze am Ufer drängte. Mit seinem Sehrohr streifte Widzelt über Feld und Wald, um feindliche Angreifer auszumachen. Dort war aber niemand außer Raben und Krähen, die im Sand badeten, dazu einige Wildhühner, belauert von Füchsen. Indes, bald bemerkte Widzelt, dass den Ordensrittern das geordnete Übersetzen über den Memel unmerklich aus den Händen glitt. Er sah, wie sich das entsetzliche Gewühle und Gedränge weithin vom jenseitigen Strand zum Oberlauf hin fortpflanzte und ständig zunahm.
Diese Narren, urteilte Widzelt abfällig, jeder Heerführer will das andere Ufer zuerst erreichen, als würde er sonst die Schlacht versäumen oder bei verspätetem Eintreffen die Aussichten auf den ehrenvollen Ritterschlag verspielen,
Er konnte verfolgen, wie sich das Übersetzen der Heere zu einem furchtbaren Alptraum entwickelte. Gereizt von Sonnenbrut und Insektenangriffen, geriet man leicht aneinander um die vermeintlich besten Plätze. Die Anspannung stieg von Stunde zu Stunde. Die ganze Palette menschlicher Gefühle ließ die Hektik innerhalb des Heeres stetig anwachsen. Ein schiefer Blick, eine unbedachte Bemerkung konnte zum Streit führen. Gott sei Dank gipfelte die verbale Auseinandersetzung aber nur selten in einer ernsthaften Fehde mit Waffengewalt. Das wussten die jeweiligen Befehlshaber jedoch fast immer zu verhindern.
Unbeschreibliches Durcheinander von Rittern und Fußvolk, von Pferden, Eseln, Ziegen, Kühen, Ochsen und schwer beladenen Wagen herrschte am gegenüberliegenden Memelstrand. Laut brandete das Gebrüll von Vieh und Mensch über den Fluss, erscholl das Klirren von Stahl, das Knarren und Knattern der Ochsenkarren.
Dicht bei dicht überquerten jetzt Kähne und Flöße den Memel, wurden von der Strömung gegeneinander getrieben, ohne dass Flößer oder Schiffsführer dies wirksam hätten verhindern können. Der Fluss färbte sich rot von Blut, weil Beine, Füße, Arme, Hände zermalmt, gebrochen oder gar abgerissen wurden, wenn Pferd und Reiter zwischen die Wasserfahrzeuge gequetscht wurden. Mensch und Tier ertrank im Memel, ehe der Feind überhaupt gesichtet war.
Widzelt sah, wie eine Handvoll Knechte zwischen die Boote geriet und nicht wieder auftauchte. Pferde und Reiter stürzten in die wirbelnden Fluten, wurden fortgerissen von der Strömung, gerieten in den Sog heftiger Strudel.
Sandbänke behinderten an einzelnen Stellen zusätzlich die Schiffsüberfahrt des breiten Stromes. Wüstes Geschrei, Geächze, Geschnaube und Getöse brandete hinauf zu Widzelts Ausguck, so dass er Gott dankte, nicht dazwischen zu hängen!
Unter großen Mühen gelang es den Schiffsleuten trotz aller Erschwernis, die dreißigtausend Kriegsteilnehmer bis zur Vesper überzusetzen. Abgesehen von den schlimmen Unfällen, wahrlich eine Meisterleistung.
Bald flackerten überall im Feldlager Feuerstellen und der Qualm brannte in Kehle und Augen. Das eilends aufgeschlagene Spital füllte sich schnell mit Versehrten, die sich ausgesprochen schwerwiegende Verletzungen zugezogen hatten. Widzelt, der ja schon Erfahrungen in der Wundbehandlung gewonnen hatte, wurde vom Spittler als Hilfskraft angefordert. Ihm fiel die Aufgabe zu, leichte Wunden zu versorgen und Handreichungen zu leisten.
Mit Betroffenheit sah der Junker die am Spitaleingang sich drängenden Heerfahrer mit ihren oft stark verschmutzten Wunden. Dort wurden sie vorübergehend von einem Ordensbruder aufgehalten, der leichte und ernsthaft Verletzte voneinander schied und dem jeweils zuständigen Bruder zuwies. Manch einer musste stundenlang in der Sommerhitze warten, nur notdürftig mit Wasser und Brot versorgt, bis die Reihe zur Wundversorgung an ihn kam. Häufig waren die Wunden schon brandig, die Verletzten dem Tode näher als dem Leben.
Wer sich nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen konnte, wurde auf Tragbahren unter die rasch aufgespannten Zeltplanen verfrachtet und wen nicht gnädige Ohnmacht umnachtete, den peinigten elende Schmerzen. Das war ein Jammern und Schreien, ein qualvolles Stöhnen und Wimmern! Keine Frage, viele Männer würden ihr Leben einbüßen, denn Wunden heilen nicht, wenn es feucht und warm ist. Es blühten dann leicht Entzündungsherde und Wundbrand auf. Das mit Abfällen und Exkrementen furchtbar verschmutzte Memelwasser war zum Reinigen völlig ungeeignet und musste stets abgekocht und durchgesiebt werden, ehe man es für irgendwas verwenden konnte. Manche der Verwundeten hatten klugerweise saubere Spinnweben über ihre Blessuren gelegt. Widzelt wusste, dass dies bei der Heilung half. Jedoch, saubere Spinnweben musste man eben auch erst einmal finden und vor allem durfte man sie nicht mit den dünnen Fäden fremdartiger Pilzgeflechte verwechseln, wenngleich es auch hier heimische Pilze gab, die Heilung versprachen. Allerdings war es in einem unbekannten Gebiet immer mit Gefahr verbunden, dortige Pilze und Heilkräuter zu nutzen, weil durch Verwechslungen üble Folgen entstehen konnten. Aus diesem Grunde war es streng untersagt, die Verwundeten ohne Zutun der Spitalbrüder mit vermeintlichen Heilpflanzen zu behandeln. Darin verstand der Bruder Spittler keinen Spaß. Vergehen wurden gnadenlos bestraft.
Bei all dem vorherrschenden Chaos ringsum herrschte gleichwohl im Aufgabenkreis des Ordens eine unumstößliche Disziplin in der Erfüllung der Pflichtgebote und das war auch bitter notwendig, denn ohne diese Zucht und Ordnung wäre das Heer unzweifelhaft im fauligen Wasser des Memel versunken.
Im Spitalzelt hing stets dunstig der Geruch von Blut und Eiter. Er verursachte Übelkeit und Erbrechen, bei den Kranken geradeso wie bei den Helfern und Heilkundigen. Trotz all der unermüdlichen Anstrengungen heilkundiger Ordensbrüder bestand für viele Verletzte kaum Aussicht auf Gesundung und die amputierten Kreuzler waren nahezu chancenlos, ihr ohnehin zur Trostlosigkeit verdammtes Leben zu retten. In Widzelts Geist aber manifestierte sich knirschend das grausige Geräusch der Knochensägen. Sein Leben lang würde ihm dieses fürchterliche Geräusch in den Ohren klingen.