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Vorwort zur Paperback-Ausgabe
ОглавлениеIm Frühjahr 2016 erschien die erste Auflage dieses Buches – pünktlich zum 500-jährigen Jubiläum des Reinheitsgebots. In jener Zeit wurde die Bierkultur von einer allerorts spürbaren Energie erfasst. Da war nicht nur die große mediale Aufmerksamkeit für den vermeintlichen Bier-Geburtstag. Bier war lange vor allem Massenprodukt gewesen, oft standardisiert, großindustriell hergestellt und billig. Inzwischen aber hatte die Gruppe der jungen urbanen Trendsetter das Bier als modernes Lifestylegetränk entdeckt und etabliert. Expertenwissen, Interesse für Geschmack und Handwerk, ein Faible für die Ästhetik des Getränks und seines Ausschanks sowie cleveres Marketing – das war neu. Die Welt des Bieres schien – weit über Deutschland hinaus – vor einer Revolution zu stehen.
Heute, nach fünf Jahren, ist die Situation hochdynamisch. Die Bierlandschaft ist vielfältig und schillernd wie lange nicht; nicht zuletzt, weil die öffentlichkeitswirksam geführten Debatten zu Sinn und Unsinn des Reinheitsgebots sich verstetigt haben, zumal die moderne Lebensstilgesellschaft mit dem Essen eben auch das Trinken zu einer Leitperspektive erkoren hat. So nimmt es kaum Wunder, dass die großen Discounter und vor allem auch die großen Produzenten durchweg eigene Craft Beer-Serien anbieten. Am oberen Ende des Spektrums ist es auch bei den vom Guide Michelin prämierten Sternerestaurants inzwischen üblich, die traditionellen Weinmenüs um eine eigene exklusive Bierauswahl zu ergänzen. Bier ist eben nicht mehr allein Konsumprodukt und Durstlöscher, sondern mehr als je zuvor – auch über seine höhere Preisstruktur – Signifikant der „feinen Unterschiede“ zwischen den kulturellen Milieus im Sinne des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Expertise zu Inhaltsstoffen, handwerklichen Herstellungsverfahren und Aromen dient heute in ähnlich hohem Maße als kulturelles Kapital wie es traditionell unter Wein- und Whiskykennern üblich ist. Inzwischen greift schon ein Viertel der Verbraucher regelmäßig zu Craft Beer; und der Anteil der Verbraucherinnen steigt signifikant. Die Vielfalt des Geschmacks, die handwerkliche Produktqualität, der Wunsch nach Individualität und nicht zuletzt die Faktoren Regionalität und Nachhaltigkeit sind dabei besonders wichtig.*
Das neue Bewusstsein für das Genussmittel Bier und seine jahrtausendealte Geschichte schlägt sich auch in einer Konjunktur kleiner Brauereien nieder. Drohten die zahlreichen familiengeführten, lokalen Mikrobetriebe noch um die Jahrtausendwende von den globalen Bierkonzernen und der Macht ihrer Werbemillionen überrollt zu werden, haben sich hier Wachstumstendenzen verfestigt – freilich vorläufig noch auf niedrigem Niveau: Der Produktionsanteil der Kleinbrauereien liegt in Deutschland noch immer unter zwei Prozent. Das zeigt, dass es bei aller Dynamik nötig ist, die globalen Verhältnisse und Entwicklungen im Auge zu behalten. Obwohl individuelle, handwerklich hergestellte Biere medial präsent und auch sonst angesagt sind, bildet der offensiv beworbene Craft-Beer-Sektor mit seinen Hochglanzmagazinen, seinen Events und seiner Homebrewing-Kultur noch immer ein Nischenphänomen. Aber nicht nur beim Thema Craft Beer macht sich ein erhöhtes Bewusstsein für Inhaltsstoffe, Produktqualität und Herkunft bemerkbar. Praktisch die gesamte Lebensmittelbranche sieht sich mit einer Vertrauenskrise konfrontiert. Permanente Diskussionen um die Problematik von Inhaltsstoffen aller Art, veritable Lebensmittelskandale, die Gewissheit um die realen Gefahren der Erderwärmung und ein wacheres ökologisches Bewusstsein haben eine stabile Thematisierungskonjunktur der Nachhaltigkeit bewirkt, die sich vor allem gegen die Produktions- und Distributionsweisen jener Großkonzerne richteten, die auch den deutschen Biermarkt dominieren.
So lässt sich nach der Aufbruchstimmung des Bierjubiläumsjahres 2016 heute auch nicht leugnen, dass der Deutschen liebstes alkoholisches Getränk in schwieriges Fahrwasser geraten ist. Im Jahr 2020 lag der durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum von Bier mit rund 95 Litern so niedrig wie zuletzt Anfang der 1960er-Jahre. Ein Trend, der analog zum Rückgang zunehmend kritisch diskutierter Lebensmittel wie etwa Fleisch verläuft. Betroffen davon sind vor allem die Konzernbrauereien mit ihren standardisierten Produkten, die sich zudem weniger auf markentreue Konsumentinnen und Konsumenten verlassen können und in einem unbarmherzigen Preisdumping und Marketingwettrüsten bestehen müssen. Logisch, dass ein wachsender Exportanteil für die deutschen Großbrauereien heute wichtiger ist als je zuvor; wobei auch in China, dem größten Bierproduzenten und Biermarkt der Welt, rückläufige Zahlen festzustellen sind. Nach einem starken Einbruch 2018 um 60 Millionen Hektoliter sind es 2021 auch hier die kleinen, hochpreisigen Craft-Beer-Sorten, die – zwar auf niedrigem Niveau – Zuwächse verzeichnen. Vor allem in den Mega-Cities versprechen sie einem jungen, lifestyle-orientierten Publikum Status, Internationalität und Genuss, und damit ein probates Mittel, um sich von den heimischen Großkonzernen zu distanzieren.
Zu den vielen Faktoren, die den Biermarkt unübersichtlich machen, gehört die globale Corona-Pandemie seit dem Beginn des Jahres 2020. Sie hat Brauereien und Gastronomie rund um den Globus herbe Verluste beschert. Zudem hat der Public Health Sektor das Individuum als Zielgruppe entdeckt. Permanente Appelle zur gesunden Ernährung, Selbstoptimierungs-Apps und Imperative zum perfekten Körper wirken auf viele wie eine Mahnung, bloß nicht mit dem Biertrinken zu beginnen oder den Konsum zumindest zu reduzieren; die Utopie eines kontrollierbaren, gesunden und ewig jungen Körpers zwingt zur Askese.
Dabei lernen wir mehr und mehr, dass Bier und Kultur zusammengehören. 2016 glaubten wir noch, dass Tell Abu Hureyra, eine 11.500 Jahre alte Siedlung im heutigen Syrien, die Braustätte des ersten Bieres der Menschheit war. Inzwischen hat ein Team der Universität Stanford Überreste eines Gärprozesses in 13.000 Jahre alten Steingefäßen in einer Höhle im israelischen Raqefet entdeckt. Immerhin bleibt die Erkenntnis, dass Bier seit dem Beginn der Sesshaftwerdung integrativer Bestandteil des zivilisierten Lebens ist und wohl auch bleiben wird.
Gunther Hirschfelder und Manuel Trummer November 2021 |